Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik
Existenzsicherung in der Coronakrise
Sozialstaat und Solidarität in der Corona-Krise
Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie gingen weltweit mit einem erheblichen Wirtschaftseinbruch einher. In Europa brachten die ab März 2020 verhängten Shutdowns das öffentliche Leben und ganze Industriezweige zum Erliegen. Um die dramatischsten wirtschaftlichen und sozialen Folgen abzufedern, führten europäische Staaten rasch umfassende arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen ein, die die Arbeitsmärkte stabilisieren, Entlassungen vermeiden und diejenigen unterstützen sollten, deren Existenzgrundlage die Krise am stärksten bedrohte [1]. Die Einführung dieser Maßnahmen war jedoch keineswegs ein geradliniger Prozess. Die Krise ging einher mit intensiven Debatten über die Verteilung der Krisenlast und die Verantwortung des Wohlfahrtsstaates.
Das Schutzniveau, das verschiedenen Gruppen im Arbeitsmarkt während der Krise zuteil wurde, fiel sehr unterschiedlich aus. Hierdurch hat die Krise nicht zuletzt auch die blinden Flecken sozialstaatlicher Strukturen in Bezug auf spezifische Arbeitsmarktgruppen, insbesondere Selbständige und Arbeitnehmer in „prekären“ Beschäftigungsverhältnissen, verdeutlicht. Viele der seit Ausbruch der Krise eingeführten Maßnahmen können als „atypisch“ bezeichnet werden, ihre genaue Verortung in der wohlfahrtsstaatlichen Architektur hat der Gesetzgeber meist offengelassen. Zugleich haben die Herausforderungen, mit denen sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten konfrontiert sahen, zu Reformdiskussionen geführt, die das Potenzial haben, die europäischen Wohlfahrtsstaaten grundlegend umzugestalten.
Angesichts der Vielzahl der während der Krise eingeführten sozialpolitischen Instrumente und der von ihnen aufgeworfenen normativen Fragen, ist ein klares Verständnis ihrer rechtlichen Natur von wesentlicher Bedeutung: Erst eine eindeutige systemische Einordnung der Maßnahmen erlaubt es, das sozialpolitische Krisenmanagement angemessen zu bewerten. Zudem schafft ein klares Verständnis der verschiedenen sozialpolitischen Instrumente, wie sie die Corona-Krise hervorgebracht hat, eine wichtige Grundlage, um Rolle und Verantwortung des Wohlfahrtsstaates sinnvoll diskutieren zu können - nicht nur in Bezug auf Krisenzeiten, sondern auch hinsichtlich neuer Herausforderungen wie die digitalen und fragmentierten Arbeitsmarktrealitäten des 21. Jahrhunderts.
Eine wohlfahrtsstaatliche Typologie der Krisenmaßnahmen
Unser Forschungsprojekt untersuchte rechtsvergleichend die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen, die angesichts der Corona-Krise in Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien und dem Vereinigten Königreich zwischen März und Oktober 2020 getroffen wurden. Diese fünf Länder stellen eine Auswahl verschiedener westeuropäischer Wohlfahrtsstaats- und Arbeitsmarktmodelle dar. Hierdurch war es möglich, die jeweiligen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Lichte unterschiedlicher institutioneller Rahmenbedingungen zu analysieren. In unserer Analyse haben wir uns insbesondere auf drei Arten von politischen Reaktionen konzentriert: 1) Maßnahmen zur Stabilisierung der Gesamtwirtschaft, 2) Maßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen, einschließlich Kurzarbeit und öffentlichen Entschädigungsleistungen, und 3) Maßnahmen, die darauf abzielen, den spezifischen Bedürfnissen des Einzelnen in Bezug auf eine Reihe von Sozialleistungen während der Krise gerecht zu werden.
Das Projekt widmete sich insbesondere der Bestimmung der systemischen Merkmale und Funktionen der jeweiligen Kriseninstrumente. Hierdurch konnten wir die rechtlichen Maßnahmen typologisieren und ihren systemischen Charakter innerhalb der Architektur des Wohlfahrtsstaates identifizieren. Dabei haben wir danach gefragt, ob die eingeführten Maßnahmen in gewisser Weise „typisch“ für den jeweiligen Wohlfahrtsstaat sind oder ob sie eine systemische Neuheit darstellen, in der womöglich neue Prinzipien der Solidarität und Umverteilung zum Ausdruck kommen.
Insbesondere das soziale Sicherungsniveau für „atypisch Beschäftigte“ – Personen außerhalb eines regulären Angestelltenverhältnisses – war in den fünf europäischen Ländern vor der Krise sehr unterschiedlich. Im Zuge der Krise wurden sodann eine ganze Reihe von Sondermaßnahmen sowohl für reguläre Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als auch für „atypisch Beschäftige“ eingeführt. Einen besonderen Forschungsschwerpunkt bildeten deshalb die unterschiedlichen Positionen regulärer Beschäftigter und Personen am Rande traditioneller sozialer Sicherungssysteme während der Krise.
Impulse für den Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts
Das Projekt konnte zu einem besseren Verständnis der spezifischen sozial- und arbeitsmarkpolitischen Instrumente, die während der Corona-Krise eingeführt wurden, beigetragen und damit eine Grundlage für eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem wohlfahrtsstaatlichen Krisenmanagement schaffen. Zudem war es möglich, zur Relevanz der Maßnahmen über die Corona-Krise hinaus eine Einschätzung zu geben. Während im Ergebnis die meisten Krisenmaßnahmen zeitlich befristeter Natur waren, hat die Krise die sozialpolitischen Vulnerabilitäten verschiedener Personen außerhalb regulärer Beschäftigungsverhältnisse europaweit verdeutlicht. Dies dürfte die Reformdebatten zur Ausweitung des sozialen Schutzes auf weitere Arbeitsmarktgruppen intensivieren.
Auch in Bezug auf die zentrale Verantwortung des Wohlfahrtsstaates in Krisenzeiten, insbesondere im Zusammenhang mit Naturkatastrophen, konnte die Untersuchung ein Licht werfen. Denn viele der Krisenmaßnahmen stellten im Kern eine soziale Entschädigungsleistung dar, die zu zahlen ein Wohlfahrtsstaat letztlich verpflichtet ist. Das Projekt hat somit eine Relevanz, die über den aktuellen Krisenkontext hinausgeht, und zum Umgang mit den spezifischen Herausforderungen, vor denen die europäischen Wohlfahrtsstaaten im 21. Jahrhundert stehen, einen erheblichen Beitrag leisten können. Die Forschungsergebnisse wurden in zwei Working Papers im Open Access-Format veröffentlicht [2][3].
Literaturhinweise
MPISoc Working Paper 7/2020, Munich (2020)