Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Können Sie mir sagen, wie ich zum Ziel komme? – Die Interaktion räumlichen und sozialen Denkens
Auf den ersten Blick erscheinen soziales und räumliches Wahrnehmen und Denken als abgeschlossene Bereiche, die nichts miteinander zu tun haben. Beispielsweise kann man sein geparktes Auto finden, ohne mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Bei genauerer Betrachtung sind jedoch räumliche und soziale Denkprozesse oft eng miteinander verflochten. Die enge Verflechtung führt zur gegenseitigen Beeinflussung von räumlichen und sozialen Denkprozessen. Beispielsweise kann eine andere Person als unangenehm nah erlebt werden oder aber die räumliche Perspektivenübernahme der anderen Person führt zum besseren Verständnis ihrer Handlungsabsichten. Ziel der Arbeitsgruppe ist die Erforschung sozialer und räumlicher Kognition, also der Wahrnehmungs- und Denkprozesse. Dazu werden räumliche und soziale kognitive Prozesse separat untersucht sowie in ihrem Zusammenspiel. Mit Hilfe von virtuellen Welten lassen sich realitätsnahe Situationen simulieren, in denen Versuchspersonen mit ihrer sozialen und räumlichen Umwelt interagieren. Gleichzeitig messen die Forscher ihre Bewegungen. Mittels Verhaltensbeobachtung und funktionaler Magnetresonanztomographie gewinnen sie einen Einblick in die zugrunde liegenden Denkprozesse im Gehirn.
Wie kommen wir von A nach B?
Ein Großteil der Forschung zur Raumkognition beim Menschen und zu den zugrunde liegenden neuronalen Vorgängen in Tieren beschäftigte sich mit einfachen Navigations- und Gedächtnisaufgaben am Bildschirm oder in Innenräumen. Dagegen untersucht die Arbeitsgruppe um Meilinger und de la Rosa die Navigation in komplexen Räumen wie Gebäuden oder Städten die – auch in Zeiten von Navigationsgeräten – einen Großteil der alltäglichen räumlichen Probleme darstellen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass solche "Umwelten" in lokalen Referenzrahmen (Koordinatensystemen) im Gedächtnis gespeichert werden [1]. Dies findet sich sowohl auf der Verhaltens- als auch auf der neuronalen Ebene. Menschen merken sich also einzelne Straßen, Gänge oder Zimmer und wie diese miteinander verbunden sind. Sie nutzen dieses Wissen, um Wege durch ihren Heimatort zu finden, also beispielsweise um am Rathaus links abzubiegen, dann geradeaus zu laufen und an der nächsten Ampel rechts abzubiegen. Beim Planen dieser Wege benutzen sie den Trick, sich auf das Abbiegen zu konzentrieren und im Zweifelsfall immer der Nase nach, also geradeaus zu laufen [2; 3]. Diese Strategie ermöglicht es ihnen, möglichst wenige Richtungsentscheidungen im Gedächtnis zu behalten und trotzdem an ihrem Ziel anzukommen. Sollen Menschen dagegen innerhalb ihres Wohnortes zu entfernten Zielen zeigen, so verlassen sie sich nicht nur auf ihr Wissen von lokalen Straßen und Plätzen, sondern sie kombinieren dieses mit einer anderen Wissensquelle, nämlich mit Landkarten. Dies zeigt sich, wenn Einwohner durch eine Videobrille ein virtuelles Computermodell ihres Wohnortes erleben (Abb. 1) und darin zu fernen Orten zeigen. Sie sind darin umso besser, je näher sie nach Norden blicken – was der Orientierung entspricht, in der Karten üblicherweise dargeboten werden [4]. Auch im Labor findet sich dieses Muster [5]. Menschen haben also tatsächlich eine Karte im Kopf, nämlich ihre Erinnerung an zuvor gesehene Landkarten. Diese Kopf-Karte ist optimal geeignet, um die Richtung und Entfernung abzuschätzen, sie ist aber in einem anderen Format als das Wissen um lokale Gegebenheiten, welches wir erlernen und nutzen, wenn wir uns durch die Stadt bewegen [6]. Die Forscher am Max-Planck-Institut zeigen, wie Menschen in ihrem Alltag unterschiedliche räumliche Informationsquellen nutzen und diese je nach Aufgabe optimal einsetzen.
Wie verstehen wir die Handlungen anderer?
Das zentrale Anliegen der sozialen Kognitionsforschung gilt der Erklärung menschlichen Sozialverhaltens. Am Max-Planck-Institut geht es vor allem um die Frage, wie Menschen soziale Informationen aus der Verhaltensbeobachtung anderer Personen gewinnen. Wie sehen beispielsweise die Denkprozesse aus, die es uns ermöglichen zu sagen, welche Handlung eine Person ausführt? Bisherige Forschung zeigte vor allem, wie Menschen Handlungen von Bildern oder Videos erkennen. Die Arbeiten am Max-Planck-Institut betrachten jedoch eine sehr wichtige neue Komponente in der Handlungserkennung, nämlich den sozialen Kontext, in dem eine Handlung stattfindet [7; 8]. Alltagssituationen belegen, dass dieser wichtig für die Handlungsinterpretation ist. Ein Lachen über einen Witz und ein Auslachen mögen auf den ersten Blick sehr ähnlich erscheinen, haben aber grundlegend verschiedene soziale Bedeutungen. Wie wird diese soziale Kontextinformation mit der Handlungsinformation, die z. B. das Gehirn aus einem Foto oder einer Filmsequenz herausliest, vereint? Die Zusammenführung von sozialer Kontextinformation und Bildinformation findet schon relativ früh und noch während der Verarbeitung der Bildinformation statt [7]. Dieser Prozess hat wichtige soziale Relevanz. Er erlaubt es Menschen, die selbe bildliche Handlung auf verschiedene Weise zu interpretieren und hilft bei einer wichtigen sozialen Fähigkeit: eine Handlung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, z. B. um mit jemandem mitzufühlen, der ausgelacht wird.
Soziales Verhalten besteht normalerweise aus dem Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehreren Personen. Im Labor ist die Messung von Denkprozessen unter diesen Bedingungen nur schwer realisierbar. Die Forscher der Gruppe 'Soziale und Räumliche Kognition' arbeiten an der Entwicklung von Experimenten, die es erlauben, menschliches Sozialverhalten unter möglichst realen Bedingungen zu untersuchen. Dazu benutzen sie computergenerierte Welten (virtuelle Realitäten), in denen die Probanden mit computergesteuerten virtuellen Personen interagieren. Diese Welten erlauben es den Forschern, die Interaktion selbst zu verändern. Beispielsweise können so Personen mit virtuellen Menschen und Robotern interagieren, die sich genau gleich verhalten. Dadurch lässt sich feststellen, inwieweit Interaktionen durch das Aussehen des Interaktionspartners beeinflusst werden (Abb. 2). Solche Versuchsanordnungen erlauben es auch, den Zeitpunkt zu verändern, an dem der Interaktionspartner sichtbar wird. Die daraus gewonnenen Ergebnisse zeigen an, wann Menschen die Körperinformation des Interaktionspartners lesen. Dabei stellt sich z. B. heraus, dass Menschen beim Tischtennisspielen vor der Ausführung ihres Schlages auf die Körperhaltung der anderen Person achten, um ihr Schlagverhalten zu verbessern [9]. Auch diese Prozesse sind wiederum vom sozialen Kontext abhängig, nämlich davon, ob Menschen kooperativ oder kompetitiv spielen [8]. Sozialer Kontext ist daher ein wichtiger Faktor in der Aktionserkennung – er beeinflusst früh die Denkprozesse und unser Blickverhalten in sozialen Interaktionen.
Wie soziales und räumliches Denken zusammenspielen
Das Zusammenspiel von räumlichem und sozialem Denken ist wechselseitig: Räumliches Denken beeinflusst soziales Denken und umgekehrt. Beispielsweise verwenden Menschen räumliches Denken über Objekte in der Umwelt in ähnlicher Form auch für ihren eigenen Körper, was wichtig für sozialen Austausch ist. Um beispielsweise jemandem die Hand zu schütteln, benötigen wir Wissen über die räumliche Größe unseres Körpers. Bisherige Forschung zeigte, dass Wissen über die Körperdimensionen stark verzerrt ist. Hände werden als kürzer und breiter erinnert, als sie es wirklich sind. Man ging bisher davon aus, dass diese verzerrte Erinnerung nur bei Körpern auftritt und darauf beruht, dass wir unseren Körper von innen fühlen können. Menschen nutzen dieses Gefühl, um z. B. im Dunkeln den eigenen Arm zu finden. Da wir aber andere Gegenstände nicht in dieser Weise fühlen können, sollten solche räumlichen Verzerrungen nicht bei Gegenständen auftreten. Ergebnisse der Max-Planck-Forscher zeigen, dass nicht nur Körper verzerrt erinnert werden, sondern auch Gegenstände, die nichts mit dem eigenen Körper zu tun haben, wie beispielsweise ein Buch. Dies deutet darauf hin, dass das Wissen über den eigenen Körper zum Teil auch auf universellen, räumlichen Kognitionsprozessen beruht, die sowohl bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers als auch bei der von Objekten zum Tragen kommen.
Räumliches Denken ist aber nicht nur wichtig für soziales Verhalten. Allein die Ausrichtung von Gegenständen relativ zum Betrachter scheint soziale Information zu beinhalten. Der menschliche Körper hat ein Vorne und ein Hinten. Dies gilt auch für Tiere und viele Alltagsgegenstände. In verschiedenen Experimenten konnten die Wissenschaftler zeigen, dass sowohl virtuelle Menschen als auch unterschiedliche Objekte als näher wahrgenommen werden, wenn sie auf einen Beobachter hin ausgerichtet sind [10]. Das deutet darauf hin, dass Objektausrichtung – eine räumliche Eigenschaft – als sozialer Hinweisreiz interpretiert wird. Weitere Experimente widmen sich der genaueren Erforschung der zugrunde liegenden Verarbeitungsprozesse.
Umgekehrt beeinflusst soziales Denken auch räumliche Wahrnehmung. Die Forscher am Max-Planck-Institut ließen deutsche und koreanische Probanden die Größe von virtuellen Räumen einschätzen. Interessanterweise zeigte sich, dass Koreaner den Raum wahrheitsgetreuer als Deutsche wahrnehmen. Raumwahrnehmung ist daher von sozio-kultureller Erfahrung geprägt.
Soziale und räumliche Kognition sind zwei etablierte und dynamische Forschungsgebiete. Die Forschung der Arbeitsgruppe entwickelt diese Forschung weiter und zeigt, wie räumliches und soziales Wissen miteinander verbunden sind, um menschlichen Verhalten in Alltagssituationen besser zu erklären.
Literaturhinweise
Cognition 129, 24-30 (2013)