Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Geflüchtete ohne Alter

Autoren
Bialas, Ulrike
Abteilungen

Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen

Zusammenfassung
Weil Minderjährige und Erwachsene unterschiedliche Rechte haben, müssen deutsche Behörden das Alter eines Menschen kennen. Das ist bei jungen Geflüchteten allerdings oft eine Herausforderung: Nur wenige besitzen Identitätsdokumente und viele kennen ihr Geburtsdatum nicht. Wie gehen Behörden mit dieser Unklarheit um? Und wie erleben Geflüchtete selbst die große Bedeutung ihres Alters in Deutschland? In meiner Forschung betrachte ich das Alter aus unterschiedlichen Perspektiven und zeige, dass diese scheinbar eindeutige biologische Kategorie auch ein komplexes soziales Konstrukt ist.

Immer mehr junge Menschen fliehen ohne ihre Familie vor Konflikten, Entrechtung und Armut und stellen in Deutschland einen Asylantrag. Doch viele besitzen keine Identitätsdokumente; einige kennen ihr Geburtsdatum gar nicht. Dabei ist gerade das Geburtsdatum entscheidend für Aufenthaltsstatus und Lebensalltag Geflüchteter in Deutschland: Während minderjährige nicht abgeschoben werden dürfen, in der Jugendhilfe untergebracht sind und von Vormündern begleitet werden, verbringen erwachsene ihre ersten Monate in Deutschland oft in Angst vor einer Überstellung nach dem Dublin-Verfahren in ein anderes EU-Land, wohnen jahrelang in Gemeinschaftsunterkünften und haben im Falle eines abgelehnten Asylantrags bisher kaum aufenthaltsrechtliche Alternativen.

Wie aber entscheiden deutsche Behörden ohne Geburtsurkunden, wer als Minderjähriger aufenthaltsrechtlich bevorteilt und in der Jugendhilfe betreut wird? Und wie leben junge Geflüchtete selbst mit ihrer Einstufung als minderjährig oder erwachsen? Endet der erhöhte Schutz- und Hilfebedarf junger Geflüchteter tatsächlich mit dem 18. Geburtstag?

Das Lebensalter aus verschiedenen Perspektiven betrachten

Diese Fragen habe ich für meine Doktorarbeit ethnografisch, also in teilnehmender Beobachtung, erforscht. Zunächst habe ich an einem forensischen Institut sogenannte Altersschätzungen beobachtet, in denen ForensikerInnen radiologische Aufnahmen auswerten, um anhand der Knochenbildung Rückschlüsse auf das chronologische Alter zu ziehen. Um mehr über den rechtlichen Kontext unbegleiteter Minderjähriger zu erfahren, habe ich dann bei einem Verein gearbeitet, der ehrenamtliche Vormünder an unbegleitete Minderjährige vermittelt. Schließlich habe ich mehrere Jahre mit einer Gruppe junger Geflüchteter – Minderjährige sowie junge Volljährige – verbracht. Ich habe sie im Camp und der Jugendwohngruppe besucht, beim Deutschlernen und bei Schulaufgaben unterstützt, ihre Freunde und Bezugspersonen kennengelernt und sie zu Behörden wie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Ausländerbehörde, dem Familiengericht oder dem Jugendamt sowie zu Terminen im Krankenhaus, der Anwaltskanzlei oder Asylberatung begleitet.

Ein Geburtsdatum sagt nicht alles

Meine Forschung hat gezeigt, dass das Lebensalter komplex ist. Weil Gesetze, etwa aus dem Aufenthalts- und Jugendhilferecht, jedoch auf den Tag genau zwischen Minderjährigen und Erwachsenen unterscheiden, müssen Behörden Geburtsdaten festlegen. Dabei können AltersschätzerInnen lediglich Spannen und Wahrscheinlichkeiten ermitteln, da Menschen sich zwar ähnlich, aber eben nicht gleich und vor allem nicht im gleichen Tempo entwickeln, gerade wenn sie unter ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen aufwachsen. Obwohl die forensisch ermittelten Alter also nur Schätzungen sind, entscheiden sie darüber, ob und unter welchen Bedingungen ein junger Mensch in Deutschland leben darf.

Geflüchtete, die als junge Erwachsene eingeschätzt werden, leben in hoher aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit. Sie dürfen nur in Ausnahmefällen Regelschulen besuchen, erfahren ohne Jugendhilfe kaum Unterstützung und finden in ihren Gemeinschaftsunterkünften nicht die nötige Ruhe und Privatsphäre zum Erholen oder Lernen. Aber auch minderjährige Geflüchtete haben es schwer. Während sie in ihren Heimatländern oft schon viel Verantwortung innerhalb der Familie übernommen haben, werden sie nun bevormundet und müssen Regeln und Kontrolle in der Jugendhilfe akzeptieren. Nicht zuletzt auf der Flucht nach Deutschland mussten sie oftmals schon sehr erwachsen agieren, doch die Selbstständigkeit, die sie dabei entwickelt haben, können sie in der Jugendhilfe nicht mehr ausleben. Mitunter wird sie ihnen sogar vorgehalten und damit unterstellt, dass sie – so autonom und reif – gar nicht wirklich minderjährig sind.

Das Lebensalter erscheint zunächst als eindeutige und faire Kategorie. Jeder Mensch wurde schließlich an einem bestimmten Tag geboren und durchläuft dann Entwicklungsphasen gleicher Reihenfolge und ähnlicher Dauer. Aber meine Forschung zeigt, dass das Lebensalter ohne Geburtsurkunde nicht eindeutig bestimmt werden kann und vielleicht auch gar nicht die beste Maßeinheit für Hilfebedarf ist. Die jungen Geflüchteten, die ich begleitet habe, haben in ihren Herkunftsländern eine ganz andere Kindheit verbracht als die, die Heranwachsende in Deutschland auf das Erwachsenenleben hier vorbereitet. So haben sie etwa früh im Haushalt geholfen und ihre Eltern finanziell oder bei der Erziehung jüngerer Geschwister unterstützt, aber – wie sie selbst sagen – nicht gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen, Lebens- und Berufswege zu planen. Hinzu kommt die große Aufgabe, das Trauma der Flucht zu verarbeiten und sich im neuen Land ohne den Rückhalt der Familie zurechtzufinden.

Über Jugend diskutieren statt Geburtsdaten festlegen

Natürlich sollten die Methoden der Altersschätzung weiter verbessert werden, schon allein um keine Minderjährigen als erwachsen einzustufen. Darüber hinaus müssen wir aber lernen, mit Ambivalenz zu leben. Alle ExpertInnen, mit denen ich gesprochen habe, waren sich trotz ihrer politischen und fachlichen Widersprüche in einem einig: Wir werden nie genau wissen, wie alt junge Menschen, die ohne Identitätsdokumente nach Deutschland kommen, sind. Das ist eine rechtliche und bürokratische Herausforderung, aber auch eine Chance. Wir könnten die Migration junger Geflüchteter „ohne Alter“ zum Anlass nehmen, uns mit der Bedeutung von Jugend auseinanderzusetzen. Minderjährige erhalten besondere Unterstützung, weil sie einerseits schutzbedürftig und andererseits offen für Neues sind. Sie zu unterstützen ist daher eine notwendige und kluge gesellschaftliche Investition. Sind es also nicht eher die Kriterien Schutzbedürftigkeit und Offenheit als ein bestimmtes Geburtsdatum, aufgrund derer wir junge Menschen in unsere Gesellschaft aufnehmen sollten? Eine Debatte um diese Begriffe wird nicht weniger schwierig sein als die Bestimmung von Geburtsdaten es derzeit ist. Aber sie lohnt sich.

Bialas, U.
Forever Seventeen: Coming of Age in the German Asylum System
Chicago, IL: University of Chicago Press (2023)
Zur Redakteursansicht