Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen
Konnektomik in einer marinen Larve: Klein, aber mächtig
Einleitung
Die meisten der bodenorientierten marinen Wirbellosen, zum Beispiel Muscheln, Schnecken und Borstenwürmer, entwickeln sich über Larvalstadien, die als Bestandteil des Zooplanktons frei schwimmend vorkommen. Diese Larven sind für die Ausbreitung und den evolutionären Erfolg von Meerestieren sehr wichtig. Sammelt man zur richtigen Jahreszeit, wenn sich viele Tiere vermehren, mit einem Netz Planktonproben aus dem Meer, findet man eine erstaunliche Vielfalt an Larvenformen (Abb. 1).
Die Larven benutzen für ihre Schwimmbewegungen spezielle haarartige Zellfortsätze, die als Zilien bezeichnet werden. Die Zilien sind in Zilienbändern organisiert oder bedecken die gesamte Oberfläche der Larven. Die rhythmische Bewegung der Zilien sorgt für die Vorwärtsbewegung der Larven im Wasser. Viele Larven verfügen zudem über eine ausgefeilte Muskulatur, die es ihnen ermöglicht, den Körper zu biegen, Nahrung aufzunehmen oder auf dem Untergrund zu krabbeln. Anders als beispielsweise Menschen oder Insekten, die nur ihre Muskeln zur Bewegung benutzen, verfügen marine Larven also über zwei Arten von Bewegungssystemen, und die weitgehende Nutzung sowohl von Muskeln als auch von Zilien deutet darauf hin, dass diese duale Form der Fortbewegung im evolutionären Sinne uralt ist. Die Tübinger Forscher planen, durch die Untersuchung der Funktionsweise mariner zilientragender Larven mehr darüber zu erfahren, wie die Zooplankton-Wanderung erfolgt, wie neuronale Schaltkreise Verhalten erzeugen und wie sich Fortbewegungs- und Nervensysteme entwickelt haben. Zu diesem Zweck haben sie eine Art ausgewählt, die sich im Labor züchten und kultivieren lässt: den Meeresringelwurm Platynereis dumerilii. Weil sich Platynereis problemlos in Aquarien halten lässt und für genetische Manipulationen zugänglich ist, gilt diese Spezies in den letzten Jahren als idealer Modellorganismus für die Netzwerk-Neurowissenschaften auf Zellebene [1].
Konnektomik – Abbildung der Schaltkreise des Gehirns
Ein erstes Ziel der Forschungsgruppe ist die Erstellung eines kompletten Schaltplans des Nervensystems einer Platynereis Larve [2–4]. In Nervensystemen schließen sich Neuronen zu komplexen Netzwerken zusammen. Die Kartierung dieser Netzwerke ist wichtig, um zu verstehen, wie Neuronen miteinander kommunizieren und um auf diese Weise nachvollziehen zu können, wie das Gehirn arbeitet. Die Erstellung solcher Schaltpläne, die als Konnektome bezeichnet werden, ist inzwischen ein zentrales Anliegen der Neurowissenschaften geworden.
Zur Erstellung von Konnektomen ist die Abbildung von ultradünnen Schnitten aus Nervengewebe in einem Elektronenmikroskop erforderlich. Das Elektronenmikroskop kann Bilder mit einer ausreichend hohen Auflösung erstellen, um einzelne Synapsen mit einer Größe von einhundert Nanometern aufzulösen. Bei einer derart hohen Auflösung lassen sich dadurch jedoch nur relativ kleine Bereiche von wenigen hundert Mikrometern abbilden - das Gehirn eines Elefanten wäre mit Sicherheit zu groß für solche Analysen. Auch das Gehirn einer Maus ist mit seiner Größe von rund einem Kubikzentimeter noch immer zu groß und repräsentiert mehrere tausend Male das Volumen, das sich heute selbst mit den teuersten Mikroskopen darstellen ließe. Das heißt: Nur winzige Fragmente von solchen großen Gehirnen könnten bei synaptischer Auflösung analysiert werden.
Idealerweise sollen aber alle Neuronen eines Tieres zusammen mit allen Muskelzellen und weiteren, verschiedenen Effektoren betrachtet werden können, die Bewegungen und andere Leistungen, beispielsweise die Drüsensekretion, hervorbringen. Aufgrund der durch die verfügbaren Technologien vorgegebenen Grenzen konnten Ganzkörper-Konnektome bisher erst von zwei Arten erstellt werden, nämlich vom Fadenwurm Caenorhabditis elegans und von der Kaulquappenlarve der Seescheide Ciona intestinalis [5]. Beide Tiere sind weniger als einen Millimeter groß und bestehen nur aus wenigen hundert Nervenzellen. Die Tübinger Forscher widmen sich dem Ganzkörper-Konnektom von Platynereis – eines, das ähnlich groß ist, aber aus wesentlich mehr Neuronen besteht als Caenorhabditis oder Ciona. Das Nervensystem von Platynereis beherbergt tausende von Neuronen und steuert ein reichhaltiges Verhaltensrepertoire.
Die Augen von Platynereis und der Ursprung des Sehens im Meer
Ein Schaltkreis von Platynereis, der vollständig dargestellt werden konnte, ist der Schaltkreis der einfach gearteten Augen der Larven. Die Rekonstruktion und Funktionsweise dieses Schaltkreises hat das Verständnis der Forscher darüber erweitert, wie überhaupt die ersten Augen im Laufe der Evolution entstanden sein könnten.
Man weiß nicht, wann genau sich die ersten Sehsysteme in der Evolution entwickelt haben. Aber fossile und phylogenetische Nachweise deuten darauf hin, dass diese Entwicklung in der Meeresumwelt vor mehr als einer halben Milliarde Jahren in der Kambrium-Ära der Erdgeschichte einsetzte. Die ersten Augen waren durch eine schlechte räumliche Auflösung gekennzeichnet und erlaubten den Tieren wohl nur, helle oder dunkle Flecken in ihrem Umfeld zu erkennen [6]. Kann man dies schon als Sehen bezeichnen? Ja. Laut allgemeiner Definition repräsentiert das Sehen die Fähigkeit eines Tieres, Unterschiede in der Lichtintensität im Raum auszumachen. Beim Menschen ist der Sehsinn außerordentlich hochentwickelt; er ermöglicht uns eine sehr hohe Auflösung, Licht als Formen, Farben und Bewegung wahrzunehmen. Bei vielen anderen Tieren, wie zum Beispiel Schnecken, verschiedenen Würmern oder Bärtierchen, ist das Sehvermögen aufgrund geringerer räumlicher Auflösung und durch fehlendes Farbsehvermögen dagegen wesentlich schwächer ausgebildet. Solange aber eine räumliche Auflösung gegeben ist, wenn auch nur grobkörnig, sprechen wir von Sehsystemen. In seiner einfachsten Form sollte ein Sehsystem in der Lage sein, zwei Pixel unterscheiden zu können, die das Sichtfeld des Tieres in zwei Hälften unterteilen. Genau diese Verhältnisse wurden in der Platynereis Larve vorgefunden: Die Platynereis Augen vermitteln visuelle Phototaxis, ein Verhalten, bei dem sich die planktischen Larven entweder dem Licht zu oder vom Licht abwenden und somit entweder zur Meeresoberfläche hin schwimmen oder sich von ihr entfernen. Diese relativ einfache Aufgabe stützt sich auf die Verbindung zwischen den Augen - mit Zwei-Pixel-Auflösung - und den Muskeln im Rumpf, die die Richtungsänderung des Tiers beim Schwimmen umsetzen. Ein solcher Schaltkreis, der das einfachste visuell orientierte Verhalten steuert, könnte sich im Verlauf der Evolution durch Hinzufügen von immer mehr Zellen zu Augen mit einem höheren Auflösungsvermögen weiterentwickelt haben.
Von den Augen zu den Muskeln – die Funktionsweise des visuellen Schaltkreises der Platynereis Larve
Wie vermitteln die Augen der Platynereis Larve die Beugung der Rumpfmuskeln während der Kehrtwenden zum Licht hin oder vom Licht weg? Diese Frage konnte tatsächlich mithilfe der Konnektomik untersucht werden. Die Forscher haben einen Datensatz aus elektronenmikroskopischen Bildern erstellt, die den gesamten Körper einer Larve umfassen und über 5.000 ultradünne Schnitte enthalten (Abb. 2). Die Wissenschaftler haben daraufhin die neuronalen Pfade - also die Verschaltung - von den lichtaufnehmenden, Photorezeptorenzellen der Augen durch das Gehirn verfolgt.
Neuronen kommunizieren über spezielle Verbindungsstellen miteinander, die als Synapsen bezeichnet werden; diese wurden im Elektronenmikroskop sichtbar. Wenn sich der Leitungsdraht eines Neurons, als Axon oder Dendrit bezeichnet, über Synapsen mit den Leitungsdrähten eines anderen Neurons verbindet, deutet das darauf hin, dass diese Neuronen Teil desselben funktionellen neuronalen Netzwerks sind. Die Aufnahmen zeigen, dass mehrere Schritte über Zwischenneuronen, sogenannte Interneuronen, erforderlich sind, bis die vom Auge ausgehenden Leitungsdrähte vier bestimmte Neuronen erreichen. Diese großen Neuronen schicken ihr Axon vom Gehirn zum Rumpf des Tieres. Im Rumpf verschaltet sich jedes dieser Neuronen mit einem der vier Muskelbündel, die im Rumpf der Larve in Längsrichtung angeordnet sind; sie sind es, die die Muskelkontraktion, also die Bewegung der Larve, regeln und werden auch als Motoneuronen bezeichnet (in Abbildung 2 in der Zeichnung unten rechts als rote Punkte dargestellt).
Bei der Analyse des gesamten Schaltplans zeigte sich ein Zickzack-Pfad mehrerer Neuronen, die die Augen mit den Muskeln verbinden. Auf dem Schaltplan war beispielsweise ersichtlich, dass die Augen auf der linken und rechten Seite des Kopfes miteinander verbunden sind, und es gab sogar Hinweise auf einen Mechanismus, mit dem die beiden Seiten einfallendes Licht vergleichen können. Die von jedem Auge ausgehenden neuronalen Zickzack-Pfade verzweigten sich zudem vor dem Erreichen der Muskeln derart, dass jedes Auge ein Signal an die Muskeln sowohl auf der rechten als auch der linken Seite des Körpers abgeben kann. Das Tier muss dann – abhängig davon, ob es sich dem Licht zu oder vom Licht abwenden möchte – „entscheiden“, welche Seite stärker aktiviert werden soll. Solche Verschaltungsdetails helfen uns zu verstehen, wie das Tier das, was es tut, am Ende tut.
Die Verschaltung des visuellen Systems der Platynereis Larve repräsentiert damit die erste vollständig kartierte visuelle Verschaltung eines Tieres, die aus evolutionärer Sicht eine frühe, einfache Vorstufenstruktur repräsentiert. Tiere mit höher auflösenden Augen weisen eine weitaus komplexere Verschaltung auf.
Wie fest verdrahtet sind die Leitungsdrähte im Gehirn?
Eine interessante Frage in Bezug auf die Verschaltung im Gehirn betrifft die Ähnlichkeit von Schaltplänen verschiedener Individuen. Die Frage lautet: Wie ähnlich sind sich die Nervensysteme von zwei Larven? Es könnte sein, dass jedes Tier grundsätzlich zunächst über lose miteinander verbundene Neuronenbündel verfügt, die abhängig davon, was das Tier erlebt, nachfolgend spezielle Verbindungen eingehen. Mit anderen Worten: Während der Entwicklung eines individuellen Organismus bilden sich nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum zunächst Verschaltungen, die später, abhängig von der Erfahrung, spezielle Verbindungen herstellen. In diesem Szenario kann man nicht davon ausgehen, dass zwei Individuen bei der Lösung ein und derselben Verhaltensaufgabe zu der exakt gleichen Lösung, sprich: Verschaltung der Neuronen, gelangen. Ein alternatives Szenario wäre, dass die spezifischen Morphologien und Verschaltungen des Gehirns genetisch determiniert sind und damit von vornherein festliegen. Dies würde bedeuten, dass sich zwei Individuen sehr ähnlich sein dürften. Man vermutet, dass die Gehirne von einfacheren Wirbellosen genetisch bedingt fest verdrahtet sind, während komplexere Gehirne, zum Beispiel von Säugetieren, durch Erfahrungen geprägt werden und somit variabler sind. Allerdings wissen wir wenig über die Verschaltung auf Synapsenebene, auch als Verschaltungsstereotypie bezeichnet, zwischen Individuen derselben Art. Zur Untersuchung dieser Frage haben die Forscher den Schaltplan des Sehsystems einer zweiten Platynereis Larve in demselben Entwicklungsstadium untersucht. Sie fanden heraus, dass sich die beiden Individuen sowohl in Bezug auf Anzahl und Form ihrer Neuronen als auch hinsichtlich der Spezifität der Verbindungen zwischen den Neuronen bemerkenswert ähnlich waren [3]. Diese Arbeit bestätigte somit, dass das Gehirn der Platynereis Larven von vornherein fest verdrahtet ist und einer sehr speziellen genetischen Steuerung zu unterliegen scheint.
Die Ursprünge der Kognition im Meer
Die Augen der Platynereis Larven sind nur eines der vielen Sinnessysteme dieser planktischen Organismen. Die mit diesen Larven durchgeführten Verhaltensexperimente haben gezeigt, dass viele weitere Umweltfaktoren bestimmte Verhaltensreaktionen auslösen können. Dazu zählen UV-Licht, das von UV-empfindlichen Zellen außerhalb der Augen erkannt wird, Temperatur - die Larven verfügen über verschiedene Sensoren für Kälte und Wärme, Wasserbewegung und wasserbasierte Vibrationen, Wasserdruck und verschiedene Chemikalien (Abb. 3; [7]). Alle diese Sinne vermitteln Verhaltensreaktionen, gesteuert durch bestimmte neuronale Netze, die im Fokus aktueller und künftiger Forschungsarbeiten der Tübinger Gruppe sind.
Warum benötigen diese einfachen Tiere so viele Sinne? 1996 formulierte der australische Philosoph Peter Godfrey-Smith eine Umweltkomplexitätsthese als konzeptionellen Rahmen zur Erklärung des evolutionären Ursprungs der tierischen Kognition [8]. Laut dieser These „besteht die Funktion der Kognition darin, den Agierenden zu befähigen, die Umweltkomplexität zu bewältigen.” Nach dieser Vorstellung mussten Tiere - und letztlich alles Lebensformen auf diesem Planeten - die Fähigkeit entwickeln, ihre Umwelt wahrzunehmen und ihr Verhalten an den jeweiligen Zustand ihre Umgebung anzupassen. Kognitive Fähigkeiten, je besser sie sind, erhöhen die Überlebenschancen.
Die Platynereis Larven sind lebende Beispiele für die Umweltkomplexitätsthese. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei mehr als 800 der rund 5.000 Zellen einer Larve um sensorische Neuronen für das Erkennen des Zustands einer Umweltvariablen. Die Funktion sämtlicher Sinnessysteme der Larve und deren Interaktionen untereinander aufzuklären, betrachten die Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als eine ihrer bedeutendsten künftigen Herausforderungen. Die Ergebnisse werden Aufschluss darüber geben, inwieweit sich die Umweltkomplexität dahingehend widerspiegelt, was im Gehirn der Platynereis Larve passiert. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass marine Larven keine passiven Drifter, sondern bemerkenswert komplexe, aktive Schwimmer sind, die auf viele verschiedene Parameter in ihrer Umwelt reagieren, während sie durch die Meere navigieren.