Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Neuropsychiatrische Medikamente in klinischer Anwendung und experimentellen Systemen
Einleitung
Neuropsychiatrische Erkrankungen sind auf der ganzen Welt verbreitet, der langfristige Erfolg ihrer Behandlung mittels Medikamente ist jedoch sehr begrenzt. Im Allgemeinen sind die Schwierigkeiten auf Einschränkungen im Verständnis der Pathophysiologie dieser Krankheiten und dem Mangel an geeigneten Biomarkern und molekularen Zielen zurückzuführen. Die moderne Psychiatrie sucht bei der Entwicklung optimaler Therapeutika daher nach neuen Wegen. Sie führen über eine Klassifizierung der Psychopathologie basierend auf den Dimensionen beobachtbaren Verhaltens bis hin zu verbesserten neurobiologischen Maßnahmen zur Diagnose und Behandlung [1].
Mit unserer Arbeit ermöglichen wir eine neuartige evidenzbasierte Charakterisierung neuropsychiatrischer Medikamente auf Systemebene. Dazu haben wir eine Vielzahl von Informationen über die dynamischen Änderungen in der Neurochemie von Ratten nach Medikamentengabe zusammengeführt. Gemessen wurden diese Änderungen auf der Systemebene durch eine in vivo-Mikrodialyse. Diese Methodik [2] ermöglicht die quantitative Charakterisierung der extrazellulären Neurotransmitterkonzentrationen sowie ihrer Metaboliten, Neuropeptide und Hormone in den interstitiellen Räumen, insbesondere nach unterschiedlichen pharmakologischen Manipulationen. Sie spiegelt damit die dynamischen Änderungen in der Neurochemie nach akuter Arzneimittelanwendung sehr gut wider.
Syphad: Die weltweit größte Datenbank neurochemischer Fingerabdrücke von neuropsychiatrischen Arzneimitteln am Rattenhirn
Wir verwendeten eine Reihe chemoinformatischer Tools, mit denen man ursächliche Zusammenhänge zwischen der Polypharmakologie neuropsychiatrischer Arzneimittel und ihren Wirkungen auf Systemebene semi-quantitativ aufdecken kann, und präsentierten alle extrahierten Daten in einer umfangreichen, frei zugänglichen Datenbank (Systematic Pharmacological Database oder Syphad, www.syphad.com). Unser automatisches Screening umfasste 214.288 Publikationen und eine manuelle Inhaltsanalyse von 15.777 Forschungsartikeln. Weitere Daten wurden systematisch aus 3.383 in vivo-Mikrodialyse-Experimenten (110.674 Ratten) extrahiert (Abb.1). Damit schufen wir die nach unserem Wissen weltweit größte Datenbank neurochemischer Fingerabdrücke von neuropsychiatrischen Arzneimitteln am Rattenhirn [3].
Durch unsere systematische Literaturrecherche wurden neurochemische Reaktionsmuster identifiziert, das heißt, durch Arzneimittel induzierte Änderungen der extrazellulären Konzentrationen von 59 Neurotransmittern, Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Metaboliten innerhalb eines Netzwerks von 117 Gehirnregionen in beiden Hemisphären [4]. Insgesamt wurden neurochemische Reaktionen auf 258 klinisch zugelassene und experimentelle neuropsychiatrische Medikamente analysiert. Das Ergebnis dieser Arbeit, die Datenbank Syphad, ist der weltweiten wissenschaftlichen Forschung frei zugänglich und ermöglicht es den Forschern beispielsweise zu erkennen, welche Wirkungen einer Substanz bereits untersucht und bekannt sind.
Die Syphad-Datenbank deckt Diskrepanzen in der Arzneimittel-Einstufung auf
Der Tanimoto-Koeffizient (Tc) ist ein statistisches Werkzeug, das es erlaubt, Ähnlichkeiten in Clustern zu berechnen. Die Berechnung des Tc für zusammengesetzte neurochemische Reaktionen kann zeigen, ob Verbindungen mit ähnlichen Codes häufiger ähnliche neurochemische Reaktionsmuster (Intra-ATC-Code-Ähnlichkeit) aufweisen als andere Verbindungen in anderen ATCKlassifikationen [5]. Unsere mathematisch-chemoinformatische Analyse der Syphad-Datenbank enthüllte kritische Probleme bei der aktuellen Einstufung von Psychopharmaka. Es zeigte sich, dass die aktuelle Eingruppierung in klinische Kategorien, wie z.B. Antidepressiva, nicht mit der biologischen Wirkung korreliert. In anderen Worten: zwei Medikamente, die beide als Antidepressiva eingesetzt werden, können auf das Gehirn, genau genommen auf die Botenstoffe darin, auf sehr unterschiedliche Weise wirken, so dass eines der Antidepressiva in seiner biologische Wirkung mehr einen Neuroleptikum ähnelt – und entsprechend eingestuft werden sollte.
Ausblick
Unsere Analyse weist darauf hin, dass die aktuelle Forschungsstrategien in Neuropsychopharmakologie grundsätzlich hinterfragt werden müssen. Viele Behandlungsansätze richten sich zum Beispiel auf die Beeinflussung des Botenstoffes Dopamin, und es liegen über 150.000 Studien vor, die dopaminerge Prozesse untersucht haben. Unsere Arbeit zeigt jedoch, dass Dopamin zumindest für pharmakologische Studien nicht immer die beste Wahl darstellt. Der Grund kann seine mangelnde Spezifität sein: Dopamin reagiert auf zu große Zahl von Substanzen.
Internationale Konsortien und Initiativen haben es sich bereits zum Ziel gesetzt, diese Diskrepanzen kritisch zu durchleuchten, z.B. das Research Domain Criteria (RDoC) des National Institute of Mental Health in USA oder das Neuroscience-based Nomenclature Projekt der European Colleage of Neuropsychopharmacology. Unsere Arbeit ist ein wesentlicher Schritt zur systematischen Klassifizierung von Medikamenten und wird dazu beitragen, dass diese Medikamente optimal und mit deutlich weniger Nebenwirkungen eingesetzt werden.
Literaturhinweise
Nature Communications 9(1) , 4699 (2018)