Forschungsbericht 2020 - Assoziierte Einrichtung - Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience

Wie verarbeitet das Gehirn Wiederholungen?

Autoren
Peter, Alina; Stauch, Benjamin J.; Fries, P.
Abteilungen
Assoziierte Einrichtung - Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience, Frankfurt am Main
Zusammenfassung
Unsere Wahrnehmung der Welt beruht auf der koordinierten Aktivität vieler Milliarden Nervenzellen im Gehirn. Wir am Ernst Strüngmann Institut (ESI) haben Hinweise auf eine Verarbeitungsstrategie gefunden, mit der unser Gehirn auf wiederholte Begegnungen mit einem visuellen Stimulus in kurzer Zeit effizienter reagiert. Die genaue Kenntnis dieser Mechanismen könnte in Zukunft Wege eröffnen, diese Fähigkeit therapeutisch nutzbar zu machen.

Einleitung

Menschen und andere Primaten verfügen über hervorragende visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten. Aufgaben, die uns eigentlich ganz einfach erscheinen, wie zum Beispiel ein bekanntes Gesicht erkennen oder einen Apfel ergreifen, basieren auf einem komplexen Netzwerk miteinander wechselwirkender Hirnareale. Die Milliarden von Nervenzellen sowohl innerhalb eines Hirnareals als auch zwischen den Arealen haben viele Verbindungen untereinander und tauschen sich miteinander aus. Das heißt, dass die Aktivitäten verschiedener Zellen zeitlich koordiniert werden müssen, um zum Beispiel visuelle Aufgaben zu lösen. Um dies möglichst gut und effizient zu tun, befindet sich das Gehirn in einem ständigen Prozess des Lernens und der Anpassung an das momentane Umfeld. Für solche Anpassungen kann das Gehirn verschiedene Strategien anwenden. Diese besser zu verstehen, ist ein fundamentales Anliegen in den Neurowissenschaften.

Ein viel beobachtetes Phänomen ist zum Beispiel, dass selbst die erste Verarbeitungsstufe für visuelle Information in der Hirnrinde, der primäre visuelle Kortex (V1), der einfache Reizeigenschaften verarbeitet, auf einen wiederholten Stimulus nicht identisch reagiert, sondern typischerweise seine Antworten - in diesem Falle die Feuerraten der Nervenzellen - reduziert. Dennoch ist die Wahrnehmung eines visuellen Stimulus auch nach vielfacher Wiederholung nicht unbedingt getrübt.

Verbesserte Koordination als Anpassungsstrategie des Gehirns

Wir fragten uns daher: Nutzt das Gehirn die wiederholte Begegnung mit visuellen Reizen, um seine Verarbeitungsstrategie zu ändern oder vielleicht sogar zu optimieren? Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn die Antworten auf einen Stimulus zwar geringer werden, aber gleichzeitig eine stärkere Koordination der verbleibenden Antworten erfolgt. Dies liegt daran, dass eine Empfängerzelle die Antworten von anderen Zellen nur innerhalb eines kurzen Zeitraums aufsummiert. Wenige, zeitlich koordinierte Inputs können die Empfängerzelle also genauso effektiv, aber dafür effizienter erregen als viele, zufällig verteilte Inputs anderer Zellen.

Eine mögliche Grundlage der flexiblen Koordination in einem Netzwerk von Zellen ist ihre Synchronisierung mittels rhythmischer Aktivität (Oszillationen). In frühen Hirnarealen wie V1 ist hochfrequente Aktivität im sogenannten Gamma-Band der Hirnwellen (ca. 30-90 Hz) ein häufiges Merkmal neuronaler Antworten auf visuelle Stimuli. Diese rhythmischen Schwingungen, die die synchrone Aktivität vieler eng benachbarter Neurone reflektieren, hat Wolf Singers Labor am MPI für Hirnforschung im Zusammenhang mit Informationsverarbeitung das erste Mal beschrieben. Dabei ist bemerkenswert, dass das kurze Zeitfenster, innerhalb dessen eine Zelle die einkommenden Reize verarbeitet, mit der Dauer einer Oszillation im Gamma-Band im Einklang steht. Daher sind stärkere Antworten im Gamma-Band ein Hinweis auf verstärkte Koordination.

Die Macht der Wiederholung

Eine frühere Studie des Labors von Pascal Fries an unserem Institut fand bei Messungen von frühen Hirnarealen von Rhesusmakaken überraschend starke Hinweise auf eine solche verbesserte Koordination. Wenn diese Hirnareale durch die Präsentation visueller  Streifenmuster mehrere hundert Mal in Folge aktiviert wurden, zeigten die Neurone sowohl innerhalb als auch zwischen den Arealen eine zunehmende Synchronisation im Gammaband. Jedoch blieb unklar, inwiefern diese Verbesserung der Koordination spezifisch für den angewandten Reiz war. Der Nachweis einer solchen Stimulusspezifität ist eine Voraussetzung, um zu zeigen, dass es sich bei dem Phänomen tatsächlich um einen Effekt der präsentierten Reize handelt, statt um einen reinen Effekt genereller visueller Stimulation.

Tatsächlich gelang es uns, dies nachzuweisen und in die Humanforschung zu übertragen: Sowohl in intrakortikalen Ableitungen in Rhesusmakaken als auch mittels nichtinvasiver Magnetoenzephalographie (MEG) am Menschen zeigte sich, dass sich die stärkere Gamma-Synchronisierung nicht auf Stimuli überträgt, die noch nicht wiederholt gezeigt wurden. Die diesbezüglichen Ergebnisse zeigten bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Rhesusmakaken.

Frühe Hirnareale wurden bisher meist mittels sehr einfacher, künstlicher Stimuli untersucht, welche den ProbandInnen und Versuchstieren schon oftmals zuvor gezeigt wurden. Wir konnten zeigen, dass der beobachtete Effekt auch für natürliche Stimuli (in diesem Fall Bilder von Früchten und anderen Objekten) eintritt, und für solche, die noch nie zuvor gesehen worden waren. Dies macht es wahrscheinlicher, dass das Phänomen nicht nur im Labor, sondern auch während des alltäglichen Sehens eine wichtige Rolle spielt.

Insgesamt deuten unsere Befunde darauf hin, dass Gehirne von Menschen und Makaken tatsächlich eine stärkere Synchronisierung ihrer Aktivität nutzen könnten, um oft gesehene visuelle Inputs mit geringerer Aktivität verarbeiten zu können.

Das Gehirn passt sich schnell an

Unsere Messungen weisen also auf die Existenz eines möglicherweise fundamentalen Mechanismus hin, mit dem das Gehirn sich schnell seiner momentanen Umgebung anpasst. Um diesen Mechanismus besser zu verstehen, entwickelt die Abteilung von Pascal Fries am ESI in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe von Tatjana Tchumatchenko am MPI für Hirnforschung nun Computermodelle, die auf den bisherigen experimentellen Daten beruhen. Diese können verschiedene testbare Hypothesen dazu generieren, wie genau sich die Aktivität und die Verbindungen zwischen verschiedenen Zelltypen verändern, damit es im Verlauf von Stimuluswiederholungen zu besserer Koordinierung kommen kann. Des Weiteren werden genauere Messungen auf der Ebene einzelner Zellen unterscheidbarer Zelltypen und hochauflösend in verschiedenen Schichten des Cortex sehr nützlich sein, um den Ursprung des Phänomens genauer einzugrenzen. Durch ein solches Verständnis könnte langfristig ein Weg gefunden werden, diesen Lernmechanismus des Gehirns therapeutisch einzusetzen.

Literaturhinweise

Peter, A.; Stauch, B. J.; Shapcott. K.; Kouroupaki, K.; Schmiedt, J. T.; Klein, L.; Klon-Lipok, J.; Dowdall, J. R.; Schoelvinck, ML.; Vinck, M.; Singer, W.; Schmid, M. C.; Fries, P.
Stimulus-specific plasticity of macaque V1 spike rates and gamma.
BioRxiv 11 (2020)

Stauch, B. J.; Peter, A.; Schuler, H.; Fries, P.

Stimulus-specific plasticity in human visual gamma-band activity and functional connectivity.
BioRxiv. 11 (2020)
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