Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme
Mikroskopische Topologie und Makroskopische Elastizität von Polymeren
Physik biologischer und weicher Materie (Dr. Ralf Everaers)
MPI für Physik komplexer Systeme, Dresden
Die Beziehung zwischen den komplexen viskoelastischen Eigenschaften von Polymeren und ihrer mikroskopischen Struktur und Dynamik ist ein wichtiges Problem der Materialwissenschaften und der Biophysik [1, 2]. Ein prototypisches Beispiel ist Kautschuk, eine hochviskose Flüssigkeit, die über einen breiten Frequenzbereich das gleiche elastische Verhalten zeigt wie Gummi. Der entsprechende (Plateau-)Schermodul ist etwa fünf Größenordnungen kleiner als für gewöhnliche Festkörper. Mikroskopisch betrachtet ist Kautschuk eine Schmelze linearer Kettenmoleküle mit Molekulargewichten von bis zu M = 106 g/mol und Konturlängen von bis zu L = 10 μm. Die räumlichen Konformationen individueller Polymere ähneln Zufallsknäuel. Dabei ist jede einzelne Kette vielfach mit anderen Ketten verschlauft. Die Länge der Ketten bestimmt den Frequenzbereich, über den sich der Plateaumodul beobachten lässt. Im Fall von Kautschuk steigt die Relaxationszeit von τd (M = 104 g/mol) ≈ 5 × 10-5 s auf τd (M = 106 g/mol) ≈ 5 s und stiege auf mehrere Jahre für Ketten mit einem Molekulargewicht von 108 g/mol, obwohl deren räumliche Ausdehnung nicht mehr als 1 μm betrüge.
Alle Schmelzen und Lösungen hinreichend langer, flexibler Polymere zeigen das gleiche, universelle Verhalten. Die modernen Theorien der Polymerdynamik basieren auf der Idee, dass die mikroskopische Brownsche Bewegung von der Einschränkung dominiert wird, dass Polymere zwar aneinander vorbei gleiten, sich aber nicht durchkreuzen können. Dies führt zu der Vorstellung, dass die Bewegung einzelner Polymere auf ein röhrenartiges Raumgebiet entlang eines „primitiven Pfades“ beschränkt ist, der der geglätteten Kettenkontur folgt. Phänomenologische Theorien für die Dynamik und Deformation der primitiven Pfade und Röhren können das in Experimenten und Computersimulationen beobachtete mikroskopische und makroskopische Verhalten zunehmend erfolgreich beschreiben. Die Abbildung 1 zeigt ein Bespiel unserer eigenen Arbeiten: das so genannte Doppelröhrenmodell für Polymernetzwerke [3] beschreibt die Deformationsabhängigkeit der räumlichen Lokalisierung von Vernetzungspunkten, die Längenskalenabhängigkeit der mikroskopischen Deformation der Netzwerkketten und die makroskopischen Spannungen [4].
![Statistische Theorien der Gummielastizität versuchen das makroskopische Spannungs-Dehnungsverhalten (d) durch den Entropieverlust der gestreckten Netzwerkketten (a) zu erklären. Die Längenskala auf der die mikroskopischen Deformationen die makroskopischen Dehnungen erreichen (c) hängt mit der räumlichen Lokalisierung der Vernetzungspunkte zusammen. Die Grafiken zeigen einen Vergleich von Simulationsdaten [4] mit dem Doppelröhrenmodell [3].](/853072/original-1294357462.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjg1MzA3Mn0%3D--648b49f70e9baa99be961c39dbf1601ebacf5094)
Weit weniger gut verstanden waren bis vor kurzem die mikroskopischen Grundlagen des Röhrenmodells. Die Einschränkungen für die Konformationen eines Polymers, die sich aus den Verhakungen mit anderen Ketten ergeben, sind topologischer Natur. Analytische und numerische Versuche Elemente der mathematischen Knotentheorie in die Statistische Polymerphysik zu integrieren haben bis jetzt nicht zu einer systematischen Herleitung des Röhrenmodells geführt. Als Alternative haben wir kürzlich ein numerisches Verfahren zur Bestimmung der primitiven Pfade vorgeschlagen, die die mikroskopische Topologie einer Polymerschmelze charakterisieren [5]. Ziel ist die direkte Bestimmung der Eigenschaften dieser zentralen Objekte der phänomenologischen Theorie. Abbildung 2 zeigt wie erwartet, dass primitive Pfade zwischen Verhakungspunkten gestreckt sind und auf großen Skalen Zufallsknäuel bilden.
Laut Theorie soll der Plateaumodul der Polymerschmelze durch das Produkt der thermischen Energie kBT mit der Dichte der Verhakungspunkte zwischen primitiven Pfaden gegeben sein. Der Vergleich mit dem Experiment (Abb. 3) erfordert lediglich die Identifikation der charakteristischen, mikroskopischen Längenskalen in verschiedenen Systemen. Als Längeneinheit bietet sich hier die Kuhn-Länge lK der Polymere an, d. h. die Schrittlänge der den Polymerkonformationen entsprechenden Zufallsknäuel. Neben der Einzelkettenstatistik hängt die Verhakungsdichte natürlich auch von der Dichte ρK der Kuhnsegmente ab. Verschiedene Polymersysteme lassen sich durch die dimensionslose Zahl ρK lK3 charakterisieren. Analog ergibt sich mit GNlK3/kBT aus den gemessenen bzw. berechneten Schermodulen in Kombination mit der thermischen Energie und der Kuhn-Länge eine für einen Vergleich geeignete dimensionslose Zahl.

Die gute Übereinstimmung etabliert die mikroskopischen Grundlagen des Röhrenmodells. Insbesondere zeigen die Resultate, dass es in Kombination mit der Primitiven-Pfad-Analyse möglich ist, den Plateaumodul aus einer topologischen Analyse der statischen Struktur der Schmelze vorherzusagen. Dies ist nicht nur physikalisch interessant, sondern eröffnet auch neue praktische Anwendungen bei der Behandlung der Viskoseelastizität von Polymeren als Multiskalenproblem: Mithilfe atomistischer Simulationen ist es mittlerweile möglich, für hinreichend lange Ketten equilibrierte Schmelzen zu generieren. Die Untersuchung der Dynamik auf der Sekundenskala steht dagegen völlig außer Frage. Dies ist auch nicht nötig, da sich mithilfe der Primitiven-Pfad-Analyse systematisch die Parameter des mesoskopischen Röhrenmodells bestimmen lassen. Der Zusammenhang mit den makroskopischen Eigenschaften wird wiederum durch die existierenden Theorien der Polymerdynamik hergestellt. Deren systematische Verbesserung durch den Vergleich mit der tatsächlichen Primitiven-Pfad-Dynamik in Computersimulationen generischer Polymerschmelzen ist Gegenstand unserer aktuellen Forschung.
![Dimensionslose Plateau-Schermodule G lK3/kBT als Funktion der dimensionslosen Dichte von Kuhn-Segmenten ρK lK3. Die Figur enthält (i) experimentell gemessene Plateaumodule für Polymerschmelzen (+, Farben markieren verschiedene Substanzklassen) und -lösungen (x), (ii) aus Molekulardynamiksimulationen von deformierten Modellpolymerschmelzen bestimmte Plateaumodule (□) und (iii) Vorhersagen des Röhrenmodells basierend auf den Ergebnissen der Primitiven-Pfad-Analyse für Modellpolymerschmelzen (■) und -lösungen (•). Für Details siehe [5].](/853184/original-1294357372.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjg1MzE4NH0%3D--040d0325079a99969935deb444c38a8da634c748)