Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Der Faktor R: Ist Risikobereitschaft ein Persönlichkeitsmerkmal?
Darf ich Sie zu einem Gedankenexperiment einladen? Sie stehen in der Fußgängerzone einer Großstadt und sind Zuschauer eines Hütchenspiels – einem illegalen, aber verführerischen Glücksspiel. Wenn Sie richtig erraten, unter welchem Hütchen die Kugel liegt, bekommen Sie Ihren Einsatz verdoppelt zurück. Würden Sie 50 Euro oder 100 Euro riskieren, um mitzuspielen? Szenenwechsel: Sie sind auf einer Party und unterhalten sich seit Stunden mit einem unbekannten Gegenüber, zu dem Sie sich hingezogen fühlen. Würden Sie, sofern es sich in dieser magischen Nacht ergibt, ungeschützten Sex haben? Kulissenwechsel: Sie möchten ein Start-up gründen. In einer Gründerberatung erfahren Sie, dass nur 30 Prozent der Neugründungen nach einem Jahr auf dem Markt überleben. Wagen Sie es? Letzte Szene: Sie leiden an einem Aneurysma, einer Arterienerweiterung, die jederzeit platzen kann. Riskieren Sie eine sehr gefährliche, möglicherweise tödliche Operation?
Risikobereitschaft – stabiles Persönlichkeitsmerkmal oder theoretisches Trugbild?
Diese Beispiele illustrieren, dass kaum ein Bereich in unserem Leben frei von Risiken ist. Aber wir haben durch die Wahl unseres Verhaltens zumindest teilweise Einfluss darauf, wie groß das Risiko ist, dem wir uns aussetzen. Risiko ist ein Begriff, unter dem verschiedene Disziplinen Unterschiedliches verstehen. Für Entscheidungen, die mit Risiko behaftet sind, gilt gemeinhin, dass diese sowohl negative wie auch positive Auswirkungen haben können. Wie wahrscheinlich diese möglichen Folgen sind, ist oft unbekannt oder lässt sich nur grob abschätzen.
Noch etwas lernen wir aus den Beispielen. Menschen entscheiden sich angesichts von Risiken nicht alle gleich. Das spricht für eine Standardannahme in der ökonomischen Theorienbildung, nach der Menschen stabile, aber durchaus unterschiedliche Dispositionen haben, Risiken einzugehen. Diese Risikobereitschaft ist ein zentraler Baustein klassischer Entscheidungstheorien. Sie wird quasi als ein Persönlichkeitsmerkmal verstanden, das Entscheidungsverhalten in risikobehafteten Situationen abbildet. Diese Annahme hat große praktische Bedeutung. Möchte man eine Person in wichtigen Entscheidungen gut beraten, muss man zunächst ihre Risikobereitschaft erschließen. Einem Menschen, der Risiken scheut und daher große Verluste nicht tolerieren kann, sollte man nicht zu Investitionen in potenziell hochprofitablen, aber schwankenden Anlagen raten. Umgekehrt ist einem risikoliebenden Kunden mit einer sicheren Anlage bei niedrigem Festzins kaum gedient.
Stimmt aber die Vorstellung, dass Risikobereitschaft ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist? Möglicherweise findet die zockende Investmentbankerin ihren Ausgleich beim Nordic Walking und der gewissenhafte Beamte experimentiert am Wochenende mit Drogen. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Verhaltenswissenschaft schon mit dem Wesen des Konstrukts „Risikobereitschaft“: Ist es ein eher situationsübergreifendes oder ein situativ völlig variables Merkmal? Oder könnte es so sein, dass jeder Mensch eine bestimmte generelle Risikobereitschaft hat, die sich aber in verschiedenen Bereichen, wie Gesundheit, Beruf oder Straßenverkehr, unterscheidet? Dies wäre mit dem generellen Intelligenzfaktor vergleichbar, der durch bereichsspezifische Komponenten – etwa der verbalen, sozialen und musikalischen Intelligenz – ergänzt wird.
Die Messung von Risikobereitschaft überdenken
Daneben gibt es noch weitere Fragen, die die Verhaltenswissenschaften seit langem beschäftigen. Wie soll man Risikobereitschaft bestimmen? Durch die Messung konkreten Verhaltens mit finanziellen Konsequenzen? Weil, so die Überzeugung vieler Ökonomen, Selbstauskünfte sonst nur leere Reden sind. Oder doch mittels Selbstauskunft, bei der man ein Individuum bittet, sich zum Beispiel auf einer Skala von „gar nicht risikobereit“ bis „sehr risikobereit“ einzuschätzen. Oder fragt man Menschen am besten nach der Häufigkeit von konkreten Verhaltensweisen, die mit Risiken und Gefahren verbunden sind, wie Drogengebrauch und waghalsigen Hobbies und Sportarten?
In der bislang vermutlich umfangreichsten Studie zu diesem Thema haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zusammen mit Wissenschaftlern der Uni Basel wichtige neue Erkenntnisse zu beiden Fragen – Wesen und Messbarkeit von Risikobereitschaft – gewonnen. Im Unterschied zu bisherigen Studiendesigns, die meist auf einzelnen oder nur wenigen Messinstrumenten für Risikobereitschaft beruhen, untersuchten die Wissenschaftler die Risikobereitschaft von mehr als 1.500 Erwachsenen im Alter von 20 bis 36 Jahren mit drei verschiedenen Messansätzen und insgesamt 39 Tests. Dazu zählten Selbstauskünfte über hypothetische Risikoszenarien, Verhaltenstests mit finanziellen Anreizen sowie Angaben zu risikoreichem Verhalten im Alltag. Eine Personengruppe wiederholte die Messung nach sechs Monaten, um die Stabilität der Resultate zu ermitteln.
Ein zentrales und zugleich verblüffendes Ergebnis ist, dass die Selbstauskünfte und die eigenen Angaben zu risikoreichem Verhalten im Alltag ähnliche Ergebnisse zur Risikobereitschaft einer Person liefern. Im Gegensatz hierzu zeichnen Verhaltenstests, die das dominante Messinstrument in der Ökonomie sind, ein davon abweichendes Bild. Noch verblüffender: Die Ergebnisse der Verhaltenstests waren auch untereinander widersprüchlich – selbst dann, wenn anstelle von Verhalten nicht unmittelbar beobachtbare, sondern indirekt erschlossene (sogenannte latente) Konstrukte wie etwa Verlustaversion analysiert wurden [2]. Mit den oft eingesetzten Verhaltenstests scheint die situationsübergreifende Risikopräferenz demnach nicht erfassbar zu sein.
Gleichzeitig zeigt die Studie, dass es offensichtlich einen allgemeinen Faktor der Risikobereitschaft gibt. Dies legt nahe, dass Menschen in verschiedenen Lebensbereichen zwar unterschiedlich risikobereit sein können, der allgemeine Faktor aber als Dirigent mitwirkt. Diese Erkenntnisse differenzieren und modernisieren die Vorstellung einer stabilen Risikopräferenz in der ökonomischen Forschung. Paradoxerweise erschließt sich dieser allgemeine Faktor aber durch die in der Ökonomie so wenig geschätzten subjektiven Aussagen der einzelnen Person.
Literaturhinweise
Nature Human Behaviour 1, 803–809 (2017)