Reimar Lüst
Präsident der Max-Planck-Gesellschaft 1972 - 1984
Reimar Lüst - Vom U-Boot-Ingenieur zum Uni-Mitbegründer
Ein Porträt von Michael Globig
Dass jemand zwei Geburtstage angibt, ist sicher nicht die Regel, doch der Physiker und Wissenschaftsmanager Professor Dr. Reimar Lüst tut es. Sein erster ist der echte: Am 25. März 1923 wurde er in Barmen (heute zu Wuppertal gehörend) geboren. Den anderen erwähnt er in dem Buch "Der Wissenschaftsmacher" (C.H. Beck Verlag), das die Gespräche wiedergibt, die der Historiker Paul Nolte vor zwei Jahren mit Lüst führte: Es ist der 11. Mai 1943. An diesem Tag kam der damalige Ingenieuroffizier als Letzter aus einem U-Boot heraus, das durch Wasserbomben und Artilleriebeschuss stark beschädigt worden war und versenkt werden sollte, damit es dem Feind nicht in die Hände fiel. Lüst schwamm zu der englischen Fregatte, die das Boot attackiert hatte, und wurde dort an Bord gehievt – als einer von 45 geretteten U-Boot-Männern (elf kamen ums Leben). Das Datum sieht er deshalb als seinen zweiten Geburtstag an.
Der Tag sollte aber noch aus anderen Gründen für den studierten Maschinenbauer Lüst bedeutungsvoll werden: Er kam in britische Gefangenschaft und wurde später den Amerikanern übergeben. Sie steckten ihn in ein Lager, dessen Insassen – ausschließlich Offiziere – eine eigene Universität eingerichtet hatten. Hier konnten die Gefangenen Vorlesungen hören, die von ihren – oft hoch spezialisierten – Mitgefangenen gehalten wurden. Es war sogar möglich, Prüfungen abzulegen und sie sich testieren zu lassen. Lüst nahm dieses Angebot wahr und studierte vier Semester theoretische Physik und Mathematik. Am 25. März 1946, seinem 23. Geburtstag, wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Sein im Lager begonnenes Studium setzte er an der Universität Frankfurt fort. Da man ihm hier zwei Semester aus dem Lager anerkannte, konnte er bereits Anfang 1949 die Diplomprüfung ablegen.
Promoviert wurde er im Mai 1951 in Göttingen bei Carl Friedrich von Weizsäcker, der ihm ein theoretisches astrophysikalisches Problem als Thema für die Doktorarbeit gegeben hatte. Nach der Promotion trat er eine Stelle am Max-Planck-Institut für Physik an, die er unterbrach, als er 1955/56 ein einjähriges Fulbright-Stipendium für Amerika erhielt und 1959 eine Gastprofessur für Mathematik in New York. 1960 habilitierte er sich schließlich für das Fach Physik an der Universität München. Lüst wurde wissenschaftliches Mitglied am inzwischen von Göttingen nach München übergesiedelten Max Planck-Institut für Physik und Astrophysik, dem 1963 eine eigene Abteilung extraterrestrische Physik angegliedert wurde, deren Leitung er übernahm.
Ein künstlicher Kometenschweif
Dazu gab es natürlich eine Vorgeschichte: Ludwig Biermann, ein Kollege Lüsts schon aus Göttinger Zeiten, hatte Anfang der 50er-Jahre herausgefunden, dass Kometen einen Schweif haben, der aus ionisierten Teilchen besteht, die von der solaren Korpuskularstrahlung (dem Sonnenwind) beeinflusst und abgelenkt werden. Lüst diskutierte mit ihm, wie man einen künstlichen Kometenschweif erzeugen und damit diese Theorie überprüfen könnte. Als Ausgangsprodukt für den Kunstschweif erwies sich eine Mischung aus Barium und Kupferoxid als besonders geeignet: Brachte man sie zur chemischen Reaktion, so verdampfte die Mischung und es entstand eine Wolke aus ionisierten Bariumatomen.
Vom Beginn der 60er-Jahre an wurden im Institut entwickelte Bariumbehälter mit Hilfe französischer Raketen in große Höhen geschossen, um hier künstliche Kometenschweife zu produzieren. Sie machten den Sonnenwind sichtbar und traten bei späteren Experimenten des Instituts auch mit dem Erdmagnetfeld in Wechselwirkung. Von der Erde aus waren sie als längliche farbige Wolken zu beobachten, die sich längs der Linien des Erdmagnetfeldes ausrichteten. Das waren die erfolgreichen Anfänge einer deutschen Weltraumforschung. Sie führten dazu, dass Lüst die oben erwähnte Abteilung – sein 'Institütchen', wie es genannt wurde –, erhielt, aus der später das MPI für extraterrestrische Physik hervorging.
Soviel zum Wissenschaftler Lüst. Noch viel facettenreicher ist das Leben des Wissenschaftsmanagers. Es begann 1961, als eine Planungskommission zur Gründung einer europäischen Organisation für Weltraumforschung (ESRO) einberufen wurde, die Lüst beauftragte, in Paris die gesamte Koordinierung des Wissenschaftsprogramms zu übernehmen. Lüsts Politik bestand darin, der ESRO nur die Aufgabe zu übertragen, die technischen Mittel (Raketen, Satelliten, Nutzlasten) bereitzustellen. Die in den Satelliten eingesetzten Experimente hingegen sollten von den nationalen Instituten gebaut und betreut werden. 1964 zog löste sich Lüst allmählich von der ESRO, um sich ganz dem Aufbau seines Instituts widmen zu können. Doch 1969 wurde er in die Wissenschaftspolitik zurückgeholt: Der Wissenschaftsrat, der sich damals vor allem mit dem Ausbau und der Neugründung von Hochschulen befasste, wählte ihn zum Vorsitzenden – eine Funktion, die er bis 1972 innehatte.
"Die Nr.1 der Gelehrtenrepublik"
In jenem Jahr kam dann eine neue Herausforderung auf ihn zu: Die Amtszeit von Adolf Butenandt, dem damaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), ging nach zwölf Jahren zu Ende und es musste ein neuer Präsident gewählt werden. Bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolgekandidaten war der Senat der MPG Ende 1971 auf Reimar Lüst gestoßen, der sich längst einen Namen als ausgleichender Koordinator und guter Organisator gemacht hatte. Nach einem intensiven Gespräch mit Werner Heisenberg war Lüst bereit, sich für das Amt zur Verfügung zu stellen. Am 19. November 1971 wurde er vom Senat der Gesellschaft zum neuen Präsidenten gewählt. Sein Amt, das auch er zwölf Jahre lang innehaben sollte, trat er am 20. Juni 1972 auf der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in Bremen an. Er war jetzt, wie eine Zeitung schrieb, "Die Nr.1 der Gelehrtenrepublik".
Die Max-Planck-Gesellschaft befand sich damals in Aufruhr. Eine Strukturkommission, die für Satzungsänderungen einberufen worden war, vertrat den Standpunkt, dass die Mitarbeiter der Institute nicht nur in den Senat gehörten, sondern von jedem Institut auch ein Mitarbeiter in der jeweiligen Sektion – der chemisch-physikalisch-technischen, der biologisch-medizinischen oder der geisteswissenschaftlichen – vertreten sein sollte. Die Biologen lehnten das vehement ab, bei den Geisteswissenschaftlern war man offener und die Physiker fanden die Idee vernünftig. Als Kompromiss schlug Lüst vor, die Mitarbeiter in den Sektionen mitwirken zu lassen, ihnen aber bei Berufungsfragen kein Stimmrecht zu gewähren.
Unter Lüsts Präsidentschaft wurde der Senatsplanungsausschuss eingerichtet – ein Gremium, das über die Schließung bestehender und die Gründung neuer Institute befinden konnte. Zu den Instituten, die damals gegründet wurden, gehörten zum Beispiel das Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn und das MPI für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen. Geschlossen hingegen wurde neben andern Instituten das Ende der sechziger Jahre auf Betreiben von Carl Friedrich von Weizsäcker in Starnberg gegründete Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, für dessen Weiterführung sich Anfang der 80er-Jahre, nach Weizsäckers Emeritierung, kein geeigneter Nachfolger fand. Es war für Lüst besonders schmerzlich, diesem Institut seines ehemaligen Doktorvaters den Schließungsbeschluss mitteilen zu müssen.
"Ein bisschen Wehmut, aus diesem schönen Amt ausscheiden zu müssen"
1984 endet die zweite Amtszeit Lüsts als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Er verspürte damals "ein bisschen Wehmut, aus diesem schönen Amt ausscheiden zu müssen". Aber eine neue Aufgabe wartete bereits auf ihn: Er wurde für sechs Jahre Generaldirektor der ESA (European Space Agency) in Paris – einer der vielen Posten, die er erhielt, ohne sich je darum beworben zu haben. Damals befand sich die europäische Raumfahrt im Aufwind: Die Ariane III-Rakete wurde erfolgreich gestartet, das Spacelab in die Umlaufbahn gebracht und Ulf Merbold der erste Astronaut in diesem Weltraumlabor. Außerdem gelang es 1985, sich mit der – allerdings lange vor Lüsts Amtantritt geplanten – europäischen Raumsonde Giotto bis auf 600 Kilometer dem Kometen Halley zu nähern und dort Fotos vom Kometenkern zu machen. In Lüsts Amtszeit fiel unter anderem die Ministerkonferenz in Den Haag, auf der die Entscheidung fiel, dass sich Europa mit einem eigenen Beitrag an der Internationalen Raumstation beteiligen werde.
Als 1990 Lüst seine Tätigkeit bei der ESA beendete, hatte er längst eine neue Aufgabe gefunden. Er war 1989 zum Präsidenten der Alexander von Humboldt-Stiftung berufen worden, einer der wichtigsten deutschen Institutionen zur Förderung höchstqualifizierter promovierter ausländischer Wissenschaftler im Alter unter 40. Dieses Amt hatte er zehn Jahre inne. Dann wartete – wen wundert es – bereits eine neue Herausforderung auf ihn: In Bremen galt es, eine private Universität, die 'International University Bremen' (IUB, heute: Jacobs-University) zu gründen. Lüst, der sich schon als Vorsitzender des Wissenschaftsrates für eine Reform der deutschen Universitäten eingesetzt hatte, war von Vertretern der Hansestadt gefragt worden, ob er bereit sei, an der Planung der IUB mitzuarbeiten. Er machte seine Zustimmung von der Erfüllung mehrerer Bedingungen abhängig. So müssten Senat und Bürgerschaft voll hinter dem Projekt stehen, die IUB eine vollwertige Universität werden mit einem Fächerangebot in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften und sollte über ein Board verfügen, das den Präsidenten wählt. Weitere Bedingungen waren, Aufnahmeprüfungen und Vorlesungen in englischer Sprache sowie Studiengebühren. Als ihm die Erfüllung dieser Punkte zugesagt wurde, war er bereit, sich an der Planung zu beteiligen.
Im Februar 1999 wurde die IUB schließlich offiziell gegründet. Das Amt des Präsidenten übernahm Fritz Schaumann, vordem Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, und Lüst wurde zum "Chairman of the Board of Governors" gewählt, dessen Ehrenvorsitzender er heute ist. Die IUB erhielt auf Anraten Lüsts zwei Fakultäten: Die "School of Engineering an Science" und die "School of Humanities and Social Sciences". Im September 2001 erfolgte die Eröffnung der IUB und im Oktober 2003 kam als dritte Säule das "Jacobs Center for Lifelong Learning" hinzu.