Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Einwanderer in politischen Ämtern: in Deutschland noch eine Seltenheit

Autoren
Schönwälder, Karen
Abteilungen

Soziokulturelle Vielfalt (Prof. Dr. Steven Vertovec)
MPI zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen

Zusammenfassung
Noch ist die Integration von Migrantinnen und Migranten in politische Entscheidungsprozesse ein wenig untersuchtes Thema. Ein Projekt am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften beschäftigt sich mit Bedingungen und Verläufen politischer Karrieren von Einwanderern und zeigt, dass solche Karrieren im Falle von Parlamentsmitgliedern in europäischen Staaten offenbar unterschiedlichen Mustern folgen.

Dass die Bevölkerung Deutschlands – wie die vieler anderer heutiger Gesellschaften – in vieler Hinsicht heterogen ist, ist mittlerweile weithin bekannt. Fast zwanzig Prozent der hier lebenden Menschen haben einen sogenannten Migrationshintergrund; sie selbst oder zumindest ein Elternteil sind als Einwanderer in die Bundesrepublik gekommen. Zu Recht wird heute der Integration dieser Menschen in die Gesellschaft der Bundesrepublik große Bedeutung zugemessen. Ihre geringeren Chancen auf eine höhere Bildung, eine solide Ausbildung und einen Arbeitsplatz werden als Problem thematisiert [1]. Wie aber steht es um die Politik selbst? Welche Chancen haben Einwanderer oder deren Nachkommen, diese Gesellschaft als politische Akteure mitzugestalten, in politische Führungspositionen aufzusteigen? Sind auch die politischen Institutionen dieser Gesellschaft bereit zur vielfach eingeforderten interkulturellen Öffnung, bereit dazu, die zunehmende Vielfalt der Gesellschaft angemessen auch in ihrem Personal zu reflektieren?

Erst relativ wenige Untersuchungen haben sich mit diesen Fragen befasst. Selbst in Ländern wie den USA, wo Einwanderer und ethnische Minderheiten schon lange als wahlpolitischer Faktor anerkannt sind, gilt die Forschung zu Ausmaß, Formen und Mechanismen ihrer politischen Partizipation als wenig entwickelt [2]. In Deutschland gibt es erst neuerdings ein gewisses Interesse am politischen Verhalten der Eingewanderten und insbesondere der Eingebürgerten. Sowohl die Politik als auch die Wissenschaft reagieren erst, seitdem die wahlpolitische Relevanz dieser Bevölkerungsgruppe langsam wächst. Etwa fünf Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund sind heute im wahlberechtigten Alter, also immerhin etwa acht Prozent der zweiundsechzig Millionen Wahlberechtigten. Sollten die Einbürgerungszahlen weiter niedrig bleiben (sie sind nach dem Reformjahr 2000 gefallen), wird das wahlpolitische Gewicht dieser Gruppe allerdings nur langsam zunehmen (Abb. 1). Erst 2018 werden die als Deutsche geborenen Kinder ausländischer Einwanderer ins Wahlgeschehen eingreifen. Dennoch könnten die Eingebürgerten und anderen Deutschen aus Migrantenfamilien vor allem bei knappen Wahlentscheidungen sowie bei Wahlen in einigen Städten und Bundesländern mit besonders hohem Einwandereranteil schon bald eine wichtige Rolle spielen.

Untersuchungen am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften nehmen zunächst vor allem die Spitze politischer Organisationen und Institutionen in den Blick und fragen, unter welchen Bedingungen Menschen aus Migrantenfamilien in Führungspositionen aufsteigen und welche Voraussetzungen diese politisch erfolgreichen Migrantinnen und Migranten mitbringen. Dabei soll es nicht allein um Parlamentsabgeordnete gehen, sondern auch um Führungspersonal in Gewerkschaften, politischen Verbänden und Parteien. In einem weiteren Schritt sollen dann die Perspektiven erweitert und breiter analysiert werden, wie politische Institutionen sich für eine neue gesellschaftliche Vielfalt öffnen. Dabei wird etwa untersucht werden, ob bezüglich einer Repräsentanz der Geschlechter oder der ethnischen Gruppen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede bestehen und wie sich Veränderungen des politischen Lebens und die Pluralisierung der Gesellschaft auf die Offenheit politischer Institutionen auswirken.

Will man verstehen, wann und warum Einwanderern der Aufstieg in Parlamente gelingt oder ermöglicht wird, dann erscheinen vor allem Überlegungen fruchtbar, die sich auf das Zusammenwirken allgemeiner politisch-institutioneller Strukturen (etwa des Wahlrechts), politisch-kultureller Bedingungen (wie den längerfristig etablierten Positionen zur Stellung von Einwanderern und ethnischen Minderheiten in der Gesellschaft) und den in konkreten Konstellationen vorliegenden Bedingungen, Motiven und Interessen konzentrieren. Daneben sollten auch Charakteristika der Einwanderer selbst berücksichtigt werden. So zeigt etwa eine Studie zur Vertretung von Einwanderergruppen in den lokalen Parlamenten britischer und französischer Städte, wie in Großbritannien drei Faktoren zusammenwirkten, um in bestimmten Städten eine vergleichbar frühe Öffnung für Repräsentanten der ethnischen Minderheiten zu bewirken: das relative Mehrheitswahlsystem in Einpersonenwahlkreisen (das Wahlerfolge konzentriert siedelnder Gruppen erleichtert), die große Bedeutung des Antirassismus in der politischen Kultur und die zeitweilige Linksentwicklung der Labour Party, die eine multikulturelle Politik auch als Abgrenzungsmerkmal zu den von Thatcher und dann Major geführten Konservativen einsetzte [3]. In Birmingham etwa wurde 1993 eine gemessen am Bevölkerungsanteil repräsentative Vertretung der „ethnic minorities“ erreicht, nachdem schon 1979 die ersten beiden ethnischen Minderheiten zugerechneten Councillors (Ratsmitglieder) gewählt worden waren.

In den Niederlanden dagegen war es eine politische Intervention des Parlaments, die die Bedingungen für eine recht weitgehende politische Inkorporation von Einwanderern, zumindest auf kommunaler Ebene, herstellte. Als Teil der multikulturellen Minderheitenpolitik der 1980er-Jahre wurde Ausländern ein kommunales Wahlrecht eingeräumt. Die Zahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund stieg in den folgenden Jahren schnell an: Immerhin 302 kommunale Parlamentarier wurden 2006 gezählt. Bemerkenswert ist, dass sich der Impuls der erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten offenbar auch auf das nationale Parlament, für das kein Ausländerwahlrecht besteht, auswirkte: 2006 wurden 17 der 150 Sitze von Minderheitenangehörigen eingenommen. Anders als in Großbritannien, wo Angehörige der ethnischen Minderheiten vor allem für die Labour Party antreten, gehören diese in den Niederlanden einem breiten Spektrum unterschiedlicher Parteien an [4, 5]. Die viel gescholtene multikulturelle Politik könnte gerade im Bereich der politischen Integration positive Auswirkungen gehabt haben.

In Deutschland treten Politikerinnen und Politiker aus den Herkunftsländern der Gastarbeiter und Flüchtlinge erst langsam auf die politische Bühne. Die erst seit Anfang der 1990er-Jahre stärker ansteigende Zahl eingebürgerter Migrantinnen und Migranten, ein gesellschaftliches Klima, in dem gleiche Rechte für diese keinen hohen Rang einnehmen, und die desinteressierte bis abweisende Haltung der großen Parteien sind hierfür wesentlich verantwortlich. Dass vor allem seit Mitte der 1990er-Jahre Politikerinnen und Politiker aus Migrantenfamilien auch in deutschen Parlamenten auftauchen, ist wesentlich auf die Offenheit der Partei der Grünen und neuerdings auch der Linken zurückzuführen (Abb. 2). Sie stellen sieben der heute elf Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund. Hinzu kamen die kollektive Hinwendung der politischen Energien vor allem der türkeistämmigen Einwanderer auf Deutschland und der individuelle Ehrgeiz von Menschen, die mitreden und mitgestalten wollen. Eine umfassende, öffentliche Kampagne mit dem Ziel, die eigene Repräsentanz in politischen Positionen zu erhöhen, gibt es aus den Reihen der in Deutschland lebenden Migrantenbevölkerung nicht. Anders als in den USA oder in Israel, wo eine derartige Mobilisierung durchaus normal ist und als legitim betrachtet wird, würde dies in Deutschland – dies zumindest befürchten Migrantenpolitiker – zu heftigen Abwehrreaktionen führen.

Die großen Parteien SPD und CDU betrachten es heute zwar als wünschenswert, den einen oder anderen Einwanderer in ihren Fraktionen und vielleicht auch Vorständen zu haben, machen aber bislang kaum einen energischen Versuch, dies auch zu erreichen. Langfristig entstandene Machtstrukturen, lokale Erbhöfe und Ängste vor negativen Reaktionen der Wählerschaft auf solche Kandidatinnen und Kandidaten sind offenbar hemmende Faktoren. Die Stärkung der eigenen Anziehungskraft auf Wählerinnen und Wähler aus Migrantenfamilien ist andererseits noch kein gewichtiges Argument, um – über Einzelbeispiele hinaus – Migrantenpolitiker als Repräsentanten der eigenen Politik in den Vordergrund zu rücken.

Aber auch in den Führungsetagen anderer politischer Organisationen, von Umweltverbänden bis zu den Gewerkschaften, scheinen Migrantinnen und Migranten noch wenig vertreten. Dies allerdings bleibt noch genauer zu erforschen.

Originalveröffentlichungen

K. Schönwälder:
Reformprojekt Integration.
In: Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays, Band 693 der Schriftenreihe der BPB. (Hg.) J. Kocka. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, 315–334.
S. K. Ramakrishnan:
Democracy in Immigrant America: Changing Demographics and Political Participation.
Stanford University Press, Stanford 2005.
R. Garbaye:
Getting into Local Power: The Politics of Ethnic Minorities in British and French Cities.
Blackwell, Oxford 2005.
A. van Heelsum:
Political Participation of Migrants in the Netherlands since 1986.
Amsterdam 2007 (unpublished paper).
L. Michon, J. Tillie, A. van Heelsum:
Political Participation of Migrants in the Netherlands since 1986
2007 (unpublished paper).
Zur Redakteursansicht