Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung
Demografischer Wandel, individueller Lebensverlauf und das Verhältnis zwischen den Generationen
Demografischer Wandel und ökonomische Unabhängigkeit im Lebensverlauf
Im vergangenen Jahrhundert stieg in den westlichen Ländern die Lebenserwartung deutlich an; zugleich fiel die Geburtenrate unter das Reproduktionsniveau. Längere Ausbildungszeiten und zahlreiche Frühverrentungsmöglichkeiten begleiteten die einsetzende Alterung der Bevölkerung. Im individuellen Lebensverlauf dehnten sich die Phasen der ökonomischen Abhängigkeit aus: Kinder, junge Erwachsene und Ältere schaffen es oft nicht, ihren Konsum allein durch ihr Arbeitseinkommen zu finanzieren. Sie benötigen private oder öffentliche Transfers oder greifen auf Erspartes zurück. Vor diesem Hintergrund wird in westlichen Wohlfahrtsstaaten debattiert, inwiefern umlage- und steuerfinanzierte Sicherungssysteme mit ihrem hohen Anteil öffentlicher Transfers zu Jung und Alt den veränderten demografischen Rahmenbedingungen noch Rechnung tragen können.
In welcher Lebensphase sind Individuen ökonomisch unabhängig? Die Analyse zeigt, dass eine in Deutschland lebende Person im Durchschnitt etwa vom 27. bis 57. Lebensjahr einen Überschuss von ihrem Arbeitseinkommen erwirtschaftet und somit nicht von vorangehenden oder nachfolgenden Generationen, staatlichen Transfers oder Erspartem abhängig ist, um ihren Konsum zu finanzieren (Abb. 1). Im Vergleich zur durchschnittlichen Lebenserwartung, die heute bei rund 80 Jahren liegt, entspricht dies einem Anteil von etwa 40 Prozent der Lebensspanne. Die individuelle Lebensphase, in der ein Überschuss produziert wird, hat sich in der Vergangenheit – im Gegensatz zur Lebenserwartung – eher verkürzt als verlängert. Die Phasen, in denen ein Überschuss erwirtschaftet wird, sind im internationalen Vergleich in Deutschland kurz, was besonders auf lange Ausbildungszeiten und Frühverrentungen zurückzuführen ist. Zusätzlich liegt die Abhängigkeit der Älteren von öffentlichen Transferzahlungen deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Etwa 70 Prozent des Konsums von Rentnern werden hierzulande durch öffentliche Transfers finanziert.
Sind die Herausforderungen in Ost- und Westdeutschland gleich?
Bleiben die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unverändert, ist sicher, dass immer weniger Menschen im mittleren Lebensalter die Ausgaben für eine steigende Zahl Älterer zu finanzieren haben werden. Welche Konsequenzen hätte dies für die zukünftigen Haushalte von Bund, Ländern, Gemeinden und der sozialen Sicherungssysteme? Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die empirisch gewonnenen National Transfer Accounts, die Auskunft über den individuellen Lebensverlauf geben, in einer Modellrechnung verwendet, um so verschiedene Szenarien bis zum Jahr 2050 zu prognostizieren.
Ein wichtiges Ergebnis ist, dass nicht alle Gebietskörperschaften in gleichem Maße vom demografischen Wandel betroffen wären. Länder und Kommunen könnten aufgrund ihrer Kostenstrukturen durchaus mit Minderausgaben in der Zukunft rechnen. Dies liegt vor allem daran, dass Länder und Kommunen vorrangig Bildungsausgaben und soziale Sicherung (Wohngeld, Sozialhilfe) finanzieren. Diese Ausgaben könnten für zukünftige kleinere Kohorten sinken. Im Gegensatz dazu tragen der Bund und einige Zweige der Sozialversicherung die mit der Alterung der Bevölkerung verbundenen Kosten. Hier stehen öffentliche Rentenzahlungen und in zunehmendem Maße Gesundheits- und Pflegekosten im Vordergrund.
Regionale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland im Lebensverlauf sind in allen Altersgruppen festzustellen. Die Inanspruchnahme öffentlicher Transfers pro Kopf im jungen und mittleren Alter ist im Osten nicht signifikant höher als im Westen. Jedoch fallen die im Osten gezahlten Steuern und Abgaben deutlich geringer aus. Auch die private Kapitaldecke, auf die ostdeutsche Rentner zurückgreifen können, ist nur halb so stark wie die westdeutscher Rentner. Dennoch zeigt ein Vergleich zwischen 1993 und 2003 einen Konvergenzprozess. Für das Jahr 2003 kann gezeigt werden, dass die öffentlichen Transfers pro Kopf für ältere Individuen im Osten höher ausfallen (Abb. 2). Dies ist auf die Rentenzahlungen pro Kopf aufgrund der höheren Frauenerwerbsquote zurückzuführen. Dieses Bild wird sich in den nächsten Jahren deutlich wandeln, da die Brüche in den Erwerbsbiografien in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung für Männer und Frauen deutlich geringere Rentenansprüche nach sich ziehen werden [1]. Gleichzeitig ist das Gesamteinkommen eines Westrentners auch heute schon deutlich höher, da sein Vermögenseinkommen das eines Ostrentners um ein Vielfaches übersteigt. Für Rentner in beiden Regionen gilt, dass sie private Transfers an die nachfolgenden Generationen leisten: Es findet also in Ost und West eine Umverteilung von Alt zu Jung statt.
Ein weiteres interessantes Ergebnis der Studie ist, dass die als direkt gekennzeichneten Transfers, wie etwa der Solidaritätszuschlag, um ein Vielfaches kleiner sind als die indirekten Transfers in den Osten, wie etwa Gesundheitsleistungen und Rentenzahlungen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu erwähnen, dass die Transfers in den Osten im Szenario ohne Migration erheblich geringer ausfallen würden, da es dann keine selektive Abwanderung junger qualifizierter Arbeitnehmer aus dem Osten in den Westen gegeben hätte.
Entwicklung der Kosten für Renten und Gesundheitsversorgung
Die Erwartung eines zukünftig sinkenden Rentenniveaus [1] wirft die Frage auf, ob und wie diese Entwicklung abgewendet oder zumindest abgeschwächt werden kann. Dabei spielt die Erhöhung des Renteneintrittsalters eine wichtige Rolle. Die von den Forschern entwickelten Szenarien zeigen, dass eine Erhöhung des Renteneintrittsalters zwar eine Stabilisierung des Rentenniveaus sowie eine kurzfristige Verringerung des Beitragssatzes zur Folge haben würde. Eine längere Lebensarbeitszeit führt aber zugleich zu höheren Rentenanwartschaften und dadurch langfristig nicht zu sinkenden Sozialversicherungsbeiträgen.
Befunde deuten ferner darauf hin, dass Ältere gesünder altern. Das heißt, dass die gewonnene Lebenserwartung auch in Zukunft überwiegend in Gesundheit und nicht in Krankheit und Pflegebedürftigkeit verbracht werden wird [2]. Auch gibt es Belege dafür, dass sich in der Regel die Ausgaben für gesundheitliche Versorgung im letzten Jahr vor dem Tod konzentrieren [3]. Werden diese Erkenntnisse berücksichtigt, könnte der in vielen Studien geschätzte Anstieg der hierfür relevanten Beitragssätze auf über 20 Prozent etwas geringer ausfallen. Forscher am Max-Planck-Institut für demografische Forschung schätzen diese entlastenden Effekte für beispielsweise die Krankenversicherung auf etwa drei Prozentpunkte. Dennoch darf dies nicht als grundsätzliche Entwarnung missverstanden werden: Die Kranken- und Pflegeversicherung steht gleichwohl aufgrund der starken Alterung der Bevölkerung vor massiven finanziellen Herausforderungen.
Es wird deutlich, wie tief greifend demografische Prozesse auf unsere Gesellschaft Einfluss nehmen. Dies wird sich zukünftig noch verstärken, wenn die geburtenstarke Babyboomer-Generation das Rentenalter erreicht. In Zeiten langen und gesunden Lebens und eines wachsenden Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung sind neue Strategien zu erarbeiten, unsere Lebensspanne anders und sinnvoller als bisher zu füllen. Wichtige Ansätze sind die Umverteilung von Arbeit und die Förderung von Bildung über alle Lebensphasen und Bevölkerungsgruppen hinweg [4]. Die vielleicht wichtigste Botschaft ist, dass der demografische Wandel sehr unterschiedlich wirkt. Die einzelnen Gebietskörperschaften, Zweige der Sozialversicherung und Individuen werden je nach Region oder Alter unterschiedlich betroffen sein. Es gilt, den demografischen Wandel differenziert zu betrachten.
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