Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Geburtenentwicklung und Familienformen nach der Wiedervereinigung Deutschlands

Autoren
Konietzka, Dirk; Kreyenfeld, Michaela
Abteilungen
Fertilitäts- und Familiendynamiken im heutigen Europa (Jan Hoem), MPI für demografische Forschung, Rostock
Zusammenfassung
Der politische und soziale Systembruch in Ostdeutschland hat der Forschung Gelegenheit gegeben zu untersuchen, wie ein Wechsel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Geburtenverhalten, Familiendynamik und Lebenslaufmuster beeinflusst. Aus familiendemografischer Sicht ist die Frage, in welchem Ausmaß und Tempo sich das Alter bei der Eheschließung und Familiengründung in Ostdeutschland nach der deutschen Einheit verändert hat, bedeutsam. Trotz einer Annäherung der jährlichen Fertilitätsziffern und einer Erhöhung des Alters bei der ersten Mutterschaft haben ostdeutsche Frauen in den 1990er-Jahren früher als westdeutsche Frauen ein erstes Kind bekommen. Zudem bestehen Unterschiede in Heiratsverhalten, Familienformen und Erwerbsverhalten von Frauen mit Kindern. Wesentliche Aspekte des demografischen Wandels in Ostdeutschland und in Osteuropa sind bis heute nicht hinreichend verstanden worden. Das "Generations and Gender Program" verfolgt das Ziel, den Wandel der Familiendynamik nach der Systemtransformation international vergleichend und theoretisch innovativ zu bearbeiten.

Die mittel- und osteuropäischen Transformationsländer haben nach dem Zusammenbruch des Kommunismus dramatische Veränderungen ihrer Bevölkerungsentwicklung erlebt. Da in Ostdeutschland der politische und soziale Systembruch besonders radikal und schnell erfolgt ist, haben sich der Forschung exemplarische, quasi-experimentelle Gelegenheiten eröffnet, den Einfluss gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf die Familienentwicklung zu untersuchen. Der Forschungsbereich "Fertilität und Familiendynamik im heutigen Europa" analysiert diese Prozesse im europäischen Vergleich.

Ein Schwerpunkt der Forschung zur Geburtendynamik in Ostdeutschland gilt der Frage, in welchem Ausmaß und Tempo sich die demografischen Verhaltensmuster an jene in Westdeutschland angeglichen haben. Im Westen haben sich seit den 1970er-Jahren zentrale Lebensereignisse im frühen Erwachsenenalter, darunter das Alter bei Eheschließung und Familiengründung, verschoben. Haben die neuen Bundesländer diese Entwicklung nach 1990 nachgeholt?

Der ostdeutsche Geburtenrückgang

In Ostdeutschland sind unmittelbar nach der politischen Wende 1990 die Geburtenzahlen dramatisch eingebrochen. Zieht man zur Beschreibung der Geburtenentwicklung die zusammengefasste Geburtenziffer heran, dann hat sich die Geburtenrate in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wieder erhöht, nachdem sie von 1,5 Kindern pro Frau im Jahr 1990 auf 0,8 in den Jahren 1992 bis 1994 zurückgegangen war. Im Jahr 2000 lag die Geburtenziffer in den alten Ländern bei 1,4 und in den neuen Ländern bei 1,2.

Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt im Idealfall die endgültige Kinderzahl pro Frau an. Sie führt aber zu verzerrten Schlussfolgerungen, wenn sich das Alter bei der Geburt im Untersuchungszeitraum verändert. Solche "Tempoeffekte" haben bei der Geburtenentwicklung in Ostdeutschland eine große Rolle gespielt. Frauen wurden in der DDR im Durchschnitt mehr als fünf Jahre früher Mutter als in der Bundesrepublik Deutschland. Unmittelbar nach der Wende haben ostdeutsche Frauen die Familiengründung aufgeschoben. Der Rückgang der zusammengefassten Geburtenziffer nach der Wende ist vor allem auf die Erhöhung des Alters bei der Erstgeburt und weniger auf den Rückgang der endgültigen Kinderzahl zurückzuführen. Dieser Sachverhalt wird deutlicher, wenn unterschiedliche Geburtsjahrgänge (Kohorten) verglichen werden.

Familiengründung und Eheschließung im Kohortenvergleich

Die Möglichkeiten kohortenvergleichender Analysen des Geburtenverhaltens in Ostdeutschland waren bislang eingeschränkt, weil die amtliche Bevölkerungsstatistik keine ausreichenden Informationen über die Rangfolge einer Geburt enthält. Mit dem Mikrozensus 2000 des Statistischen Bundesamtes, der der Forschung im September 2003 zur Verfügung gestellt wurde, kann der Wandel im Geburtenverhalten nunmehr genauer untersucht werden. Durch so genannte "Überlebensfunktionen" kann der Wandel im Geburtenverhalten abgebildet werden. Die folgenden Überlebensfunktionen geben den Anteil der Personen wieder, die in einem bestimmten Lebensalter ein Ereignis (z.B. Geburt eines Kindes) noch nicht erfahren haben.

Abbildung 1 stellt die Überlebensfunktionen für den Geburtsjahrgang 1964 dar, der die Familiengründung von Frauen in Ost- und Westdeutschland vor 1990 demonstriert. Im Mittel wurden ostdeutsche Frauen des Jahrgangs 1964 mehr als fünf Jahre früher Mutter als westdeutsche Frauen. Die Hälfte der ostdeutschen Frauen hat ein erstes Kind bereits im Alter von 22 Jahren, die Hälfte der westdeutschen Frauen erst mit 28 Jahren geboren. Die 1968 geborenen Frauen hatten bis zum Alter von 22 Jahren fast genauso häufig ein erstes Kind wie die 1964 geborenen Frauen. Mit der Wende 1990 haben sie jedoch die Familiengründung auf ein höheres Alter verschoben. In der Folge ist der Kurvenverlauf für den Geburtsjahrgang 1968 deutlich flacher geworden. Viel später als die älteren Jahrgänge haben schließlich die Frauen des Jahrgangs 1972 ein erstes Kind bekommen. Im Vergleich zum Jahrgang 1964 ist das mittlere Alter bei der Erstgeburt um fünf Jahre gestiegen. Ostdeutsche Frauen haben also die Geburt ihres ersten Kindes nach der Wende deutlich aufgeschoben. Allerdings haben sie immer noch wesentlich früher ein erstes Kind bekommen als westdeutsche Frauen des Jahrgangs 1972. Im Alter von 27 Jahren waren noch 50 Prozent der Frauen im Osten und 62 Prozent der Frauen im Westen kinderlos. Im Unterschied zur Vorstellung eines "Geburtendefizits" haben also auch die Frauen der jüngeren Jahrgänge im Osten nicht seltener oder später, sondern früher als im Westen ein erstes Kind bekommen.

Abbildung 2 zeigt die Überlebensfunktion der Eheschließung für den Jahrgang 1972. Demnach haben Frauen in Ostdeutschland später geheiratet als in Westdeutschland. Im Westen war ein Viertel der Frauen bereits im Alter von 24, im Osten dagegen erst im Alter von 26 Jahren verheiratet.

Das unterschiedliche "Timing" von Erstgeburt und Eheschließung in Ost und West schlägt sich auch in einer unterschiedlichen Kopplung von Heirat und Familiengründung nieder. In den neuen Ländern (ohne Berlin-Ost) wurden im Jahr 2001 54 Prozent aller Kinder nichtehelich geboren. Dieser Wert ist auch im europäischen Vergleich hoch. In Westdeutschland lag der Anteil nichtehelich geborener Kinder dagegen lediglich bei 20 Prozent. Hinter nichtehelichen Geburten verbirgt sich ein komplexer Entscheidungsprozess von Paaren über Zusammenleben, Eheschließung und Familiengründung. Während in Westdeutschland das etablierte Muster der "kindorientierten Eheschließung" auch in den 1990er-Jahren dominierte, war der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen in Ostdeutschland deutlich gelockert. Dort war die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kind die dominante Familienform.

Ein weiterer Unterschied zwischen den neuen und alten Ländern betrifft die ökonomische Basis der Familie. Während im Westen weiterhin das männliche Versorgermodell eine große Rolle spielt, sind ostdeutsche Familien häufiger im Sinne eines Doppelverdiener-Modells organisiert. Die ausgeprägte Erwerbsorientierung von ostdeutschen Frauen und Müttern ist nicht allein ein kulturelles Erbe der DDR. Sie wird von strukturellen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland weiterhin gestützt, namentlich der institutionellen Kinderbetreuung - wenngleich diese gegenwärtig verstärkt unter Druck gerät.

Insgesamt haben sich die Prozesse der Familiengründung trotz einer Annäherung des Alters bei der ersten Mutterschaft in den vergangenen Jahren zwischen Ost und West nicht angeglichen. Heiratsverhalten, Familienformen und Erwerbsverhalten von Frauen mit Kindern unterscheiden sich immer noch deutlich. Die weitere Entwicklung familialer Verhaltensmuster in Ostdeutschland ist indes schwierig zu prognostizieren. Eine einseitige Anpassung des ostdeutschen an das westdeutsche Verhalten ist jedoch nicht anzunehmen. Insbesondere in Bezug auf die Müttererwerbstätigkeit und die Bedeutung "neuer Familienformen" sind auch in Westdeutschland Wandlungstendenzen zu beobachten. Ein Szenario könnte daher sein, dass sich Familienformen und Müttererwerbstätigkeit im Westen stärker an das ostdeutsche Modell angleichen werden, insbesondere wenn sich die starren Restriktionen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den alten Bundesländern lockern sollten.

Zukünftige Forschungsschwerpunkte des Arbeitsbereichs

Viele grundlegende Fragen zur Dynamik familialer Prozesse in Ost- und Westdeutschland können gegenwärtig nicht zufriedenstellend untersucht werden. Ein Grund dafür sind Beschränkungen in den verfügbaren Datengrundlagen. Ein Schwerpunkt der Forschung der Abteilung betrifft daher die Erhebung neuer, theoretisch innovativer Daten.

Das "Generations and Gender Program" (GGP) ist eine länderübergreifende, multidisziplinär angelegte Untersuchung zur Dynamik von Familienbeziehungen. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des GGP. Kern des Programms ist mit dem "Gender and Generation Survey" (GGS) eine repräsentative Befragung, die pro Land 10.000 Männer und Frauen umfasst und alle drei Jahre wiederholt wird. Mit dieser Erhebung wird erstmals ein vorausschauendes Befragungsdesign in der demografischen Individualdatenanalyse eingesetzt. Dieses erlaubt die zeitabhängige Erfassung von Information über Einkommen, Werte und Einstellungen und damit die Analyse individueller Handlungsziele sowie deren späterer Realisierung.

Ein weiteres innovatives Element des GGP ist die Entwicklung einer kontextuellen Datenbank mit Informationen über Arbeitsmärkte, gesetzliche Regelungen sowie politische und institutionelle Rahmenbedingungen. Das GGP wird der Forschung damit neue Perspektiven der Untersuchung des Wandels der Familiendynamik in Ost- und Westdeutschland und im internationalen Vergleich eröffnen.

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