Forschungsbericht 2016 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut
Die kunstwissenschaftliche Forschungsbibliothek im globalen Kontext
Die Bibliothek im Zeitalter des World Wide Web
Seit rund fünfundzwanzig Jahren, seit der Etablierung des World Wide Web als globalem Kommunikations- und Operationsnetzwerk, das sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche bestimmt und reguliert, wird über neue Aufgaben und über die Zukunft von Bibliotheken diskutiert. Grundlage der Überlegungen ist das Spannungsverhältnis zweier gegensätzlicher Einsichten: Einerseits erweisen sich etliche traditionelle Routinen der Bibliotheksverwaltung durch die Datentechnik als nicht mehr zeitgemäß, andererseits eröffnet diese Datentechnik Optionen, die den Zuständigkeits- und Kompetenzhorizont von Bibliotheken deutlich erweitern. Besonders wichtig sind auch die Möglichkeiten, die sich zur übernationalen, multilateralen Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen bieten. Chancen und Hindernisse halten sich die Waage: Zwar sind Bibliotheken durch signifikante Schnittmengen bei den Literaturbeständen über nationale Grenzen hinweg vereint und dadurch für Synergieeffekte besonders geeignet, sie unterscheiden sich aber aufgrund länderspezifischer Katalogisierungs- und Erschließungskonventionen zum Teil erheblich. Schließlich müssen auch stark voneinander abweichende Anforderungen hinsichtlich bibliografischer Dienste in geisteswissenschaftlichen Disziplinen gegenüber naturwissenschaftlich-technisch-medizinischen Fächern („STM“-Fächer) berücksichtigt werden, die gerade unter Einsatz digitaler Netze und der Bereitstellung von E-Ressourcen noch deutlicher zutage treten als in Zeiten der Vorherrschaft von Printmedien. So ist aufgrund der erheblichen Beschleunigung des Publikations- und Verteilungsprozesses wissenschaftlichen Schrifttums in den STM-Disziplinen der Bedarf an umfassenden und aktuellen Bibliografien, der durch entsprechende Angebote seitens spezialisierter Datenbankanbieter befriedigt wird, sehr hoch. In den Geisteswissenschaften hingegen fällt diese Rolle überwiegend den Bibliotheken und deren Katalogen zu.
Neue Herausforderungen, neue Antworten
Die Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, Max-Planck-Institut, begegnet den Veränderungen in mehrfacher Hinsicht. Bereits 1994, also fast zeitgleich mit der Geburt des WWW, wurden die Grundlagen für eine datengestützte kooperative Erschließung der Literatur dreier führender kunstwissenschaftlicher Forschungsbibliotheken gelegt. Neben dem Kunsthistorischen Institut in Florenz waren die Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München und die Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) in Rom beteiligt.
Durch die intensive Katalogisierung von Aufsätzen aus internationalen Fachzeitschriften haben diese Bibliotheken mit ihrem Online-Katalog eine einzigartige bibliografische Serviceleistung für die Forschung etabliert, die international genutzt wird und für das Fach als unverzichtbar gilt. Dass Kataloge von Spezialbibliotheken die Funktion einer Fachbibliografie erfüllen können, hatte man schon vor gut achtzig Jahren erkannt, als die Aufstellungssystematik als vorrangiges Ordnungs- und Orientierungskriterium gegenüber Katalogen in den Hintergrund trat. Aber erst die Digitaltechnik und entsprechende Kommunikationsnetze haben den entscheidenden Schritt ermöglicht, die Kataloginformationen in vielfältiger Weise zu vernetzen. Somit war das wichtige Kriterium der fachlichen Breite erfüllt: Einzelne Bibliotheken verstehen sich funktional als Ergänzungen einer virtuellen Gesamtheit disziplinbezogener bibliografischer Informationen. Selbstverständlich sind einer solchen operativen Netzstruktur keine nationalen Grenzen gesetzt.
Die Bibliothek des Kunsthistorischen Institutes hat auf der Grundlage der genannten Voraussetzungen federführend und sehr intensiv am Aufbau eines entsprechenden operativen Netzwerks mitgewirkt. Im Jahr 1999 erfolgte die Einführung des zunächst deutschen „Virtuellen Katalogs Kunstgeschichte“, dem seit etwa 2003 europäische und US-amerikanische Partnerbibliotheken beigetreten sind [1]. Mit der Umbenennung zu artlibraries.net konnten bis 2012 etwa 90 Kunst- und Museumsbibliotheken aus 15 Ländern auf 4 Kontinenten für die Zusammenarbeit gewonnen werden. Neben der Bereitstellung einer virtuellen Fachbibliografie mit 13 Millionen Datensätzen entstand auf diese Weise auch das größte fachliche Netzwerk für Kommunikation und Kooperation, das es im Sektor der Kunst- und Museumsbibliotheken jemals gab [2].
Der internationale Kongress der Kunst- und Museumsbibliotheken in Florenz
Aus diesen operativen Rahmenbedingungen ergeben sich Fragen, wie die bibliografischen Dienstleistungen für Forschung und Wissenschaft verändert und verbessert werden können. Letztere beruhen zum einen auf der Aggregierung von relevanten und teilweise hochspeziellen Katalogdaten aus vielen verschiedenen Quellen und deren virtuellen Clusterung zu einer einheitlichen Ressource. Dies erschwert allerdings auch die Verarbeitung der Daten, wenn sie sich in Struktur und Semantik unterscheiden. Zum anderen eröffnet das Prinzip der Netzwerkarchitektur die Option, Bibliothekskataloge mit ergänzenden bibliografischen Daten zu kombinieren, die im Zuge der Aufbereitung von Fachdatenbanken und Repositorien jenseits von Bibliotheken entstehen und in einzelnen Fällen unverzichtbare Informationen enthalten. Diese und weitergehende Fragen sind auf einem kürzlich in Florenz veranstalteten internationalen Kongress von Kunst- und Museumsbibliotheken mit rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 16 Ländern diskutiert worden. Es war die siebte Veranstaltung dieser Art, die das Netzwerk der Kunst- und Museumsbibliotheken in zweijährigem Rhythmus organisiert.
Die Konferenz zog zunächst Bilanz. Im Jahr 2014 wurde die Zusammenführung der Katalogdaten der beteiligten Bibliotheken auf eine zeitgemäße technische Basis gestellt, indem man die Strukturen und Leistungspotenziale des OCLC (Online Computer Library Center, Dublin, Ohio) WorldCat in seiner Variante als Discovery-Umgebung für das Kunstbibliotheken-Netzwerk dienstbar gemacht hat [3]. Diese notwendige technische Erneuerung birgt neue Herausforderungen, die das Selbstverständnis von forschungsorientierten Kunstbibliotheken und deren Zusammenspiel im globalen Kontext berühren [4]. So steigt mit der Zahl der Daten auch der Anspruch, Ergebnisse zuverlässig und sachdienlich zu selektieren und zu sortieren. Inkonsistenzen in der Datenstruktur aufgrund lokaler Traditionen oder Regelwerksbrüche können sehr hinderlich sein, diesen Anspruch zu erfüllen. Auf der Florentiner Fachkonferenz hat der Betreiber der Plattform Lösungsansätze zu einer besseren Rankingbildung, die disziplinspezifischen Ansprüchen genügt, vorgestellt und damit die von den Kunstbibliotheken formulierten Anforderungen aufgegriffen. Fachliche Differenziertheit und allgemeine Konzepte für die Verarbeitung großer und verschiedenartiger Datenmengen kommen hierbei einerseits konfliktreich, andererseits nach Lösungen suchend zusammen. Heute erfüllen (Meta-)Daten die Navigations- und Orientierungsleistung, die in der Vergangenheit weitgehend der Systematik physischer Buchbestände in Freihandbibliotheken vorbehalten war. Daraus ergeben sich auch Fragen nach innovativen Analysemethoden, um weiterführende Informationen zu generieren – Informationen, die zwar den Daten immanent, mit herkömmlichen Katalogwerkzeugen (Begriffssuche, Browsing) jedoch nicht zu erfassen sind. In diesem Zusammenhang wurden Visualisierungsmethoden zur Darstellung quantitativer und räumlicher Beziehungen diskutiert. Ein Beispiel dafür ist das GlamMap-Projekt, das im Kontext der Initiative „Visual Analytics for the World’s Library Data“ entwickelt wurde. Es ermöglicht eine kartografisch-räumliche Repräsentation von semantischen Raum- und Zeitbeziehungen, die auf konventionellen, listenbasierten Katalogoberflächen nicht abgebildet werden können. Vor allem für inhaltsbeschreibende Elemente bibliografischer Metadaten ist dies eine vielversprechende Methode, die sich sehr gut mit dem Prinzip der Linked Data kombinieren lässt und den Informationsgehalt der Daten mit neuen Anschauungsformen verknüpft. Dieser Programmpunkt der Konferenz verdeutlicht, wie wichtig es ist, die „Kommunikationssprache“ der Daten zu vereinheitlichen. Nur so kommt man den Möglichkeiten der Technik entgegen. Auf allgemeiner bibliothekarischer Ebene bemüht man sich schon seit Langem, zum Teil erfolgreich, um internationale Standards. Für den Sonderfall der Kunst- und Museumsbibliotheken sind Ergänzungen und Konkretisierungen erforderlich. Hier hat sich die offensive und für Innovationen aufgeschlossene Zusammenarbeit des globalen Kunstbibliotheken-Netzwerks als besonders förderlich erwiesen. Die Ansprüche der Forschung an die wissenschaftliche Dienstleistung der Bibliothek werden zukünftig besser erfüllt werden können.