Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften
Tempel, Rituale und die Transformation transnationaler Netzwerke in Südostasien
Vom 15. bis in das 20. Jahrhundert hinein existierte ein ausgedehntes südostchinesisches Handelsimperium, das sich von der Küste Chinas rund um die Küstenhäfen Südostasiens erstreckte. Es hatte die zuvor bestehenden arabischen Handelsnetze abgelöst, die vom Persischen Golf bis nach Fujian in China reichten. Dieses Handelsnetz, das von der Region Minnan in der Provinz Fujian ausging, war durch den gemeinsamen lokalen Dialekt („Hokkien“) verbunden und beruhte auf sozialen und kulturellen Einrichtungen, die charakteristisch für die Gesellschaft in Minnan waren. Dazu zählten Tempel, die den regionalen Gottheiten und der Ahnenverehrung gewidmet sind, Heimatvereinigungen und Bruderschaften genauso wie eine spezifische Form des chinesischen Kapitalismus. Im 19. Jahrhundert vergrößerte sich dieses Netzwerk und wurde immer komplexer, als Migranten, die andere chinesische Dialekte sprachen (zum Beispiel Kantonesisch, Teochow, Hainanesisch), ihre eigenen Gemeinschaften und Institutionen in Südostasien gründeten.
In den letzten dreißig Jahren hat sich dieses große Netzwerk zurück nach China orientiert. Hohe Geldsummen wurden an Familienmitglieder nach Hause überwiesen und zweistellige Millionen-Dollar-Beträge in Fabriken, Schulen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen in den alten Heimatstädten und -dörfern in Südostchina investiert. Hinzu kommen Millionenausgaben für den Wiederaufbau der Gründungstempel, Ahnenhallen und buddhistischen Klöster, von denen ein Großteil während der Kulturrevolution zerstört oder beschädigt worden waren. Viele chinesische Geschäftsleute kehrten zurück, um an dörflichen Ritualen und religiösen Prozessionen teilzunehmen, ihr Wissen um Riten weiterzugeben und veränderte Rituale einzuführen, wie sie nun in Südostasien stattfanden.
In China, vor allem im Südosten des Landes, wurden über eine Million Tempel wiederaufgebaut. Die Restaurierung dieser lokalen und zugleich transnationalen kulturellen Netzwerke ist ein wichtiges Phänomen in der Geschichte Chinas und Südostasiens. Die Interaktion Chinas mit Südostasien ist weitaus komplexer und heterogener, als es vereinfachende und nationalistische Modelle über die Ausbreitung chinesischer „soft power“ nahelegen.
In den chinesischen Tempeln in den Häfen Südostasiens waren die Huiguan (Kaufmannsvereine der Heimatorte) angesiedelt, die dort ihre Geschäfte betrieben. Diese Netzwerke wurden in den vergangenen dreißig Jahren mit neuem Leben gefüllt. Für den Zusammenhalt der Gemeinschaft innerhalb der chinesischen Tempelnetzwerke in Südostasien sorgen ganz unterschiedliche Formen von Ritualen, die viele verschiedene Interaktionen umfassen können. Dazu gehören die Geschäftsbeziehungen innerhalb geschlossener Gruppen, die Schaffung von Vertrauen durch gemeinsame Teilnahme an Riten und Prozessionen und deren Finanzierung, der kollektive Ausdruck „chinesischer“ Identität und viele Verbindungen zu anderen Gemeinden und politischen Organisationen.
Singapur, Indonesien, Thailand und Vietnam
In Singapur gibt es eine große Vielfalt unterschiedlicher Netzwerke, die Tempel-, Abstammungs- und Dialektgemeinschaften mit ihren Gründungstempeln und Ahnenstätten im Südosten Chinas verbinden (Abb. 1 und 2). Diese Netzwerke können die gemeinsame Verwendung von Weihrauch für populäre Gottheiten aus regionalen daoistischen Ritualtraditionen zur Grundlage haben, es kann sich um Meister-Schüler-Bindungen innerhalb buddhistischer Klosternetzwerke handeln, um Geschäftsbeziehungen innerhalb einheimischer Vereine oder um Ahnenbindungen zu Ahnenhallen (manchmal auch mit erfundenen Vorfahren). Viele Tempel, Klöster und Sekten aus Singapur haben intensive lokale und regionale (südostasiatische) Netzwerke aufgebaut, was nach der Zerstörung religiöser Gegenstände und Einrichtungen während der Kulturrevolution auch dringend erforderlich war.
In Indonesien können chinesische Religionen und traditionelle Bräuche seit dem Sturz des Suharto-Regimes 1998 und vor allem nach der Verabschiedung des Gesetzes über ethnische Gleichheit und Nichtdiskriminierung im Jahr 2006 wieder offen praktiziert werden. In fast allen Teilen des Landes wurden Tempel renoviert und Rituale erneuert, oft durch die Wiederherstellung von Verbindungen zu Heimatdörfern oder durch Einladungen an spirituelle Medien und Mönche aus China, Rituale in Indonesien durchzuführen. Gleichzeitig wurden chinesische Clanverbände und andere traditionelle Praktiken wiederbelebt beziehungsweise neu begründet. Besonders intensiv ist der Revitalisierungstrend in Jakarta, Semarang, Surabaya, Medan, Pontianak und Makassar. Tatsächlich gibt es heute mehr chinesische Organisationen als vor 1965, als diese Aktivitäten verboten wurden.
In Indonesien, Thailand und Vietnam präsentieren die zurückgekehrten Chinesen ihre „chinesische Identität“ durch den Bau von großen Tempeln und riesigen Gottheitsstatuen sowie durch große Prozessionen. In ganz eigener Weise entwickeln sich bestimmte Kulte zu lokalen Gottheiten wie dem Neun-Kaiser-Kult in Thailand (vegetarisches Festival in Phuket) und die Kulte zu Lin Guniang in Pattani und Zheng He in Indonesien.
Sozioökonomische Funktion
Die autonome Struktur der chinesischen Wirtschaftsexpansion verdankt sich wesentlich der Entwicklung effektiver Organisationsmechanismen, die auf Überzeugungen und Ritualen der Ahnen- und Gottheitskulte in ihren Heimatregionen wie Fujian beruhen. Gestützt durch die chinesische patrilineare Ideologie, die Religiosität und die damit verbundenen Riten, ermöglichten diese Organisationsmethoden, Geschäftskapital anzusammeln, Streitigkeiten untereinander zu schlichten und sich gegen wirtschaftliche Gegner und Konkurrenten bei ihren kommerziellen, landwirtschaftlichen und anderen Aktivitäten zu wehren.
Diese Institutionen spielten eine entscheidende Rolle für die effektive Selbstorganisation der Migranten, sie waren aber nicht statisch oder unveränderlich. Einige haben sich am Leben erhalten, indem sie sich umgestaltet haben und dadurch größeren Personengruppen in der Umgebung anboten. Andere Tempel und Institutionen hingegen gerieten nach einigen Generationen in Vergessenheit oder gingen in die Hände von Managern über, die nicht mit den Gründern und ihren Nachkommen verwandt sind.
Literaturhinweise
Cultural Diversity in China 2, 159–194 (2017)