Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Menschheitsgeschichte aus Höhlenstaub

Autoren
Vernot, Benjamin
 
Abteilungen
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Max-Planck-Forschungsgruppe für Prähistorische Umweltgenomik
Zusammenfassung
Der Mensch und andere Lebewesen geben ständig DNA an ihre Umgebung ab. Forschende am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben neue Methoden entwickelt, um diese menschliche DNA direkt aus archäologischen Sedimenten zu extrahieren. So ist es ihnen gelungen, Lücken in der Geschichte der Menschheit zu füllen und bisher unbekannte Neandertalerpopulationen aufzuspüren.

Stellen Sie sich eine Höhle auf der Iberischen Halbinsel vor 100.000 Jahren vor: Ein Bär überwintert dort, Hyänen nutzen den Unterschlupf, um einen verendeten Hirsch zu fressen. Mäuse und andere Nagetiere richten sich dort ein und im Frühjahr hält sich für einige Wochen eine Gruppe von Neandertalern in der Höhle auf, um in der Umgebung zu jagen und Werkzeuge herzustellen. Dieselbe Gruppe von Neandertalern kehrt Jahr für Jahr zurück, über Jahrtausende hinweg, hinterlässt jedoch keine Überreste – lediglich weggeworfene Steinwerkzeuge belegen ihre Existenz. Stellen Sie sich nun etwas anderes vor: In einem Jahr schneidet sich ein Neandertaler an einem Werkzeug und blutet auf den Höhlenboden. Im nächsten Jahr rennt ein Kind weg und erleichtert sich in einer Ecke der Höhle. Bei jedem Besuch der Höhle bleiben Haut und Haare zurück.

Jedes Mal, wenn so etwas passiert, binden kleine Mengen Neandertaler-DNA an die Sedimente im Boden. Tatsächlich hat alles und jeder, der diese Höhle betreten hat, dort seine DNA zurückgelassen. Eine kleine Menge dieser DNA konnte bis heute überleben, geschützt durch die gleichmäßig kühlen Temperaturen in der Höhle. Diese Sediment-DNA ist ein Schlüssel zum Verständnis vergangener Ökosysteme und trägt nun auch zur Erforschung früherer menschlicher Populationen bei.

Eine Nadel im Nadelhaufen

Urzeitliche menschliche DNA aus Sedimenten zu gewinnen, ist eine große Herausforderung. So enthalten Skelettüberreste nicht nur das Erbgut der entsprechenden Person, sondern auch DNA von Bakterien, die die Knochen nach dem Tod besiedelten. Diese DNA wurde im Laufe der Zeit stark abgebaut und beschädigt, und es bedarf spezieller Methoden, um sie mit dem menschlichen Genom zu vergleichen und menschliche von bakterieller DNA zu trennen. Dieselben Schwierigkeiten bestehen auch bei der Gewinnung von Erbgut aus Sedimenten mit dem Unterschied, dass sie zusätzlich DNA aus Hunderten von Quellen enthalten können, darunter auch das Erbgut anderer Säugetiere, die evolutionär enger mit dem Menschen verwandt sind als Bakterien. Aufgrund dieser engen evolutionären Verwandtschaft kann es schwierig sein, Säugetier-DNA von menschlicher DNA zu unterscheiden.

Um den reichen Schatz an menschlicher DNA aus Sedimenten zu bergen, haben wir neue Labor-und computerbasierte Methoden zur Anreicherung, Identifizierung und Analyse menschlicher DNA aus diesem Erbgut-Mix entwickelt [1]. Diese Methoden zielen auf Regionen des menschlichen Genoms ab, die wir leichter von anderen Säugetiergenomen unterscheiden können. Darüber hinaus können wir menschliche DNA im Labor anreichern, sogar wenn sie in der Probe nur in einem Verhältnis von eins zu mehr als einer Million vorkommt.

Iberische Halbinsel: Bevölkerungsaustausch und Refugien

Mithilfe diesen neuen Methoden konnten wir 50.000 Jahre Neandertaler-Geschichte in der Galería de las Estatuas, einer Höhle in Nordspanien, rekonstruieren [1]. Die Neandertaler, die im Zeitraum von vor 120.000 bis vor 105.000 Jahren in dieser Region lebten, sind am engsten mit einigen der ältesten bisher entdeckten Neandertalerfunde von der Schwäbischen Alb verwandt. All diese Neandertalerpopulationen verschwanden und wurden durch eine jüngere Population ersetzt, die scheinbar den gesamten europäischen Kontinent neu besiedelte und weitere 30.000 Jahre die Galería de las Estatuas bewohnte. Wir wissen nicht, woher diese jüngere Population stammt – möglicherweise aus einem Refugium, wo es ihr gelang, die Vereisung Europas zu überstehen? Dann wären die ältesten Vertreter dieser neuen Neandertalerpopulation in der Galería de las Estatuas eng mit dieser Refugienpopulation verwandt.

Diese Ergebnisse basieren ausschließlich auf 76 Sedimentproben aus der Galeria de las Estatuas, die die gesamte 50.000-jährige Geschichte der Höhle dokumentieren – und keinem einzigen Schnipsel alter DNA aus Knochen! Die Studie verdeutlicht das unfassbar große Potenzial der Sediment-DNA: Selbst wenn wir alte DNA aus einem oder zwei Neandertaler-Knochen von dieser Stätte analysiert hätten, wüssten wir nicht, wann der Bevölkerungsaustausch stattgefunden hat. Erst durch zeitlich aufeinander folgende Sedimentproben ließ sich der genaue Zeitpunkt identifizieren.

Besiedlungsgeschichte der Denisova-Höhle über 300.000 Jahre

Der Mensch und seine engen Verwandten, die Neandertaler und Denisovaner, waren jedoch nicht die einzigen Lebewesen, die Höhlen bewohnten. In einer anderen Studie reicherten wir menschliche und Säugetier-DNA aus fast 800 Sedimentproben an, die aus der Denisova-Höhle stammen und einen Zeitraum von 300.000 Jahren abdecken [2]. Diese Höhle wurde bereits ausgiebig erforscht und lieferte der Wissenschaft eine der umfangreichsten Sammlungen uralter menschlicher Überreste. Doch auch diese Sammlung weist Lücken auf, denn sogar an solch einem ergiebigen Fundort gibt es nur begrenzt fossiles Material. Um diese Lücken zu schließen und zu erforschen, mit welchen Lebewesen die damals lebenden Menschen ihren Lebensraum teilten, analysierten wir aus Sedimenten gewonnenes Erbgut. So konnten wir die DNA einer bisher unbekannten Neandertalerpopulation entschlüsseln, zu deren Nachkommen sowohl die Neandertaler aus der Estatuas-Höhle als auch die sibirischen Neandertaler zählen.                         

In einer weiteren Studie untersuchten wir die Herkunft der Sediment-DNA mit Hilfe von Mikromorphologie-Blöcken – Sedimentblöcken, die in Harz getränkt ihre Mikrostrukturen bewahren. Mithilfe dieser Blöcke konnten wir ganz gezielt bestimmte Merkmale untersuchen, wie zum Beispiel winzigste Fragmente von Knochen oder Koprolithen (Fäkalien). Dabei stellten wir fest, dass sich die Sediment-DNA äußerst stark voneinander unterscheiden kann, selbst wenn Probennahmen in nur wenigen Millimetern Abstand erfolgten. Eine weitere Erkenntnis der Studie war, dass Knochenfragmente und Koprolithen mehr DNA enthalten, aber von weniger Arten. Doch auch die Sedimentmatrix – das zwischen diesen erkennbaren Bestandteilen befindliche Sediment – ist reich an DNA.

Die von unserem Team entwickelten Methoden eröffnen völlig neue Möglichkeiten, die Geschichte vergangener Populationen mit einer Genauigkeit zu erforschen, die anhand herkömmlicher Quellen alter DNA nicht denkbar gewesen wäre. Sie haben das Potenzial, unser Wissen über die Vergangenheit zu revolutionieren und die Evolution des Menschen neu zu beleuchten.

Literaturhinweise

Vernot, B.; Zavala, E. I.; Gómez-Olivencia, A.; Jacobs, Z.; Slon, V.; Mafessoni, F.; Romagné, F.; Pearson, A.; Petr, M.; Sala, N.; Pablos, A.; Aranburu, A.; de Castro, J. M. B.; Carbonell, E.; Li, B.; Krajcarz, M. T.; Krivoshapkin, A. I.; Kolobova, K. A.; Kozlikin, M. B.; Shunkov, M. V.; Derevianko, A. P.; Viola, B.; Grote, S.; Essel, E.; Herráez, D. L.; Nagel, S.; Nickel, B.; Richter, J.; Schmidt, A.; Peter, B.; Kelso, J.; Roberts, R. G.; Arsuaga, J.-L.; Meyer, M.
Unearthing Neanderthal Population History Using Nuclear and Mitochondrial DNA from Cave Sediments
Science, 372 (6542), eabf1667 (2021)
Zavala, E. I.; Jacobs, Z.; Vernot, B.; Shunkov, M. V.; Kozlikin, M. B.; Derevianko, A. P.; Essel, E.; de Fillipo, C.; Nagel, S.; Richter, J.; Romagné, F.; Schmidt, A.; Li, B.; O’Gorman, K.; Slon, V.; Kelso, J.; Pääbo, S.; Roberts, R. G.; Meyer, M.
Pleistocene Sediment DNA Reveals Hominin and Faunal Turnovers at Denisova Cave
Nature, 595 (7867), 399–403 (2021)
Massilani, D.; Morley, M. W.; Mentzer, S. M.; Aldeias, V.; Vernot, B.; Miller, C.; Stahlschmidt, M.; Kozlikin, M. B.; Shunkov, M. V.; Derevianko, A. P.; Conard, N. J.; Wurz, S.; Henshilwood, C. S.; Vasquez, J.; Essel, E.; Nagel, S.; Richter, J.; Nickel, B.; Roberts, R. G.; Pääbo, S.; Slon, V.; Goldberg, P.; Meyer, M.
Microstratigraphic Preservation of Ancient Faunal and Hominin DNA in Pleistocene Cave Sediments
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 119 (1), e2113666118 (2022)
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