„Zeigt, was in euch steckt!“
Mercedes Gomez de Agüero, Nachwuchsgruppenleiterin an einer Max-Planck-Forschungsgruppe in Würzburg, über Anna Wessels Williams, Wegbereiterin der Infektionsmedizin
Anna Wessels Williams war eine bahnbrechende Immunologin und Bakteriologin, die den Weg für die Erforschung von Infektionskrankheiten in den frühen 1900er Jahren ebnete. Ihre Forschung zu bakteriellen Toxinen und Diphtherie-Antitoxin war wegweisend und legte den Grundstein für die moderne Immunologie.
Anna Wessels Williams wurde 1863 in Hackensack, New Jersey, geboren. Zunächst schlug sie eine Laufbahn als Lehrerin ein. Aber nachdem ihre Schwester im Jahr 1887 fast an den Komplikationen im Zusammenhang mit einer Fehlgeburt ihr Leben verlor, schrieb Anna sich am Women's Medical College of the New York Infirmary ein: angetrieben von dem Wunsch, einen Beitrag zur Verbesserung der damaligen medizinischen Bedingungen zu leisten. Im Jahr 1891 erwarb sie ihren Doktortitel.
Als freiwillige Mitarbeiterin im diagnostischen Labor des New Yorker Gesundheitsministeriums arbeitete sie eng mit dem Direktor des Labors, William Hallock Park an einem Projekt zur Entwicklung eines Antitoxins gegen Diphtherie zusammen. Die Infektionskrankheit war zu dieser Zeit eine häufige Todesursache bei Kindern, insbesondere bei Kindern aus armen Familien, und hatte in New York City fast epidemische Ausmaße angenommen. Im Jahr 1894 isolierte Williams erfolgreich einen Stamm des Diphtheriebazillus mit außergewöhnlich hoher und konsistenter Toxizität. Ihre Isolierung des Bakterienstamms, der später als 'Park-Williams #8' bekannt wurde, war entscheidend für die Entwicklung eines wirksamen, hochproduktiven Antitoxins gegen die Krankheit und wurde zur Entwicklung des ersten Diphtherie-Antitoxins und später eines Diphtherie-Impfstoffs verwendet.
Williams führte bedeutende Forschungen zu anderen Impfstoffen, Behandlungen und diagnostischen Tests für verschiedene Krankheiten wie Scharlach und Tollwut durch. Im Jahr 1905 entwickelte sie einen Schnelltest für Tollwut, der innerhalb von Minuten Ergebnisse lieferte und drei Jahrzehnte lang der Standarddiagnosetest für Tollwut blieb.
Mercedes, was fasziniert Sie besonders an Anna Wessels Williams?
Sie setzte Grundlagenforschung gezielt ein, um Lösungen für Epidemien von Infektionskrankheiten zu finden und entdeckte dabei wichtige Elemente, die sich als unverzichtbare Instrumente für die drei Ebenen der Bekämpfung von Infektionskrankheiten erwiesen: Impfung, Früherkennung und Behandlung. Gleichzeitig förderte sie eine kooperative Forschungskultur, die den Beitrag aller Beteiligten angemessen anerkannte.
Wie ist es ihr gelungen, ihren eigenen Weg zu gehen, trotz der vielen Einschränkungen die Frauen in der Wissenschaft und in der Gesellschaft dieser Zeit auferlegt wurden?
Anna Wessels Williams hatte einen starken Willen und liebte das Risiko. Dies spiegelt sich nicht nur in ihren bahnbrechenden wissenschaftlichen Arbeiten wider, sondern auch in ihren Hobbys, die für eine Frau ihrer Zeit eher ungewöhnlich waren. So liebte sie das Autofahren und fuhr gerne sehr schnell und hatte eine Leidenschaft für das Fliegen, insbesondere für Flugzeuge, die vor dem Ersten Weltkrieg gebaut wurden und von Stunt-Piloten geflogen wurden.
Dank ihrer Entdeckungen konnte Diphtherie nahezu völlig besiegt werden.
Welche Auswirkungen hatte ihre Forschung zu ihrer Zeit? Wie relevant ist die Arbeit von Anna Wessels Williams heute?
Die COVID-19-Pandemie hat uns gezeigt, was wir zur Eindämmung von Epidemien brauchen: flächendeckender Zugang zur Behandlung, Prävention und schnelle Tests. Anna Wessels Williams erkannte diese Tatsache und entwickelte kosteneffektive Strategien zur Herstellung von hochwirksamen Impfstoffen und Antitoxinen. Sie wandte diesen Ansatz zunächst auf die Herstellung des Diphtherie-Antitoxins an und später auf die Entwicklung des Tollwutimpfstoffs. Darüber hinaus konzentrierte sie sich darauf, die Diagnose zu verbessern, indem sie schnelle Testmethoden für Tollwut entwickelte. Dank ihrer Entdeckungen konnte Diphtherie nahezu völlig besiegt werden.
Was hat Sie zu einer Karriere in der Wissenschaft bewegt?
Ich hatte schon immer das Gefühl, dass winzige Details, die oft ignoriert werden, bestimmte Ereignisse besser erklären können als die allgemein akzeptierten Paradigmen, die auf offensichtlichen Elementen beruhen. Ich finde es spannend, Objekte, Figuren oder Situationen zu analysieren und zu zerlegen, um ihre Knochen und Gewebe zu identifizieren und zu verstehen, wie sie zusammenwirken, um ihre Funktion zu erfüllen.
Was hat Ihr Interesse an Wirt-Mikroben-Interaktionen geweckt?
Ich war fasziniert von der immensen Wirkung, die mikroskopische Organismen auf den menschlichen Körper haben und hatte von Anfang an den Eindruck, dass der Schlüssel zur Erklärung dieser Wirkung in den frühen Phasen der Begegnung zwischen Wirt und Mikrobe zu finden ist.
MINT-Berufe werden immer noch von Männern dominiert. Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit sich mehr Mädchen für MINT-Fächer begeistern und mehr Frauen eine Karriere in MINT-Fächern anstreben?
Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass erfolgreiche Frauen in MINT-Fächern als Vorbilder sichtbar werden, um mehr Mädchen zu ermutigen, Karrieren in STEM-Feldern zu verfolgen. Es ist entscheidend, dass Mädchen sich mit diesen Rollen identifizieren können. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist durch eine verstärkte Präsenz von beispielweise Wissenschaftlerinnen und Ingenieurinnen in den Medien. Auf diese Weise können Mädchen sehen, dass sie in diesen Bereichen erfolgreich sein können.
Was sind Ihre Vorbilder für Frauen in der Wissenschaft?
Neben den berühmten Wissenschaftlerinnen, die inspirierende Arbeit geleistet haben, gibt es viele andere Frauen, die in der Wissenschaft als Vorbilder dienen. Unternehmerinnen in der Wissenschaft haben erfolgreiche Firmen und Start-ups in Bereichen wie Biotechnologie, Medizintechnik und künstlicher Intelligenz gegründet. Ein Beispiel hierfür ist Özlem Türeci, Mitbegründerin von BioNTech, die sehr bekannt in der Biotech-Branche ist.
Zeigt, was in euch steckt!
Welchen Rat würden Sie jungen Frauen geben, die eine wissenschaftliche Karriere in Betracht ziehen?
Es gibt mehr als einen Weg, um eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben zu erreichen. Findet den individuellen Weg, der zu euch passt und folgt eurer wissenschaftlichen Leidenschaft. Vergesst nicht, eure eigene Leistungen anzuerkennen und eure eigenen Bedürfnisse zu äußern. Und zeigt, was in euch steckt!
Wie schätzen Sie die Karrieremöglichkeiten für Frauen in der Wissenschaft ein, die eine Forschungskarriere anstreben?
Die Situation verbessert sich. Die Kinderbetreuungsdienste erweitern die Möglichkeiten für die Beantragung von Zuschüssen, und einige Programme sind ausschließlich für Frauen konzipiert.
Gehälter werden aufgrund von Erfahrung und Abschlüssen festgelegt. Traditionelle Modelle, in denen ein Elternteil für die Kinderbetreuung zuständig ist, wandeln sich, und eine gegenseitige Unterstützung der Partner bei der Karriereplanung tritt an die Stelle verkrusteter Geschlechterstereotype. Für jeden Forschenden, unabhängig vom Geschlecht, ist es unerlässlich, sich langfristig zu engagieren und ein hohes Maß an Leistung zu erbringen.
Mehr Gleichstellung in der Wissenschaft führt zu mehr Inklusion
Welche Veränderungen würden Sie gerne in den nächsten Jahren erleben, um mehr Geschlechtergleichheit in der Wissenschaft zu erreichen?
Die Wissenschaft profitiert ungemein von der Vielfalt an Perspektiven und Erfahrungen, die Frauen mitbringen. Eine fairere Balance führt zu mehr Power, Innovation und Vielfalt in der wissenschaftlichen Community. Auf diese Weise werden Forschung und Technologie mit den Bedürfnissen und Perspektiven aller Menschen im Hinterkopf entwickelt.
Die Gesellschaft entwickelt sich ständig weiter, und das gilt auch für die Science Community. Ich habe das Gefühl, dass die jüngere Generation in der Wissenschaft bereits viel in Sachen Gleichstellung verändert hat.
Mercedes Gomez de Agüero, vielen Dank für dieses Interview!