Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Globalisierung des Wissens

Autoren
Renn, Jürgen
Abteilungen
Strukturwandel von Wissenssystemen (Renn)
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Zusammenfassung
Globalisierungsprozesse finden seit Jahrtausenden statt; immer geht es dabei auch um Wissen. Die Globalisierung des Wissens ist kein lineares Fortschreiten, sondern vielmehr ein dynamischer Vorgang, bei dem äußere und innere Faktoren zusammenspielen und der außerdem von lokalen Kontexten geprägt wird. Um zu verstehen, wie sich Wissen über kulturelle Grenzen hinweg ausbreitet, bedarf es eines neuen theoretischen Rahmens.

Globalisierung als historischer Prozess des Wissenstransfers

Wird heute über Globalisierung gesprochen, versteht man darunter vornehmlich die Entwicklung transnationaler Märkte für Waren, Kapital und Arbeit. Dagegen wird die weltweite Ausbreitung von Wissen etwa in Form neuer Technologien oder Ideen als separater Vorgang betrachtet. Doch in der Geschichte der Menschheit waren globale Austauschprozesse stets auch von Wissenstransfer begleitet. Die heutige Situation ist das Ergebnis dieser historischen Prozesse und kann letztlich nur verstanden werden, wenn man auch die Wissensdimension berücksichtigt.

Die Analyse der Rolle des Wissens in diesen historischen Prozessen verbessert also auch unser Verständnis der gegenwärtigen Globalisierung sowie künftiger Entwicklungen.

Die Dynamik der Globalisierung

Globalisierungsprozesse sind von einem tiefen inneren Widerspruch geprägt: Einerseits treiben sie die Homogenisierungs- und Standardisierungsprozesse von Wirtschaft, Kultur und Politik sowie von Wissenssystemen voran. Andererseits bringen diese Prozesse unterschiedliche Bewältigungsstrategien hervor, die dann wiederum die Komplexität der betroffenen Systeme erhöhen. Dieser Kontrast zeigt, dass nationale und regionale Institutionen eine wichtige Vermittlerrolle spielen. Außerdem weist er Globalisierung als dynamischen Prozess aus, der sich auf mehreren Ebenen abspielt – Migration, Verbreitung neuer Technologien, Ausbreitung religiöser Vorstellungen oder die Zunahme von Mehrsprachigkeit. All diesen Teilvorgängen liegt eine jeweils eigene Dynamik und Geschichte zugrunde.

Waren, Werkzeuge und technische Fertigkeiten zirkulieren unter Menschengruppen unterschiedlich rasch, typischerweise jedoch schneller als Sprachen, Rituale, Ideologien oder Institutionen der Verwaltung und Politik. Das belegt die entscheidende Rolle des Wissens in diesen Prozessen. Beispielsweise verbreiten sich Waren auf anderen Wegen als ihre Produktionstechnologien, denn die Übermittlung von Wissen über die Herstellung von Waren setzt zumindest eine angemessene Sprachkompetenz voraus. So erklärt sich zum Beispiel, dass Mehrsprachigkeit bereits ein wesentlicher Zug antiker Schriftkulturen war – ein kritischer Faktor in Globalisierungsprozessen, wenn nicht sogar ein Indikator für kulturelle Hochentwicklung. Ihre Bedeutung lässt sich sogar in den frühesten Werken der lexikografischen Literatur erkennen. In ihnen sind Glossare und andere Hilfsmittel für die Kommunikation enthalten, die sich als Voraussetzungen für weitergehende Globalisierungsprozesse ansehen lassen.

Ein nichtlinearer Prozess

Doch diese Mehrstufigkeit bedeutet nicht, dass der Geschichte der Globalisierung eine Art mechanischer Fortschritt zugrunde liegt; zum Beispiel folgt aus der Globalisierung der Märkte nicht notwendig, dass auch politische Systeme übernommen werden. Stattdessen kann die Wechselwirkung zwischen einzelnen Ebenen zu ganz verschiedenen Ergebnissen führen. Für diese Wechselwirkung spielt Wissen eine Schlüsselrolle als verbindendes Element der verschiedenen Globalisierungsebenen. Im politischen Diskurs gelten Erziehung und Bildung als entscheidend, um den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen zu sein. Doch ist Wissen mehr als nur eine Fassette der Globalisierung, ob nun als ihre Voraussetzung oder Konsequenz. Die Globalisierung des Wissens ist vielmehr nur als historischer Prozess mit einer eigenen Dynamik zu verstehen, der alle anderen Aspekte der Globalisierung – einschließlich der Ausbildung von Märkten – dadurch mitbestimmt, dass Wissen die Identität aller Beteiligten, sowohl der Handelnden als auch ihrer Kritiker prägt.

Äußere gegen innere Dynamik

Äußere und innere Entwicklungen innerhalb des Wissenswachstums ergänzen sich und treten miteinander in Wechselwirkung, sodass es zu Rückkopplungen kommt. Die äußere Dynamik unterliegt ökologischen, ökonomischen, kulturellen und politischen Randbedingungen. Dagegen entsteht die innere Dynamik aus selbstreferenziellen Verbesserungen eines Wissenssystems, die eine noch komplexere Architektur des Wissens hervorbringen. Innere und äußere Entwicklungen sind eng miteinander verbunden. Die Entwicklung der Wissenschaft hängt von äußeren Bedingungen, wie zum Beispiel wirtschaftlichen Möglichkeiten oder kulturellen Perspektiven ab, zugleich kann sie selbst durch ihre Anwendungen neue technische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Kontexte schaffen.

Wie sich Wissen globalisiert

Systematische historische Untersuchungen der Prozesse, die zur Globalisierung von Wissen führen, stehen bislang aus. Für dieses Defizit sind zum einen der Umfang und die Vielfalt der erforderlichen Daten verantwortlich. Zum zweiten existiert derzeit kein verbindlicher theoretischer Rahmen, in dem sich Wissensarten und Transferprozesse beschreiben ließen. Um das erste dieser Probleme zu überwinden, bedarf es eines globalen Forschungsnetzwerks. Für das zweite Problem bedarf es einer neuen theoretischen Sprache, die sowohl differenziert als auch strukturell einfach ist. Dieser Rahmen umfasst unweigerlich eine Reihe von Disziplinen: Wissenschaftsgeschichte, Kognitionsforschung, Anthropologie, Archäologie sowie andere Geschichts- und Sozialwissenschaften. Dieser Rahmen sollte in der Lage sein, das volle Spektrum von Entwicklungsprozessen zu beschreiben, wie sie sich im Laufe der Geschichte in der Ausbreitung des Wissens zeigen. Solch ein theoretischer Rahmen sollte insbesondere auch eine Typologie der Wissensformen, der Strukturen zur Wissensdarstellung sowie der Prozesse des Wissenstransfers umfassen. Bisher verfügt keine akademische Fachdisziplin über alle diese Hilfsmittel.

Die Rolle des Wissens in der Globalisierung wird sich nur verstehen und bewerten lassen, wenn Forscher das Thema „Wissen“ gezielt in ihren Projekten angehen. Sie sollten zum Beispiel folgende Fragen beantworten können:

  1. Welche Kenntnisse hatten die Partner – aus ihrer eigenen Sicht – beim Wissensaustausch sowohl voneinander als auch über den Austausch selbst?
  2. Welche Kenntnisse hatten die Partner aus Sicht der Forschung?
  3. In wieweit waren den Partnern die Grenzen ihres Wissens voneinander und über den Austausch selbst bewusst?

Eine Realisierung der hier skizzierten Forschungsperspektive, wie sie am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte unternommen wird, wird heutige und künftige Herausforderungen im Prozess der Wissensglobalisierung bewältigen helfen.

Literaturhinweise

P. Damerow:
Abstraction and representation: Essays on the cultural evolution of thinking. (Übersetzung: Renate Hanauer.)
Kluwer, Dordrecht 1996.
G. S. Drori:
Science in the modern world polity: Institutionalization and globalization.
Stanford University Press, Stanford 2003.
V. H. Mair (Ed.):
Contact and exchange in the ancient world.
University of Hawai'i Press, Honolulu 2006.
J. Osterhammel:
Geschichte der Globalisierung: Dimensionen, Prozesse, Epochen.
Beck, München 2006.
J. Renn:
The globalization of knowledge and its consequences.
Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge: Studies 1. Edition Open Access, Berlin 2011.
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