Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften
Reiche der Erinnerung
Die Reiche, durch die Europa sich einst definierte, bestehen nicht mehr: Man kann heute keinem Einwohner Preußens, des Russischen Reichs der Romanows, der habsburgischen Donaumonarchie oder des Osmanischen Reiches mehr begegnen. Die einstigen Imperien sind aber keine bloßen Überbleibsel, die allenfalls in Geschichtsbüchern weiterleben. Noch heute ist die imperiale Vergangenheit Anlass für viele Menschen, sich mit ihr zu identifizieren, und sie löst Gefühle wie Nostalgie, Stolz, aber auch Angst und Verachtung aus. Erinnerungen und Nachleben dieser vergangenen Herrschaftsgebilde beschränken sich nicht auf historisches Wissen, sie prägen darüber hinaus auch die Gegenwart und die Zukunft.
Besonders augenfällig wird dieser Umgang mit den Spuren und Erinnerungen in ehemals habsburgischen und osmanischen Städten in Südost- und Mitteleuropa. In acht Städten lässt sich das sehr anschaulich nachverfolgen: Wien, Istanbul, Budapest, Sarajevo, Thessaloniki, Triest, Zagreb und Belgrad. Wien und Istanbul waren die Hauptstädte der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches. Postimperiale Nostalgie ist in beiden Städten in unterschiedlicher Form zu finden. Budapest und Sarajevo gehörten zu verschiedenen Zeiten beiden Reichen an und diese Vergangenheit ist dort weiterhin Bestandteil der politischen Debatte und von kulturellen Initiativen. Triest und Thessaloniki waren während eines Großteils der habsburgischen beziehungsweise osmanischen Geschichte wichtige Hafenstädte, heute aber sind sie Teil von Nationalstaaten, die diese Vergangenheit ignorieren. Doch auch in diesen Städten steht die Neubewertung der Imperien im Kontrast zum nationalstaatlichen Narrativ. In Zagreb, Belgrad und Sarajevo schließlich lässt sich parallel beobachten, wie sowohl die imperiale als auch die sozialistische Vergangenheit in der zeitgenössischen Kultur des urbanen Gedächtnisses sichtbar werden.
Die habsburgischen wie auch die osmanischen Herrschaftsvorstellungen erleben heute eine Renaissance. Imperien, so wird dabei häufig angenommen, bieten Lösungen für Konflikte, die auf ethnischer, religiöser und nationaler Vielfalt basieren. Solche Argumente sind oft eindimensional, aber es gibt auch eine Zunahme ernsthafter Studien über habsburgische und osmanische Organisationsmodelle von sozialer, religiöser und politischer Pluralität [1, 2]. Andere Forscher greifen auf die Begriffe von Svetlana Boym [3] zurück und untersuchen die Formen der „restaurativen“ und „reflektierenden“ Nostalgie für beide Reiche [4, 5].
Um zu erkennen, was Imperien ausmacht, betrachtet man sie am besten von außerhalb des Zentrums. Der Imperialismus ist von seiner Natur her ein zentripetales politisches Projekt. Indem sie materielles und kulturelles Kapital in den Metropolen sammeln, produzieren Imperien Randgebiete: periphere Räume, periphere Körper, periphere gesellschaftspolitische Formen. Was könnte es bedeuten, den Begriff des Imperiums aus der Perspektive dieser Peripherien zu dezentrieren und neu auszurichten? Ob in den zentralen Bezirken Wiens oder Istanbuls, am Rande von Zagreb oder Thessaloniki – eine solche Perspektive wirft neues Licht auf verschattete Regionen der Vergangenheit.
Dies bedeutet Neuland für die Erforschung von Imperien und Imperialismus. Imperiale Erinnerungen finden sich in der Atmosphäre der Kaffeehäuser aus der Habsburgerzeit in Triest, Wien, Budapest und Sarajevo. Die Trümmer am Ufer der Save, wo neoliberale Immobilienentwicklungsprojekte die von Gewalt geprägte Geschichte im Belgrad des 19. Jahrhunderts wiederholen, speichern genauso Erinnerungen wie die osmanischen, habsburgischen und sozialistischen Spuren im städtischen Gefüge von Sarajevo. Der Nachhall des Bevölkerungsaustauschs zwischen der Türkei und Griechenland von 1923 begleitet die Flüchtlinge, die heute durch Thessaloniki strömen. Die Inschriften der Grabsteine in Zagreb spiegeln die vernachlässigte politische und soziale Vergangenheit wider. Postimperialen Hinterlassenschaften begegnet man beim Gang durch die Wiener Kaiserzeitmuseen. Schließlich zeigen sich die anhaltenden Auswirkungen der imperialen Macht ganz real in den schwierigen Bedingungen für Forschung in Istanbul, die auf der restaurativen Nostalgie für osmanischen Ruhm beruhen, die die türkische Politik heute antreibt.
Die lebendigsten Anklänge an die alten Zeiten kommen überraschend alltäglich daher. Der Inspiration von Walter Benjamin folgend, zeigen sich „dialektische Bilder“ kaiserlicher Vergangenheit, die „plötzlich [...] blitzartig auftauchen“. Dazu muss man etwa in Zagreb lediglich zum Kuchenbäcker gehen. Vincek ist eine der berühmtesten Konditoreien Zagrebs. Die Glasvitrinen zeigen die vielfältige kaiserliche Vergangenheit Kroatiens und des Balkans insgesamt. Wer eine Schwäche für Süßes hat, kann ihr mit einer köstlichen rosa Süßigkeit nachgeben: Bečka kremšnita, Wiener Sahnetorte. Oder man bevorzugt Turska Baklava, türkisches Strudelgebäck. Neben Zucker, Mehl, Honig und Butter sind immer auch politische Geschichten und Erinnerungen an die untergegangenen Reiche wichtige Zutaten der kulinarischen Köstlichkeiten in Zagreb und den anderen ehemals habsburgischen und osmanischen Städten Südost- und Mitteleuropas.
Literaturhinweise
Cambridge University Press, New York (2008)
Journal of Modern Italian Studies 8 (1), 84–101 (2003)
In: Orienting Istanbul: Cultural Capital of Europe?, 88–103 (Ed. Göktürk, D.; Soysal, L.; Türeli, İ.). Routledge, London (2010)