Sprache steckt in den Genen

Es ist wissenschaftlich unumstritten, dass die Voraussetzung für die einzigartige menschliche Begabung für Sprache und Sprechen im Erbgut von Homo sapiens stecken muss. Doch ein einzelnes „Sprachgen“ existiert nicht. Wissenschaftler der Abteilung Sprache und Genetik am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen ergründen die genetischen Spuren der menschlichen Kommunikationsfähigkeit.

Text: Stefanie Reinberger

„Untersuchst du etwa immer noch dieses eine Gen? Musst du damit nicht langsam mal fertig sein?“ Diese irritierte Nachfrage hört Simon Fisher ab und an von seinen Eltern. Der Max-Planck-Direktor und Leiter der Abteilung Sprache und Genetik am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen muss lachen, wenn er davon erzählt. Für ihn ist es selbstverständlich, dass er auch 15 Jahre nach seinem großen Coup noch lange nicht locker lässt. Denn das Geheimnis um FOXP2, dem Gen, das die Medien 2001 als „das Sprachgen“ bezeichneten, ist noch lange nicht gelöst. Ebenso wenig wie der genetische Hintergrund des einzigartigen menschlichen Talents zur Kommunikation. „Wir dürfen sicher sein, dass die Grundlage für Sprache und Sprechen teilweise im Genom liegt“, sagt Fisher. „Aber es war von vornherein klar, dass ein einzelnes Gen diese herausragende Fähigkeit nicht erklären kann.“

Doch beginnen wie von vorne. Es war in den 1990er Jahren, als Simon Fisher, damals noch am Wellcome Trust Centre for Human Genetics an der Oxford University, mit seinen Kollegen das Genmaterial einer ganz besonderen britischen Familie unter die Lupe nahm. Die so genannte „KE-Familie“ fiel dadurch auf, dass viele ihrer Mitglieder unter gravierenden Sprachstörungen litten, und das über mehrere Generationen hinweg. Die Betroffenen hatten Schwierigkeiten, Laute deutlich zu artikulieren, aber auch Probleme mit Satzbau, Grammatik und weiteren sprachlichen Aspekten – obwohl sie sonst keine derart straken Einschränkungen in Sachen Intelligenz aufwiesen.

In jahrelanger akribischer Detailarbeit gelang es Fisher und seinen Kollegen, das Problem der Familie genetisch einzukreisen. „Das war noch bevor das menschliche Genom komplett entschlüsselt war. Damals war die Suche nach den genetischen Ursachen bestimmter Phänomene noch sehr zeit- und arbeitsintensiv“, sagt der Max-Planck-Forscher. Schließlich fanden sie den verantwortlichen Fehler im Erbgut: In einem Gen namens FOXP2 war bei den Betroffenen ein einzelner Buchstabe des genetischen Codes verändert. Das führt dazu, dass eine andere Aminosäure in das von FOXP2 kodierte Protein eingebaut wird. Das so entstehende Protein ist nicht voll funktionstüchtig und beeinträchtigt dadurch die Sprachentwicklung von Menschen mit dem fehlerhaften Gen.

Vermeintliches Sprachgen auch bei Tieren

Doch FOXP2 ist kein rein menschliches Gen. Es ist bei Wirbeltieren weit verbreitet und findet sich etwa bei nichtmenschlichen Primaten, Nagetieren, Vögeln und sogar bei Reptilien und Fischen. Und es spielt bei vielen verschiedenen Tieren in vergleichbaren Gehirnregionen eine Rolle. Eingehende Untersuchungen mit unterschiedlichen Spezies lassen den Schluss zu, dass es wichtig ist für die Vernetzung von Gehirnzellen, also dafür, wie sie Verbindungen knüpfen und wie sich diese Verbindungen beim Lernen verändern. Singvögel brauchen FOXP2 etwa, um Singen zu lernen – in gewisser Weise also ebenfalls für die Kommunikation. Mäuse dagegen benötigen das Gen, um Bewegungsabläufe zu lernen.

Dazu kommt: FOXP2 ist hoch konserviert, das heißt, selbst bei nur entfernt verwandten Arten kodiert das Gen äußerst ähnliche Proteine, es muss daher uralt sein. So unterscheiden sich die Proteine von Mensch und Maus lediglich in drei Aminosäuren. Interessanterweise entdeckte Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in Zusammenarbeit mit Fisher im Jahr 2002, dass zwei der Unterschiede in den Aminosäuren erst entstanden, nachdem sich die menschliche Abstammungslinie von der des Schimpansen getrennt hatte. Spätere Arbeiten von Pääbos Team ergaben, dass das FOXP2-Gen beim Neandertaler das gleiche Protein kodierte wie beim modernen Menschen. Das deckt sich mit der zunehmend anerkannten These, dass – entgegen früherer Annahmen – unsere ausgestorbenen Vettern bereits ein gewisses Sprachvermögen gehabt haben dürften. Möglicherweise wurde eine der entscheidenden genetischen Grundlagen für Sprache und Sprechen früh in der Evolution gelegt: nach der Abspaltung vom Schimpansen, aber vor dem Auftreten des Neandertalers, also vor mindestens 300.000 bis 400.000 Jahren.

Aber sollte wirklich in der menschlichen Version von FOXP2 der Schlüssel zu unserer einzigartigen Kommunikationsfähigkeit liegen? Vermutlich nicht – zumindest nicht der einzige. Denn es existieren unzählige Menschen, die zwar Schwierigkeiten mit Sprache und Sprechen haben, bei denen aber das FOXP2-Gen im Erbgut fehlerfrei ist. Neuere Arbeiten von Simon Fisher, für die er neuste DNA-Sequenziertechniken verwendete, haben gezeigt, dass auch Fehler in anderen Genen als FOXP2 zu Beeinträchtigungen bei Sprache und Sprechen führen können. In den meisten Fällen ist die Sache jedoch so kompliziert, dass sie sich gar nicht an einem einzelnen veränderten Gen festmachen lässt. Das gilt erst recht für die unterschiedlichen sprachlichen Fähigkeiten, wie sie in der breiten Bevölkerung zu beobachten sind. „Wir betrachten diese Unterschiede als mulitfaktorielles Phänomen, ähnlich wie Körpergröße, Blutdruck oder Gewicht“, sagt Fisher. Das heißt: Eine ganze Reihe von Genen entscheidet darüber, wie gut ein Individuum sprechen kann – ebenso wie es zahlreiche Gene sind, die beeinflussen, wie groß oder schwer der einzelne ist, oder wie anfällig ein Mensch für hohen oder niedrigen Blutdruck ist. Dafür müssen nicht unbedingt einzelne Gene mutiert sein. Vielmehr handelt es sich um so genannte Polymorphismen: Varianten im Genom, die oftmals nur einen einzelnen Buchstaben des genetischen Codes betreffen, und die in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Ein einzelner Polymorphismus hat dabei meist keinen großen Effekt. Vielmehr summieren sich mehrere auf und führen so dazu, dass manche Menschen beispielsweise in die Länge schießen, während andere klein bleiben.

Wie lässt sich "gute Sprache" messen?

Das kann man sich bei der Sprache im Prinzip ganz ähnlich vorstellen – denn auch hier gibt es zahlreiche Varianten. Manche Menschen sind besonders eloquent oder lernen leicht Fremdsprachen, während andere an einer sauberen Artikulation scheitern oder nur einfache Sätze formulieren und erfassen können. Sicher beeinflusst auch die Umgebung, wie gut der einzelne mit Sprache umgehen kann. „Aber wir wissen, dass Unterschiede im Sprachvermögen auch in hohem Maße erblich bedingt sind. Sie hängen also stark von unserer genetischen Ausstattung ab“, erklärt Fisher und fügt hinzu: „Im Gegensatz zu den Kollegen, die sich mit Größe, Gewicht oder Blutdruck beschäftigen, stehen wir jedoch vor einer ganz besonderen Herausforderung. Wir haben es nicht mit eindeutig messbaren Phänomenen zu tun.“ Während jeder, der über einen Zollstock verfügt, seine Körpermaße ermitteln kann, sind die Abstufungen zwischen „guter Sprache“ und „schlechter Sprache“ schwer zu definieren. Dazu kommt: Weil die Effekte von Polymorphismen gering sind, brauchen die Wissenschaftler viele Testpersonen, um die gesuchten Eigenschaften zu erfassen – möglichst mehrere Tausend Menschen.

„Das heißt, wir könnten zwar im Genom nach Polymorphismen fahnden, was mit heutigen molekularbiologischen Methoden recht einfach ist“, sagt Fisher. „Aber wir können deren Einflüsse auf die Sprache derzeit noch nicht verlässlich interpretieren.“ Vor diesem Hintergrund macht sich der Wissenschaftler derzeit gemeinsam mit Kollegen aus anderen Abteilungen des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik daran, klarer zu definieren, welche unterschiedlichen Fähigkeiten Sprache und Sprechen zugrunde liegen. Ziel ist, sie standardisiert und genauer messbar zu machen, beispielsweise mittels Onlinetests oder App-basierter Untersuchungen. Das könnte helfen, die vielen kleinen Einflüsse verschiedener Genvarianten auf Sprache und Sprechen eines Tages besser zu verstehen.

Es geht also nicht darum, „das“ Sprachgen zu finden, sondern vielmehr, die genetischen und neurobiologischen Netzwerke zu entschlüsseln, die der Sprache und dem Sprechen zugrunde liegen. Dabei spielen Polymorphismen eine Rolle, die als winzige Stellschrauben sozusagen über das Feintuning der Sprachfähigkeit entscheiden. Aber es gibt in jedem Netzwerk auch Schlüsselstellen, die darüber bestimmen, ob das Zusammenspiel prinzipiell funktioniert oder ob einzelne Bereiche oder sogar das gesamte Netzwerk ausfallen. Und das führt Fisher und seine Mitarbeiter im Max-Planck-Institut in Nijmegen letztlich wieder zurück zu FOXP2.

Dirigent im Gen-Orchester

Wie man heute weiß, handelt es sich bei FOXP2 um einen so genannten Transkriptionsfaktor. Als solcher reguliert er die Aktivität von bis zu 1000 Genen. Das kann man sich vorstellen wie bei einem Orchester, bei dem der Dirigent das Zusammenspiel steuert und so die Kakophonie durcheinander dudelnder Instrumente zum harmonischen Wohlklang eines gemeinsamen Musikstücks zusammenfügt. Und es liegt nahe, dass im Orchester von FOXP2 einige Mitspieler mehr Einfluss auf Sprache und Sprechen haben als andere – zumindest beim Menschen.

Daher haben Fisher und seine Mitarbeiter das weitläufige Netzwerk der Gene, die FOXP2 koordiniert, nach Genen durchforstet, die für Sprache und Sprechen besonders relevant sind, und ihre Funktion im Gehirn untersucht. Fündig geworden sind sie gleich bei einer ihrer ersten Versuche: mit einem Gen namens CNTNAP2, das direkt von FOXP2 ausgeschaltet wird. Defekte in diesem Gen stehen im Zusammenhang mit Sprachproblemen und mit Autismus. Und CNTNAP2 ist insbesondere während der Entwicklung des Gehirns aktiv und beeinflusst die Nervenzellverbindungen – und zwar vor allem in den neuronalen Netzwerken, die für Sprache und Sprechen eine Rolle spielen.

Mittlerweile haben die Wissenschaftler der Abteilung Sprache und Genetik noch weitere interessante Kandidatengene im Visier. Doch es ist auch klar: Bis das weitläufige Netzwerk, das FOXP2 in seiner Rolle als Orchesterdirigent koordiniert, erfasst und verstanden ist, wird noch eine Menge Arbeit nötig sein. Das Gen, an dem Fisher bereits seit mehr als 15 Jahren forscht, wird ihn also sehr wahrscheinlich noch lange Zeit beschäftigen.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht