Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung
Das epigenetische Gedächtnis der Pflanzen
Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt.
Ernst R. Hauschka (1926 - 2012). Deutscher Lyriker.
Ein gutes Gedächtnis erlaubt es, Erlebtes zu speichern, um zukünftiges Verhalten an neue Gegebenheiten anzupassen. Auch außerhalb des zentralen Nervensystems gibt es Erinnerung: Ein kollektiver Informationsspeicher ist das Gedächtnis der Gene in Form von epigenetischen Veränderungen. Verschiedene chemische Modifikationen bilden einen Schlüssel der Erinnerung, den Gene in jeder Zelle autonom tragen. Der epigenetische Schlüssel bestimmt, ob ein Gen oder Allel stark ausgeprägt oder, im Gegenteil, nur mit Vorsicht benutzt wird.
Der epigenetische Schlüssel benutzt Chromatin, das aus Histonen und anderen Proteinkomplexen bestehende Verpackungsmaterial des Erbträgers DNA, um Gene durch besondere Verdichtung des Erbguts stabil abzuschalten. Pflanzen können sich so beispielsweise an einen bereits erlebten Winter erinnern, um an warmen Frühjahrstagen zu blühen, während sie dies an warmen Tagen im Spätsommer unterlassen. Nur so können sie die Vegetationsperiode optimal für ihre Fortpflanzung nutzen. Wichtig und gleichzeitig interessant dabei ist, dass das Umschalten eines in die Blühinduktion involvierten Gens, beginnend bei normaler, signalabhängiger Repression hin zu epigenetischer, also signalunabhängiger Repression, in jeder Zelle zufällig erfolgt. Dadurch entsteht ein langsam ansteigender Gradient aus Zellen, die bereit sind, auf Frühlingssignale zu reagieren, weil ein Blühantagonist epigenetisch stabil abgeschaltet wurde. War das Wintersignal zu kurz, reagiert die Pflanze unwillig auf den Frühling, da weniger Zellen diesen epigenetischen Prozess vollzogen haben. Eine solche molekulare Erinnerung integriert nicht nur Umwelteinflüsse, sondern oft auch Reifungsprozesse. So werden Gene, die für die Entstehung des pflanzlichen Embryos und zur Unterdrückung der Keimung benötigt werden, mit Beginn der Keimung abgestellt, damit sich die Pflanze entwickeln kann.
Methode ist die Mutter des Gedächtnisses.
Thomas Fuller (1608 - 1661). Englischer Historiker.
Es gibt mehrere Proteinkomplexe, die in der Lage sind, Chromatin zu verdichten. Während der Entwicklung einer Pflanze sind Proteinkomplexe, die zur sogenannten Polycomb-Gruppe (PcG) gehören, besonders relevant [1]. PcG-Proteinkomplexe bestehen aus mehreren Proteinen, die zumeist unterschiedliche funktionale Domänen aufweisen. Eine wichtige Rolle spielen zwei Proteindomänen, die eine katalytische Aktivität besitzen. Die sogenannte SET-Domäne ist Teil des Polycomb repressive complex 2 (PRC2), der in der Lage ist, Methylgruppen an bestimmten Lysin Bausteinen von Histonen des Typs H3 anzubringen. Zum Polycomb repressive complex 1 (PRC1) wiederum gehören zwei Proteine mit als RING bezeichneten Domänen, die gemeinsam Histone des Typs H2A durch Ubiquitinierung kovalent markieren (Abb. 1). Nicht die kovalenten Histon-Markierungen selbst verdichten das Chromatin, sondern sind dazu da, andere PcG Einheiten zu rekrutieren und damit das lokale epigenetische Signal zu verstärken. Da Proteine, die zu unterschiedlichen PcG-Komplexen gehören, Affinität zueinander zeigen, kann man davon ausgehen, dass die Präsenz von PRC2 zur Rekrutierung von PRC1 führt und umgekehrt.
Das Gedächtnis Mancher ist wie ein Sieb, weil ihre Gedanken nicht groß genug sind, um darin haften zu bleiben.
John Knittel (1891 - 1970). Schweizer Schriftsteller.
Obwohl viele unterschiedliche Proteindomänen am PcG-Netzwerk mitwirken, ist keine davon in der Lage, DNA-Sequenzinformation zu erkennen und zu binden. Es war daher lange umstritten, ob Sequenzinformationen überhaupt eine Rolle im epigenetischen Prozess spielen. Die Ergebnisse verschiedener Arbeitsgruppen aus den letzten Jahren lassen uns diese Frage aber, zumindest für Pflanzen, eindeutig mit Ja beantworten [2-5]. Zwei unterschiedliche DNA Motive, bestehend aus Sequenzabfolgen von sechs bis sieben Basen, sind an denjenigen Genen angereichert, die durch PcG-Komplexe reguliert werden. Die RY-Sequenz wird von Transkriptionsfaktoren erkannt, die zur großen Familie der B3 Domänen-Proteine gehören. In der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) sind es die Familienmitglieder VAL1, VAL2 und VAL3, die sowohl RY-Motive als auch PRC1-Proteine binden. Interessanterweise treten bei Pflanzen, bei denen entweder VAL oder die PRC1 Bindungspartner mutiert sind, sehr ähnliche Entwicklungsstörungen auf. Ein zweites, an PcG-Zielgenen angereichertes DNA-Motiv wird als Telobox bezeichnet. Teloboxen werden von drei TRB Transkriptionsfaktoren erkannt, die zur nicht minder großen Familie der MYB Domänen-Proteine gehören. TRB1-3 binden außer Teloboxen auch die SET-Domäne tragenden Komponenten von PRC2.
Das Gedächtnis nimmt ab, wenn man es nicht übt.
Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v. Chr.). Römischer Redner und Staatsmann.
PcG-Zielgene können PRC2 durch TRB und PRC1 durch VAL Proteine rekrutieren. Interessanterweise treten diese Motive oft in Kombination auf, zum Beispiel ein RY Motiv und mehrere Teloboxen pro Zielgen. Es kann spekuliert werden, dass die Häufigkeit der Motive mit der Stärke des epigenetischen Gedächtnisses korreliert. Ein epigenetisches Gedächtnis bräuchte vielleicht tatsächlich einiges an manifesten Voraussetzungen, um bestehen zu können, da viele Faktoren dagegenhalten. Eine wichtige, wenn nicht sogar entscheidende Rolle spielt dabei die Zellteilung. Bei jeder Zellteilung nimmt der Gehalt an modifizierten Histonen ab, die epigenetische Information wird sozusagen verdünnt. Diese Verdünnung bietet Gelegenheit für andere Proteinkomplexe, antagonistisch zu PcG zu wirken, bis diese sich wieder fest an einem Gen etabliert haben. Auch PcG Antagonisten bewirken Histon-Modifikationen, die allerdings das Ablesen der Zielgene verstärken, statt sie zu verhindern.
Vergessen ist Gefahr und Gnade zugleich.
Theodor Heuss (1884 – 1963). Erster Präsident der Bundesrepublik Deutschland.
Man stelle sich vor, eine mehrjährige Pflanze vergäße nie mehr den ersten Winter. Schon im zweiten Jahr wäre sie nicht mehr in der Lage, Frühling und Herbst deutlich zu unterscheiden. Wir verstehen leider immer noch nicht, wie ein epigenetisches Gedächtnis gezielt zurückgesetzt wird, aber DNA Motive könnten eine wichtige Rolle spielen. Studien an Mutanten zeigen, dass embryonale Gene vor allem durch RY-VAL-PRC1-Interaktion abgestellt werden, während die Telobox-TRB-PRC2 Interaktion eher Gene betrifft, die zur Entwicklung der Blüte zu gegebener Zeit angestellt werden. Wir freuen uns darauf, in der Zukunft immer mehr über die Vernetzung dieser Mechanismen herauszufinden.
Literaturhinweise
Nature Genetics 49, 1546-1552 (2017)