Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Kooperation bei Kleinkindern

Autoren
Tomasello, Michael; Hamann, Katharina
Abteilungen
Abteilung für Vergleichende und Entwicklungspsychologie (Tomasello)
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Zusammenfassung
Eine der bemerkenswertesten menschlichen Fähigkeiten ist es, gemeinsam an Problemen oder Aufgaben zu arbeiten, die allein nicht zu bewältigen wären. Studien zur frühen Entstehung dieser kooperativen Fähigkeiten bei Kleinkindern zeigen, dass diese bereits über ein arttypisches Können und Wollen der geteilten Intentionalität verfügen. Sie umfasst die Fähigkeit, Ziele und Aufmerksamkeit gemeinsam mit anderen zu entwickeln und die gemeinschaftliche Motivation, anderen zu helfen und mit ihnen zu teilen.

Ursprung kindlicher Kooperation

Von Geburt an sind Menschen soziale Wesen. Mit sechs Wochen beginnen sie, mit einem Lächeln sozial zu agieren. Im Alter von sechs Monaten nehmen sie mit Erwachsenen zweiseitige (dyadische) Interaktionen auf, in denen sie Emotionen mittels Lächeln, Berührung, Blick und Stimme austauschen. Zwischen neun und zwölf Monaten interagieren Säuglinge schließlich nicht mehr nur mit einer Person oder einem Gegenstand, sondern verbinden diese in einer dreiseitigen (triadischen) Interaktion. Diese frühen triadischen Interaktionen bilden den Ausgangspunkt für tatsächliche Kooperation. Diese wird von den Wissenschaftlern der Abteilung für Vergleichende und Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie so definiert: Neben dem gegenseitigen Eingehen aufeinander (1) sind die Beteiligten durch ein gemeinsames Ziel verbunden, und (2) die Akteure stimmen ihre Rollen miteinander ab, wozu auch die Unterstützung des Anderen in seiner Rolle gehört. Somit konzentrieren sich die Forschungsarbeiten zu den Anfängen von Kooperation auf die Frage, ob und ab wann Kinder beziehungsweise Menschenaffen diese Kriterien erfüllen.

Unter dem Kriterium gemeinsamer Ziele konfrontierten die Wissenschaftler von Menschen aufgezogene Menschenaffen und 18 bis 24 Monate alte Kleinkinder mit zwei Aufgaben zur Problemlösung und mit zwei interaktiven Spielen ohne instrumentellen Zweck. Dabei stand ihnen jeweils ein Erwachsener als Partner zur Seite. Während die Menschenaffen keinerlei Interesse an den zweckfreien sozialen Spielen zeigten, erzielten sie einige Erfolge bei der Lösung von Problemen zusammen mit dem menschlichen Partner. Stellte der Mensch jedoch die Kooperation ein, versuchten sie überwiegend, allein eine Lösung zu finden. Hingegen beteiligten sich die Kleinkinder begeistert an den Aufgaben zur Problemlösung. Gab der erwachsene Partner hier die Kooperation auf, versuchten alle Kleinkinder, diesen wieder einzubeziehen. Die Wissenschaftler interpretieren diese Befunde als Indiz, dass Kleinkinder – im Unterschied zu Menschenaffen – gemeinsam mit dem Partner das Ziel entwickeln, miteinander zu spielen (Abb. 1).

Die Abstimmung der Rollen hinsichtlich eines gemeinsamen Ziels befähigt jeden Akteur, Handlungen des Anderen in seine Handlungen zu integrieren. Die einfachste Form dieser Koordinierung ist jene, die Kleinkindern eigen ist und bei der während der Zusammenarbeit der Partner beobachtet wird. Dies spiegelt sich in der Fähigkeit wider, Rollen erforderlichenfalls mit dem Gegenüber zu tauschen. 12 bis 18 Monate alte Kleinkinder konnten die Rolle des Erwachsenen einnehmen, auch wenn sie zuvor nur die eigene Rolle gespielt hatten. Dabei brachten sie gleichermaßen Verständnis für beide Rollen auf. Das legt nahe, dass die Kinder die Handlungen des Anderen insoweit aufmerksam verfolgten, dass sie diese später in einer gleichen Situation sinnvoll nachahmen konnten.

Im zweiten Lebensjahr bauen Kleinkinder ihre Fähigkeit zur Kooperation weiter aus: Auch dann versuchen sie, ihren Partner wieder einzubeziehen. Sie tun dies aber nur, wenn dieser außerstande ist, seine Funktion zu erfüllen, nicht jedoch, wenn dieser nicht gewillt ist, sie zu erfüllen. Dieser Befund spricht dafür, dass die Kleinkinder nicht nur das Verhalten ihres Partners beobachten, sondern auch, welche Ziele er verfolgt. Indem Kinder also ihre Handlungen miteinander koordinieren, stimmen sie auch ihre Aufmerksamkeit hin zu einer gemeinsamen Aufmerksamkeit ab. Anfänglich ist dieses gegenseitige Beobachten durch das gemeinschaftliche Ziel, etwa den gemeinsamen Bau eines Turms, bedingt. Später können Kleinkinder die gegenseitige Aufmerksamkeit auch ohne gemeinschaftliches Ziel aufbringen: Ertönt beispielsweise ein lautes Geräusch, können sich Kleinkind und Erwachsener diesem zusammen zuwenden. Entscheidend ist, dass die Beteiligten in der Kooperation nicht nur gemeinsam Aufmerksamkeit für die Gegebenheiten aufbringen, die für das gemeinsame Ziel relevant sind, sondern dass jeder von ihnen über seine eigene Sicht der Gegebenheiten verfügt.

So sind Kinder im Laufe des zweiten Lebensjahrs fähig, der Blickrichtung anderer hin zu nicht sichtbaren, von einem Hindernis verdeckten Objekten zu folgen. Doch erst im Alter von zwei Jahren können sie die Perspektive einer anderen Person komplexer mit ihrer eigenen verknüpfen. Beispielsweise platzierten Wissenschaftler zwei Objekte so im Raum, dass beide für das Kind sichtbar waren. Betrat nun ein Erwachsener den Raum von der gegenüberliegenden Seite, war für ihn nur einer der Gegenstände zu sehen. Kinder im Alter von 24 Monaten konnten in dieser Situation bestimmen, welches Objekt der Erwachsene sehen konnte und welches nicht; jüngere konnten dies nicht. Folglich mussten sie sich das Szenario aus der Perspektive des Erwachsenen vorstellen können. Der Begriff der geteilten Intentionalität beschreibt dieses Vermögen, sich in den Anderen hineinzuversetzen, seine Intentionen zu verstehen und zu teilen – und auf dieser Grundlage gemeinsame Ziele und Aktivitäten zu entwickeln.

Bei Menschenaffen hingegen deuten alle Anzeichen darauf hin, dass sie weder Aufmerksamkeit miteinander teilen noch wechselseitig Perspektiven einnehmen. Basiert nun die erste evolutionäre Stufe auf dem Weg zu gemeinsamer Aufmerksamkeit in gemeinschaftlichen Aktivitäten mit gemeinsamen Zielen, dann ist der Grund für das Nichtteilen von Aufmerksamkeit und das Nichtindividualisieren von Perspektiven bei Menschenaffen darin zu sehen, dass sie erst gar nicht Aktivitäten mit gemeinsamen Zielen entfalten. Zudem unternehmen Menschenaffen keine Versuche offener Kommunikation, um die Aufmerksamkeit anderer zu steuern und somit gemeinsames Handeln zu koordinieren.

Die normative Wende vom zweiten zum dritten Lebensjahr

An einem gewissen Punkt zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr werden aus gemeinsamen Zielen gemeinsame Verpflichtungen. Diese Wende der Normen und Werte hat bei Kindern kurz vor dem dritten Geburtstag zur Folge, dass sie von ihrem Gegenüber das normative Ausfüllen seiner Rolle erwarten. Und dass sie dessen Bestrafung für gerechtfertigt halten, wenn dieser seinen Beitrag nicht leistet. Diese Veränderung wurde in diversen Studien deutlich.

Zunächst gruppierten die Wissenschaftler zwei- und dreijährige Kinder paarweise. Gemeinsam sollten sie einen Stab einige Stufen hinaufbalancieren. Dafür bekamen sie eine Belohnung, wobei das erste Kind seine Belohnung vor dem zweiten erhielt. Damit auch das zweite Kind seinen Anteil bekam, musste das erste Kind weiter mit diesem kooperieren, nachdem es seine Belohnung bereits erhalten hatte. Diese Konstellation wurde mit einer Situation ohne Anstrengung verglichen, in der das erste Kind seine Belohnung „umsonst“ erhielt, das zweite hingegen weiter auf dessen Hilfe angewiesen war. Während die Zweijährigen nicht zwischen gemeinsamem Handeln und „Umsonst“-Belohnung unterschieden, unterstützten die Dreijährigen ihren Partner in der Kooperation bereitwilliger. Sie empfanden eine gemeinsame Verpflichtung, die Kooperation so lange fortzuführen, bis beide Partner ihre Belohnung erhielten (Abb. 2). Interessanterweise ergab ein ähnlicher Test mit Schimpansen, dass diese keinerlei Neigung zeigen, dem Gegenüber in einer kooperativen Situation eher zu helfen als in einer nichtkooperativen (Abb. 3).

Auch für eine zweite Studie gruppierten die Wissenschaftler Paare von zwei- und dreijährigen Kindern. Erneut sollten diese mit dem Ziel kooperieren, Belohnungen aus einer Vorrichtung zu holen – diesmal, indem sie gemeinsam an den beiden Enden eines Seiles zogen. Die Kinder angelten nach vier Spielzeugen, die auf einer Rampe platziert waren. Gelang es ihnen, die Spielzeuge näher heranzuziehen, rutschten „zufällig“ drei Spielzeuge zu einem Kind und eins zum anderen. Ähnlich wie beim ersten Versuch teilten die Dreijährigen die Belohnung gleichmäßig, die Zweijährigen jedoch nicht. In der Mehrzahl der Versuche gab das „glückliche“ Kind dem „glücklosen“ eines seiner Spielzeuge ab. Im Gegensatz dazu teilten die Kinder nicht gleichmäßig, wenn die Spielzeuge bereits beim Betreten des Raums im Verhältnis 3:1 geteilt waren oder wenn jedes der Kinder am eigenen Seil zog und eigene Spielzeuge erhielt (ebenfalls im Verhältnis 3:1). Schimpansen, die analog getestet wurden, teilten wiederum in einer kooperativen Situation nicht gerechter als in einer nichtkooperativen. Die Verbindlichkeit, die Kooperation so lange fortzuführen, bis beide Partner ihre gerechte Belohnung erhalten hatten, empfanden die dreijährigen Kinder – Zweijährige und Schimpansen hingegen nicht. So erwarteten die älteren Kinder nicht nur, dass sich der Andere wie zuvor engagieren würde, sondern empfanden eine „Ich-für-Dich“-Verbindlichkeit, die dazu führte, dass sie für den Anderen verzichteten, indem sie ihm halfen oder mit ihm teilten.

Im Alter von drei Jahren scheinen Kinder ein gewisses Verständnis für Einvernehmen und Ausgleich zu haben, einschließlich der damit verbundenen normativen Komponente. Diese normative Komponente verdeutlicht ihr Wissen darum, dass etwas Größeres als sie selbst − die Gruppe, ein Vertreter der Gruppe oder eine gegebene Regel − bestimmte Aktivitäten befürwortet oder ablehnt. Es ist denkbar, diese normative Dimension als kindliche Art, die Perspektive der Gruppe im eigenen Verhalten aufzunehmen, zu interpretieren.

Hinsichtlich des Koordinierens von Rollen benötigen Kinder im Alter von drei Jahren wesentlich weniger Zeit, eine andere Rolle einzunehmen, wenn sie zuvor bereits eine komplementäre Rolle spielten, als wenn die andere Rolle gänzlich neu für sie war. Ihre Fähigkeit, Rollen zu wechseln und diese Austauschbarkeit in einem umfassenderen Kontext zu verstehen, führt zum Verständnis sämtlicher sozialer Strukturen (zum Beispiel Normen, Institutionen), die durch eine unparteiische Normsetzung charakterisiert sind.

Die normative Wende in den gemeinsamen Handlungen von Kleinkindern um den dritten Geburtstag stellt im Vergleich zur Kooperation von Zweijährigen einen signifikanten Fortschritt dar. Insbesondere sind sich Dreijährige bewusst, dass beide Partner aufgrund des gemeinsamen Hinarbeitens auf ein gemeinsames Ziel verpflichtet sind, auf dem Erreichen des Ziels zu beharren, und dass sie berechtigt sind, ihren Teil − und das heißt einen gleichen Teil − des gemeinsamen Ziels oder der Belohnung zu erhalten.

Evolutionäre Grundlagen kindlicher Kooperation

Es ist bekannt, dass sich Schimpansen und andere Menschenaffen regelmäßig an diversen gemeinsamen Aktivitäten beteiligen: Sie ziehen zusammen umher und gehen in sozialen Gruppen auf Nahrungssuche; sie unterstützen einander bei Kämpfen innerhalb der Gruppe und verteidigen die Gruppe nach außen gegen artgleiche Außenseiter und Raubtiere. Die beeindruckendste Gruppenaktivität unter Menschenaffen stellt die Verfolgungsjagd anderer Affen durch Schimpansen dar. Gewöhnlich eröffnet ein Tier die Jagd, die anderen sperren die möglichen Fluchtwege. Zuletzt erhält der Schimpanse, der die Beute schließlich ergreift, das meiste Fleisch. Da er den Kadaver jedoch allein nicht bewältigen kann, bekommen üblicherweise alle Beteiligten (und viele Unbeteiligte) zumindest einen Teil des Fleisches.

Das gemeinschaftliche Jagen des Menschen unterscheidet sich stark hiervon. Während Schimpansen um die Beute rangeln und drängen, bringen die meisten menschlichen Gruppen eine große Beute ins Lager und teilen dort die Nahrung nach wechselseitig vereinbarten Regeln „gerecht“ auf. Während bei der Jagd der Schimpansen jeder versucht, den Affen selbst zu fangen und andere Schimpansen nicht unterstützt, helfen menschliche Jäger ihren Mitjägern, indem sie Waffen reparieren, Schneisen schlagen, Kinder tragen oder Jagdtechniken weitergeben. Kurzum: Schimpansen haben kein gemeinsam vereinbartes Ziel – sie kennen kein „Wir“, das die Beute fängt, teilt und den Anderen gegebenenfalls unterstützt. Schimpansen haben keinen Sinn für eine Verpflichtung, gleich in welcher Hinsicht.

Plausibel erscheint vor diesem Hintergrund das evolutionäre Szenario, dass mit der Herausbildung der Gattung Homo vor zwei Millionen Jahren eine Veränderung eintrat, die dem Menschen nicht länger erlaubte, auf die zuvor übliche Weise – vermutlich einzeln, so wie es Affen noch heute tun – Nahrung zu beschaffen. An einem bestimmten Punkt, wahrscheinlich innerhalb der letzten 500.000 Jahre, begann der Mensch die Jagd auf Großwild sowie das Sammeln von Pflanzen und Honig gemeinschaftlich zu betreiben, was am günstigsten in der Kooperation vieler einzelner Individuen zu erreichen ist. Somit waren die Weichen für das Können und Wollen zur „geteilten Intentionalität“ gestellt, die auch heute bei Kleinkindern erkennbar ist. Individuen, die über dieses Können und Wollen verfügten, profitierten stärker von der neuen gemeinschaftlichen Lebensweise als jene, die dies nicht aufwiesen. Abbildung 4 zeigt jene sechs Bereiche sozialer Aktivität, in denen sich Mensch und Affe voneinander unterscheiden.

Folgerung

Menschen leben weitaus kooperativer zusammen als ihre engsten Verwandten, die Menschenaffen. Bereits Kleinkinder beginnen, gemeinsam Ziele zu setzen, gemeinsam Aufmerksamkeit herauszubilden und zugleich die damit verbundenen individuellen Rollen und Perspektiven abzuschätzen. Diese Art sozialer Teilhabe wird bis zu jenem Punkt ausgedehnt, an dem menschliche Individuen breit angelegte gesellschaftliche Institutionen schaffen und sich in diese einbringen. In diesen Institutionen verfolgt zum einen die Gruppe ein gemeinsames Ziel, zum anderen nimmt jedes Mitglied eine eigene Rolle ein. Die menschliche Neigung zu kooperieren – die auf der artspezifischen Fähigkeit und Motivation zur „geteilten Intentionalität“ beruht – spielt demnach eine entscheidende Rolle, sowohl in der Entwicklung menschlicher Kulturen als auch in der Ausprägung menschlicher kognitiver Fähigkeiten als deren Grundlage.

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