Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Holistische Wahrnehmung von Gesichtern und Objekten
Holistic perception of faces and objects
Einführung
Wir können Personen sehr gut anhand ihrer Gesichter erkennen. Diese Fähigkeit ist essentiell für unser soziales Verhalten. Die technische Entwicklung automatischer Gesichtserkennungssysteme zeigt aber, dass dies keine triviale Aufgabe ist. Wir wissen auch, dass wir Gesichter holistisch wahrnehmen. Es wird vermutet, dass diese Wahrnehmungsweise unsere Gesichtserkennung besonders schnell und verlässlich macht.
Was aber bedeutet es genau, ein Gesicht holistisch wahrzunehmen? Abbildung 1 a veranschaulicht die holistische Wahrnehmung: die obere Gesichtshälfte von Barack Obama wird anders wahrgenommen, wenn sie mit dem Gesicht des Schauspielers Will Smith kombiniert wird, aber nur dann, wenn beide Gesichtshälften aufeinanderpassen. Dieser holistische Effekt beruht darauf, dass man nicht einen Teil eines Gesichts wahrnehmen kann, ohne dass seine anderen Teile diesen Prozess beeinflussen.
Da wir im täglichen Leben permanent Gesichter analysieren, ist unser Gehirn sozusagen auf eine schnelle holistische Wahrnehmung programmiert. Bis jetzt wurde diese holistische Wahrnehmung für statische Gesichter (Photos) oder für Gegenstände gezeigt, die wir gut kennen. Unklar war jedoch, ob die holistische Wahrnehmung auch für bewegte Gesichter oder unbekannte Gegenstände gilt.
Holistische Wahrnehmung schafft Illusionen
In unseren Studien haben wir deshalb zwei Fragen untersucht: Werden auch bewegte Gesichter holistisch wahrgenommen [1], und trifft die holistische Wahrnehmung auch auf andere Objektklassen zu [2]? Um die erste Frage zu beantworten, wurde die holistische Wahrnehmung von statischen und sich bewegenden Gesichtern verglichen (Abb. 1 b, Abb. 2). Zur Beantwortung der zweiten Fragestellung wurden neben statischen Gesichtern auch Linien-Muster untersucht. Die Eigenschaften der Muster wurden so gewählt, dass die oberen mit den unteren Segmenten kombiniert werden konnten, ohne die Kontinuität der Linien zu unterbrechen (Abb. 1 c).
Ein exemplarischer Test ist in Abb. 1 b gezeigt; die unteren Segmente beider Gesichter sind unterschiedlich, während die oberen Segmente identisch sind. Die Aufgabe der Versuchsteilnehmer war es zu entscheiden, ob die oberen Gesichtshälften identisch waren oder nicht. Je holistischer die Gesichter wahrgenommen wurden, desto mehr wurden die Beobachter in ihren Antworten durch die untere Gesichtshälfte beeinflusst. Die gleiche Aufgabe wurde mit bewegten Gesichtern (Abb. 2) sowie Linien-Mustern (Abb. 1 c) wiederholt.
Im Falle statischer und bewegter Gesichter zeigten die Antworten der Versuchspersonen, dass die Wahrnehmung von statischen und dynamischen aufrechten Gesichtern in gleichem Maße durch die unteren Gesichtshälften beeinflusst wurde. Ein holistischer Effekt wurde also in beiden Fällen beobachtet. Zusätzlich wurden bewegte und statische Gesichter kopfüber gezeigt (Abb. 2). In diesem Fall konnte ein holistischer Effekt nur für animierte Gesichter nachgewiesen werden, für statische Gesichter war er dagegen nicht nachweisbar.
Holistische Wahrnehmung ist weitreichender als bislang angenommen
Die Ergebnisse zeigen, dass die holistische Verarbeitung ein allgemeines Prinzip der Gesichtswahrnehmung ist: Sowohl statische als auch dynamische Gesichter werden als Ganzes wahrgenommen. Bewegen sich die Gesichter, werden die Gesichtsteile durch ihre gleiche Bewegung stärker perzeptuell gruppiert [3]. Diese Gruppierung erleichtert zusätzlich die holistische Wahrnehmung leicht, was nur in den Ergebnissen erkennbar ist, wenn holistische Bearbeitung durch ungewöhnliche Ansichten (kopfüber) stark reduziert ist.
Bisherige Theorien über holistische Wahrnehmung gehen von einer fundamentalen Voraussetzung aus: Gegenstände, die keine Gesichter sind, können nur dann holistisch verarbeitet werden, wenn die Betrachter sehr große Erfahrung mit diesen Objekten haben. Im Gegensatz zu dieser vorherrschenden Ansicht zeigen unsere Experimente, dass unbekannte Linien-Muster genauso holistisch verarbeitet wurden wie Gesichter, sofern die Kontinuität ihrer Linien gegeben ist. Das bedeutet, dass nicht nur Eigenschaften der Betrachter (z. B. ihre Vertrautheit mit dem Objekt) die holistische Verarbeitung von Gesichtern/Objekten beeinflussen, sondern dass auch Eigenschaften des Objekts selbst zu einer holistischen Wahrnehmung führen können. Diese Ergebnisse stellen die bisherigen Theorien zur holistischen Wahrnehmung vor eine Herausforderung.