Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Kulturelle Unterschiede der Wahrnehmung von Musik
Universelle Einheit der menschlichen Wahrnehmung?
Ein Großteil menschlicher Verhaltensweisen ist kulturell geprägt. Ob dies auch auf die Mechanismen der Sinneswahrnehmung zutrifft, ist allerdings umstritten. Wenn zwei Menschen in verschiedenen kulturellen Kontexten demselben Sinnesreiz begegnen, nehmen sie dann – von individuellen Unterschieden abgesehen – stets auch dasselbe wahr? Oder ist auch ihre Wahrnehmung schon kulturell geprägt?
Unsere Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik untersucht diese Frage am Beispiel der Kognition musikalischer Rhythmen. In diesem Forschungsfeld dominiert die Annahme, dass es biologisch festgeschriebene, mithin kulturübergreifende einheitliche Strukturen der Wahrnehmung gibt. So wird etwa vermutet, rhythmische Figuren würden universell in Bezug auf nur zwei grundlegende Referenzstrukturen wahrgenommen, nämlich die beiden mathematisch einfachsten Teilungsverhältnisse 1:1 und 2:1. Diese Annahme wurde in sogenannten Tapping-Experimenten überprüft, bei denen Versuchspersonen einfache Rhythmen hören und synchron mitklopfen. Die Abweichungen von den Vorgaben geben dann Aufschluss über die Referenzstrukturen, auf die ihre Wahrnehmung zurückgreift. Diese Studien haben ergeben, dass sowohl musikalische Laien als auch ausgebildete Musikerinnen und Musiker alle ungeraden Rhythmen, die aus zwei Elementen bestehen, systematisch in Richtung des Verhältnisses 2:1 verschieben. Dies wurde und wird so verstanden, dass die menschliche Rhythmuswahrnehmung tatsächlich auf universell einheitliche Referenzstrukturen zurückgreift [1].
Eine musikethnologisch begründete Gegenthese
Allerdings beschränkte sich die Forschung bislang auf Versuchspersonen aus Westeuropa und Nordamerika. Um die Universalitätsannahme empirisch zu prüfen, haben wir ein klassisches Tapping-Experiment erstmals aus kulturvergleichender Perspektive durchgeführt. Die Auswahl der Versuchsgruppen orientierte sich an Hypothesen, die wir im Rahmen musikethnologischer und musikanalytischer Vorläuferprojekte entwickelt haben (siehe Abb. 1). Zwei Versuchsgruppen bestanden aus Experten für lokale Tanzmusikstile in Bulgarien und Mali. Typisch für diese Musikstile sind asymmetrische Metren, die sich aus der Abfolge zeitlicher Einheiten ungleicher Dauer zusammensetzen. Das Verhältnis dieser Einheiten liegt häufig im Bereich von 3:2 oder 4:3, also weit abseits der kanonischen Referenzproportionen 1:1 und 2:1. Die herrschende Lehrmeinung ist, dass Menschen nicht in der Lage sind, diese Verhältnisse als Referenzstrukturen der Rhythmuswahrnehmung zu nutzen. Die Analysen der betreffenden Musikstile legen jedoch gerade dies nahe [2]. Wir testeten also die Synchronisation bulgarischer und malischer Tanzmusikerinnen und -musiker (siehe Abb. 2) mit rhythmischen Vorgaben der Verhältnisse 1:1 und 2:1 sowie 3:2 und 4:3. Als Vergleichsgruppen haben wir Musikerinnen und Musiker in Deutschland und Bulgarien rekrutiert, die auf europäische Kunstmusik spezialisiert sind.
Kulturvergleichendes Experiment widerspricht Universalitätsannahme
Das Hauptergebnis der Studie ist, dass alle Gruppen Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Rhythmen haben, die in ihrer eigenen musikkulturellen Praxis keine große Rolle spielen [3]. Alle vier Gruppen verwenden regelmäßig Rhythmen, denen die Verhältnisse 1:1 und 2:1 zugrunde liegen. Die Synchronisation mit diesen Rhythmen bewältigten dementsprechend alle vier Gruppen gleichermaßen verlässlich. Bei den Rhythmen, die in der alltäglichen musikalischen Praxis nur einer der vier Gruppen eine prominente Rolle spielen, erwies sich das Verhalten hingegen als entsprechend variabel. Zum Beispiel vermochten die malischen Musiker einen 4:3-Rhythmus bei hohem Tempo mit enormer Genauigkeit wiederzugeben, während alle übrigen Gruppen diese Vorgabe massiv in Richtung 2:1 verschoben. Diesem besonderen Verhalten der malischen Versuchsgruppe entspricht die häufige Verwendung der Kombination von Rhythmus (4:3) und Tempo (hoch) in verschiedenen Musikstilen in Mali, nicht aber in Deutschland und Bulgarien.
Kultur schließt Verhalten, Umwelt und Wahrnehmung ein
Die Annahme, dass die menschliche Rhythmuswahrnehmung ausschließlich auf die mathematisch einfachsten zeitlichen Verhältnisse (1:1 und 2:1) als Referenzstrukturen zurückgreift, ist folglich falsch. Auch komplexere Verhältnisse, wie etwa 4:3, können durchaus als Referenzstrukturen dienen. Ob ein Rhythmus der menschlichen Kognition als leicht, schwierig oder kaum verstehbar erscheint, entscheidet weder die mathematische Komplexität des Rhythmus noch die musikalische Expertise der Hörenden allein. Vielmehr hängen die Beschränkungen und die Orientierung der Rhythmuswahrnehmung auch – und teils grundlegend – davon ab, welche Formen rhythmischer Stimuli in der Umwelt der wahrnehmenden Individuen regelmäßig auftreten und ihnen durch Erfahrung vertraut sind [3, 4].
Im Fall von Musik ist die Umwelt, an welche die Wahrnehmung angepasst ist, ihrerseits menschengemacht, also kulturell gestaltet und historisch wandelbar. In diesem Zusammenhang erscheinen Rückwirkungen und somit komplexe Wechselwirkungen zwischen musikalischen Praktiken und ihrer Wahrnehmung als möglich und wahrscheinlich. Im Gegensatz dazu versteht die Kognitionsforschung überwiegend nur musikalische Praktiken (etwa Musikstile) als kulturell verfasst, die Fähigkeit zu ihrer Wahrnehmung dagegen als biologisch festgelegt [5]. Mit unseren Forschungen zeigen wir, dass die kognitionswissenschaftlich unterrepräsentierte Perspektive des Kulturvergleichs relevante Beiträge zur Diskussion dieser kontrastierenden Entwürfe liefern kann – vor allem, wenn ethnologische und kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse und Blickwinkel zusammenwirken.