Ein Farb-Porträt von Martin Stratmann, der von 2014 bis Juni 2023 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft war

Martin Stratmann

Präsident der Max-Planck-Gesellschaft 2014 bis 2023

„Es hat wohl noch nie ein in den Angelegenheiten der Max-Planck-Gesellschaft so erfahrener Wissenschaftler das Amt angetreten“, attestierte Peter Gruss seinem Nachfolger Martin Stratmann bei der Amtsübergabe 2014. Seit 2008 war Stratmann bereits als Vizepräsident und zuvor zwei Jahre als Sektionsvorsitzender für die MPG tätig. Wesentliche Reformen, die die ersten Jahre seiner Amtszeit prägen sollten, hatte er da schon vorgezeichnet.

Seine wissenschaftliche Laufbahn führte ihn schon früh zu Max-Planck: Nach dem Studium der Chemie an der gerade neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum forschte der junge Chemiker ab 1982 für seine Dissertation bei Hans-Jürgen Engell am MPI für Eisenforschung in Düsseldorf, ein besonderes Max-Planck-Institut, wurde es doch als GmbH sowohl von der MPG als auch von der Stahlindustrie finanziert. Diese Zeit war für seine wissenschaftliche Entwicklung außerordentlich prägend, wie Stratmann später immer wieder betonte. Aber auch für seine Präsidentschaft, in der die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eine zentrale Rolle spielen sollte.

Sein Doktorvater gestattete ihm, sein Forschungsthema vollkommen selbstständig auszuwählen, zu bearbeiten und weitgehend selbstständig zu publizieren. Es wurde, ganz banal, Rost – oder um es wissenschaftlicher zu formulieren: die atmosphärische Korrosion von Eisen, ein Prozess, der zur damaligen Zeit weitgehend unverstanden war, obwohl technologisch so bedeutend. Durch unkonventionelle Experimentiertechniken gelang es Stratmann, die Elementarreaktionen von Metallauflösung und Sauerstoffreduktion auch während eines nass-trocken-nass Zyklus zu bestimmen und damit die bei der atmosphärischen Korrosion ablaufenden Festkörperreaktionen inklusive ihres Einflusses auf Elektronen-Transferreaktionen aufzuklären.

Für die Dissertation wurde der junge Wissenschaftler mit der Otto-Hahn-Medaille der MPG ausgezeichnet. Das damit verbundene Stipendium ermöglichte ihm einen einjährigen Forschungsaufenthalt in den USA an der Case Western Reserve University bei Ernest B. Yeager, einem der führenden Elektrochemiker der damaligen Zeit. Zurück am MPI für Eisenforschung baute Stratmann erfolgreich eine unabhängige Arbeitsgruppe auf dem Gebiet der Korrosionsforschung auf. Mit der sogenannten Rasterkelvinsonde, die es erlaubt, elektrochemische Potentialverteilungen berührungslos zu messen, gelang ihm 1986 ein Durchbruch. Damit war es nun auch erstmalig möglich, detaillierte elektrochemische Untersuchungen an verborgenen Metall-Polymer-Grenzflächen durchzuführen, was zu einem tiefen Verständnis von Enthaftungsprozessen, z.B. von Lacken oder Klebstoffen auf metallischen Substraten sowie später zur Entwicklung selbstheilender Beschichtungen führte.

1994 erhielt Martin Stratmann einen Ruf an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg auf den Lehrstuhl für Korrosion und Oberflächentechnik. 1998 erfolgte ein Ruf zum Direktor an das MPI für Eisenforschung, den er wegen der komplexen Struktur des Institutes nach längeren Verhandlungen schließlich zwei Jahre später annahm. Bereits 2006 übernahm Martin Stratmann das Amt des Sektionsvorsitzenden der Chemisch-Physikalisch-Technischen Sektion. Acht Jahre später wurde er schließlich Präsident der Max-Planck-Gesellschaft.

Dieser scheinbar unscheinbare Präsident sei das Beste, was der Max-Planck-Gesellschaft in diesen unruhigen Zeiten habe passieren können, schrieb der Journalist Jan-Martin Wiarda in einem Blogbeitrag 2019, als Martin Stratmann über eine zweite Amtszeit nachdachte, und er verwies auf die Flüchtlingsströme (2015), die Wahl Donald Trumps (2016) und den sich abzeichnenden Brexit. Tatsächlich kam es noch schlimmer: Die erste Pandemie seit 100 Jahren (SARS-CoV-2) lähmte 2020 und 2021 die ganze Welt – und auch den Wissenschaftsbetrieb. Reisen zu wissenschaftlichen Konferenzen fanden nicht mehr statt, Gremiensitzungen konnten nicht mehr in Präsenz durchgeführt werden, ausländische Forscher einschließlich Promovierende und PostDocs konnten nur mit erheblichen Einschränkungen nach Deutschland ein- bzw. ausreisen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihre Stellen im Ausland nicht antreten konnten, versuchte die MPG mit befristeten Anschlussverträgen zu unterstützen, Promovierende, die im Ausland festhingen, mit Stipendien. Der Präsenzbetrieb an den MPI wurde, wo möglich, ins Homeoffice verlagert – es musste viel improvisiert werden.

Und kaum war die Pandemie vorbei, erzwang der russische Angriffskrieg auf die Ukraine den Abbruch fast aller wissenschaftlichen Kooperationen zwischen der MPG und Russland. Davon betroffen waren insbesondere jene Projekte, die von russischen Weltraumstationen oder Satelliten Gebrauch machten. Als Folge der mit dem Ukraine-Krieg verbundenen Sanktionsmaßnahmen kam es zu Energieengpässen; die stark erhöhten Energiepreise wurden durch staatliche Hilfsmaßnahmen teilweise ausgeglichen. Es verblieb aber eine deutlich erhöhte Inflationsrate, die einen realen Budgetverlust der MPG nach sich zog. Und der Krieg vertrieb erneut Millionen von Menschen. Unter der Leitung von Martin Stratmann schnürte die MPG ein Hilfspaket mit Fellowships für geflüchtete ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und startete mithilfe der Max-Planck-Förderstiftung ein Programm für jene, die in der Ukraine weiterforschen wollten.

Trotz dieses andauernden Krisenmanagements mangelte es nicht an wissenschaftlichen Impulsen. Stratmann war der tiefen Überzeugung, dass der Glücksfall der inhaltlichen Erneuerung der MPG während der Osterweiterung in den 1990er Jahren unter Hans Zacher die MPG nur dann dauerhaft prägen könne, wenn es ihr gelänge, in weniger expansiven Zeiten konsequent Bestehendes auf Kosten des Neuen in Frage zu stellen. Und so konzentrierte er sich auf Forschungsgebiete von zunehmender Relevanz, die zu Beginn seiner Amtszeit in der MPG noch unterrepräsentiert waren. Dies waren im Wesentlichen die Computer Sciences, Quantum Information Sciences und die Umweltwissenschaften.

Es ging darum, neue thematische Schwerpunkte zu setzen, die Vernetzung innerhalb der MPG zu stärken und auch das universitäre Umfeld in die Planungen der MPG tiefer einzubinden. Als Sektionsvorsitzender hatte Stratmann die Umwidmung des MPI für Metallforschung in Stuttgart mit auf den Weg gebracht. Um das daraus entstandene MPI für Intelligente Systeme wurde nun systematisch und gemeinsam mit universitären und außeruniversitären Partnern das „Cyber-Valley“ als Innovationscampus aufgebaut. Die europaweite Vernetzung der Forschung auf dem Gebiet des maschinellen Lernens im Rahmen der ELLIS Initiative wurde auf den Weg gebracht – das erste ELLIS Institut entstand in Tübingen mit erheblicher privater Unterstützung durch die Hector Stiftung – und schließlich folgte die Gründung des MPI für Sicherheit und Privatsphäre in Bochum.

Im Bereich der Quantum Information Sciences wurde unter erheblicher Mitwirkung von Martin Stratmann ein nationales Programm zur Förderung von Quantencomputern gestartet, dessen Schwerpunkt innerhalb der MPG das Munich Quantum Valley ist. Im Bereich der Umweltwissenschaften entstanden in Konstanz das MPI für Verhaltensbiologie und in Jena das MPI für Geoanthropologie als ein gemeinsames Institut mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus allen drei Sektionen.

Die institutionelle Weiterentwicklung der MPG trieb Stratmann mit dem MPG 2030 Reformprogramm voran. Das Ziel: die Entwicklung leistungsfähiger Campus-Strukturen insbesondere im Forschungsfeld der Life Sciences, die für ihren Forschungsbetrieb auf Plattformtechnologien angewiesen sind. Dies führte zur Fusion zweier MPI in Göttingen unter Bildung eines neuen MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften und zur inhaltlichen Neugestaltung des Forschungsstandortes Martinsried mit der Fusion von zwei MPI zu einem neuen MPI für Biologische Intelligenz.

Im Zentrum seiner Bemühungen stand jedoch mit Amtsbeginn der wissenschaftliche Nachwuchs. Stratmann gelang die Max-Planck-weite Umstellung von Stipendien auf Verträge, was die MPG immerhin 50 Mio. Euro kostete, die Verabschiedung von neuen Regelwerken zur Förderung von Doktoranden(innen) und PostDocs, die Stärkung von PhDnet und PostDocnet sowie die Ausarbeitung von Karrierepfaden im Sinne eines internen tenure track. Mit dem Lise Meitner-Exzellenzprogramm entwickelte die MPG in seiner Amtszeit das erste Programm überhaupt, das tenure track als zentrales Förderelement beinhaltete. Auch dem Technologietransfer gab Martin Stratmann mit einer stärkeren Fokussierung auf Ausgründungen und der Unterstützung einer entsprechenden Startup-Kultur an den MPI durch Boot-Camps und andere Workshop-Formate neue Impulse.

Ein prägendes Element der institutionellen Weiterentwicklung in seiner Amtszeit war schließlich das Thema Governance und Compliance. Der angemessene Umgang mit Führungsfehlverhalten und Machtmissbrauch auf Leitungsebene, die Einführung eines professionellen Beschwerdesystems für Mitarbeitende der MPG sowie einer zentralen Stabstelle in der Revision der Generalverwaltung zur Untersuchung der Vorwürfe waren dabei zentrale Elemente. Zum Ende seiner Amtszeit wurden alle Verfahrensschritte in einer Satzungsreform erweitert und gebündelt, so dass nun ein ausführliches Regelwerk nicht nur zur Berufung, sondern auch zur Abberufung des Leitungspersonals vorliegt.

Wie kaum ein MPG-Präsident vorher, habe er seinen Job so begriffen, dass er über Max-Planck hinausgehe, schrieb Jan-Martin Wiarda. Martin Stratmann habe die Zeichen dieser unruhigen Zeit erkannt und seine Verantwortung für die Wissenschaft und Gesellschaft als Ganzes gesehen. Er selbst gab den Anstoß für die bundesweite Kampagne "Freiheit ist unser System", mit der die zehn Allianz-Wissenschaftsorganisationen 70 Jahre Grundgesetz und 70 Jahre Wissenschaftsfreiheit feierten: "Wir sollten wachsam sein, um einer schleichenden Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit in Europa rechtzeitig entgegenzutreten", betonte Stratmann im April 2017 beim Münchner March for Science. "Denn die Wissenschaft ist nur so frei, wie es die Gesellschaft ist."

Aber auch auf anderer Ebene suchte er den Schulterschluss. Im Knüpfen von Netzwerken sah Stratmann die Möglichkeit, aus vielen Einzelteilen ein neues Ganzes zu bilden. Die Max Planck Schools waren dafür ein Beispiel. Ihr Ziel es ist, die verteilte Exzellenz in Deutschland in zukunftsträchtigen interdisziplinären Forschungsgebieten zu bündeln und so ihre Sichtbarkeit zu erhöhen – insbesondere auch für hochtalentierte Studierende aus dem Ausland. Es ist ein Schulterschluss mit den Universitäten und den anderen außeruniversitären Forschungseinrichtungen.

Oder Dioscuri: Mit der Förderung von Exzellenzzentren in Ost- und Mitteleuropa (zur Amtszeit beschränkt auf Polen und die Tschechische Republik) wollte Stratmann dem Exzellenzgefälle in Europa etwas entgegensetzen. „Wir haben eine Verantwortung, den EU-13-Ländern zur Seite zu stehen und sie bei der Entfaltung ihres Potenzials zu unterstützen“, schrieb er in einem Namensbeitrag für die ZEIT. Denn wenn Europa sich im globalen Wettbewerb mit gut integrierten Forschungsräumen wie USA und China behaupten wolle, müsse es seine Anziehungskraft für Wissenschaftstalente erhöhen und das Verhältnis von „brain drain“ und „brain gain“ zu seinen Gunsten nachhaltig verändern.

Stratmann war aber auch überzeugt, dass die MPG auf der Suche nach neuen Partnern über die Grenzen Europas hinausschauen müsse. Und so initiierte er am Ende seiner Amtszeit zusammen mit der Alexander von Humboldt-Stiftung ein auf Afrika ausgerichtetes Programm, das die Unterstützung junger afrikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorsieht, sowohl finanziell als auch über den Austausch mit inhaltlich verwandten MPI.

In seiner Amtszeit war es Martin Stratmann vergönnt sechs Max-Planck-Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger zu ihrer Auszeichnung zu beglückwünschen: Stefan Hell (Nobelpreis für Chemie 2014), Emmanuelle Charpentier (Nobelpreis für Chemie 2020), Reinhard Genzel (Nobelpreis für Physik 2020), Benjamin List (Nobelpreis für Chemie 2021), Klaus Hasselmann (Nobelpreis für Physik 2021) und Svante Pääbo (Nobelpreis für Medizin 2022). Mit Blick auf die globalen Wettbewerber mahnte er in seiner Abschiedsrede: „Wir müssen uns mehr denn je auf Exzellenz konzentrieren. Und: „Wir müssen den Top-Talenten schon etwas bieten: In unserer Gesellschaft und im Wissenschaftssystem.“


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