Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Weniger ist mehr: Verlust von Genen während der Evolution

Autoren
Hiller, Michael
Abteilungen
Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden
Zusammenfassung
Eine zentrale Frage der Genetik und Evolutionsbiologie ist: Welche Unterschiede im Genom führen zu charakteristischen Merkmalen bestimmter Spezies? Dazu entwickelt unsere Forschungsgruppe computerbasierte Methoden, um in vergleichenden Analysen funktionale Unterschiede in Genomen aufzuspüren. Wie jüngste Ergebnisse zeigen, kann der Verlust von Genen während der Evolution manchmal von Vorteil sein. Unsere Untersuchungen tragen dazu bei, besser zu verstehen, wie die große Vielfalt der Natur im Laufe der Evolution entstehen konnte.

Einleitung

Die Artenvielfalt ist einer der faszinierendsten Aspekte der Natur. Ein Vergleich der Gene zwischen verschiedenen Spezies kann Aufschluss darüber geben, wie sich diese Artenvielfalt entwickeln konnte. Im Laufe der Evolution können entweder neue Gene entstehen oder sie mutieren, werden dupliziert oder können sogar verloren gehen. Genverlust wird in der Regel als nachteilig erachtet, da er mit Fehlentwicklungen oder Krankheiten verbunden ist. Allerdings kann dieser Verlust auch von Vorteil sein, zum Beispiel, wenn er zur Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen oder neue Lebensbedingungen beiträgt.

Unsere Arbeitsgruppe gehört sowohl dem Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik als auch dem Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme an, sowie dem gemeinsamen Zentrum beider Institute mit der TU Dresden, dem Zentrum für Systembiologie Dresden. Im März 2018 wollten wir mit einer systematischen Analyse der Genome von 62 Säugetieren zeigen, welche Gene während der Evolution der Säugetiere verloren gegangen sind. Unsere Ergebnisse wiesen auf eine Reihe bisher unbekannter Genverluste hin, die als Folge einer früheren, schon bestehenden Anpassung aufgetreten sein könnten oder eine wichtige Rolle für neue morphologische oder physiologische Anpassungen gespielt haben könnten. So wurden zum Beispiel neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie sich bestimmte Fledermäuse an eine vorwiegend zuckerhaltige Nahrung angepasst haben: den fruchtfressenden Fledermäusen fehlen Gene, welche die Ausschüttung von Insulin hemmen und dessen Wirkung unterdrücken. Der Verlust dieser Gene bedeutet also, dass Faktoren, die den Zuckerstoffwechsel hemmen, ausgeschaltet wurden. Für Arten, die eine zuckerreiche Nahrung konsumieren, ist das sicherlich ein Vorteil.  

Genverluste bei Walen und Delfinen

In einer weiteren Studie gemeinsam mit Kollegen von der University of California und dem American Museum of Natural History in New York im September 2019 suchten wir systematisch nach Genen, die bei den Vorfahren der Wale und Delfine verloren gegangen sind. Dazu wurden die Genome der heutigen Wale, Delfine und anderer Säugetiere auf Mutationen untersucht, die Gene deaktivieren. Unser Forscherteam entdeckte insgesamt 85 Genverluste.

Interessanterweise haben einige Genverluste den Walen wahrscheinlich geholfen, sich an ihre neue Umgebung anzupassen, denn der Wechsel dieser Vorfahren vom Land zum Wasser war von tief greifenden anatomischen, physiologischen und verhaltensbezogenen Anpassungen begleitet, die ein Leben im Wasser ermöglichten. So entwickelten Wale und Delfine stromlinienförmige Körper und verloren ihre Körperhaare, um schneller schwimmen zu können. Sie entwickelten dicke Fettpolster zum Schutz gegen Kälte. Ihre Beine gingen verloren, während sich große Schwanzflossen zum Antrieb ausbildeten. Vergrößerte Sauerstoffspeicher ermöglichen ihnen lange Tauchgänge, und ein flexibler Brustkorb erlaubt es ihnen, dass ihre Lunge während Tauchgängen in Tiefen von 100 Metern und mehr kollabieren kann. Ein Genverlust, den wir entdeckt haben, verbessert wahrscheinlich die Fähigkeit von Walen, eine bestimmte Art von DNA-Schaden zu reparieren. Dieser kann durch Sauerstoffmangel beim Tauchen verursacht werden. Wird die DNA nicht ordnungsgemäß repariert, kann dies zu Tumoren führen.

Genverluste bei Fleischfressern, Pflanzenfressern und der Evolution des Hodens

Darüber hinaus suchten wir nach Genen, die überwiegend bei pflanzenfressenden oder bei fleischfressenden Säugetieren verloren gegangen sind. Bei Pflanzenfressern fanden wir den wiederholten Verlust eines Gens, das die Verdauung von Fettsäuren hemmt, was auf eine erhöhte Effizienz der Verdauung von Fetten hindeutet. Bei Fleischfressern fanden sich verloren gegangene Gene, die eine Rolle bei der Regulierung des Appetits und der Produktion von Glukose spielen.

Vergleichende Genomik bietet auch neue Möglichkeiten, die Evolution von Weichteilen besser zu verstehen. Anstatt Weichteile direkt bei lebenden Arten oder, soweit vorhanden, bei Fossilien zu untersuchen, haben wir gemeinsam mit Kollegen der Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden und dem Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt die Evolution von Genen verfolgt, die für ihre Bildung notwendig sind. Bei einigen afrikanischen Arten wie Elefanten, Rüsselspringer oder Seekühen bleibt der Hoden an der ursprünglichen Position, es erfolgt also kein Hodenabstieg. Um die Evolution des Hodenabstiegs zu klären, wurde die DNA von 71 Säugetieren analysiert. Dabei konnten wir feststellen, dass die besagten afrikanischen Säugetiere nicht-funktionelle Überbleibsel von zwei Genen besitzen, welche bei den anderen Säugetieren für den Hodenabstieg benötigt werden.. Diese ‚molekularen Rudimente’ deuten darauf hin, dass der Prozess des Hodenabstiegs bei den Vorfahren der afrikanischen Säugetiere stattfand und im Laufe der Evolution dann verloren ging.

Genverluste sind manchmal von Vorteil

Zusammenfassend kann man sagen, dass im Laufe der Evolution ein Verlust von Genen also nicht nur schädigend wirken kann, sondern unter besonderen Umständen sogar von Vorteil ist. Das deutet darauf hin, dass der Verlust von Genen ein wichtiger evolutionärer Mechanismus ist. Viele der Gene gingen wahrscheinlich verloren, weil ihre Funktion nicht mehr gebraucht wurde. Derzeit werden die Genome zahlreicher Spezies in rasantem Tempo sequenziert, was die Grundlage dafür liefert, die Rolle von Genverlusten bei der Ausbildung charakteristischer Merkmale verschiedener Arten weiter zu untersuchen.

Literaturhinweise

Huelsmann, M.; Hecker, N.;  Springer, M.S.;  Gatesy, J.; Sharma, V.; Hiller, M.
Genes lost during the transition from land to water in cetaceans highlight genomic changes associated with aquatic adaptations
Science Advances Vol. 5, No. 9 (2019)
Hecker, N.; Sharma, V.; Hiller, M.
Convergent gene losses illuminate metabolic and physiological changes in herbivores and carnivores.
Proceedings of the National Academy of Sciences 
Sharma, V.; Lehmann, T.; Stuckas, H.; Funke, L.; Hiller, M.
Loss of RXFP2 and INSL3 genes in Afrotheria shows that testicular descent is the ancestral condition in placental mammals.
PloS Biology June 2018
Sharma, V.; Hecker, N.; Roscito, J.G:; Foerster, L.; Langer, B.E.; Hiller, M.
A genomics approach reveals insights into the importance of gene losses for mammalian adaptations.
Nature Communications 9, 2015 (2018)

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