Bessere Früherkennung von Schizophrenie

Forschende wollen mit Künstlicher Intelligenz die Behandlung von Schizophrenie verbessern

Auf den Punkt gebracht

  • Virtual Brain Twin: In dem Projekt entwickeln Forschende ein digitales Abbild des Gehirns. Grundlage sind KI-Analysen von MRT-Aufnahmen, Blutwerten, EEGs und genetischen Daten.
  • Früherkennung: Ziel ist es, die ersten Anzeichen einer Schizophrenie richtig deuten und diese daraufhin frühzeitig behandeln zu können.
  • Spezifischere Therapie: Der digitale Zwilling soll die Wirkung der unterschiedlichen Behandlungen bei einem Patienten simulieren und so die wirksamste Therapie auswählen. Die Software soll zudem dabei helfen, spezifischer gegen die verschiedenen Formen der Schizophrenie wirkende Medikamente zu entwickeln.  
  • Krankheitsspektrum: Das Modell könnte auch dabei helfen, die Behandlung von Erkrankungen wie Depression, Alzheimer oder Parkinson zu verbessern.

Text: Catarina Pietschmann

Psychiatrische Erkrankungen kündigen sich häufig bereits mit subtilen Veränderungen im Körper an, bevor erste äußerliche Symptome auftreten. Die in den medizinischen Untersuchungsdaten verborgenen Hinweise sind jedoch mit herkömmlichen Analysen nicht zu entdecken. Nikolaos Koutsouleris am Max-Planck-Institut für Psychiatrie setzt daher auf Künstliche Intelligenz. Zusammen mit einem internationalen Forschungsteam entwickelt er ein digitales Abbild des menschlichen Gehirns. Es soll dabei helfen, psychiatrische Erkrankungen früher zu erkennen und zielgerichteter zu behandeln.

In mancher Hinsicht unterscheidet sich die Arbeit von Seismologinnen und Psychiatern gar nicht so sehr: Erstere registrieren kleinste Erschütterungen der Erdkruste, um Erdbeben und Vulkanausbrüche vorhersagen zu können. Je früher dies geschieht, desto besser, damit die Bevölkerung gefährdeter Gebiete gewarnt und evakuiert werden kann. Psychiater wiederum versuchen aus auffälligen Veränderungen des Verhaltens Anzeichen einer psychischen Erkrankung herauszulesen. Auch sie wollen aus „kleinsten Erschütterungen“ der Psyche eines Menschen so früh wie möglich erkennen, wie hoch sein Risiko für ein größeres „Beben“, eine psychiatrische Erkrankung, ist.  

Von der Psychose zur Schizophrenie

Eine weitere Gemeinsamkeit: Mit verlässlichen Vorhersagen tun sich beide Disziplinen bis heute schwer. Vulkanausbrüche und Erdbeben lassen sich nicht mit letzter Gewissheit vorhersagen – ebenso wenig, wie stark diese sein werden. Ähnlich ist es in der Psychiatrie: „Ob sich zum Beispiel aus einer einzelnen kurzzeitigen Psychose eine schwere Schizophrenie entwickelt, lässt sich bislang kaum prognostizieren“, sagt Nikolaos Koutsouleris, Oberarzt und Professor für Präzisionspsychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am King’s College London sowie Leiter einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

Dabei wäre dies entscheidend für das weitere Leben des Betroffenen, denn eine Schizophrenie kann Menschen völlig aus der Bahn werfen. Betroffene brechen häufig Schule oder Studium ab, sie ziehen sich von Familie und Freunden zurück und landen in Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung. Die Erkrankung ist zudem ein soziales Stigma, obwohl sie anders als der Name („gespaltener Geist“) suggeriert nichts mit einer Persönlichkeitsspaltung zu tun hat. Stattdessen äußert sie sich in Wahnvorstellungen, Ruhelosigkeit, Passivität, Konzentrationsstörungen bis hin zu Bewegungsauffälligkeiten wie Erstarren, Grimassen schneiden oder ziellosem Bewegungsdrang. Akute psychotische Phasen, in denen Wahrnehmung und Verhalten stark verändert sind, können über Wochen und Monate anhalten, manchmal sogar gar nicht mehr zurückgehen.

Falsche Diagnosen

Zwischen drei und vier Prozent der Bevölkerung leiden im Laufe Ihres Lebens einmal an einer Psychose, fast zwei Drittel von ihnen entwickelt schließlich eine schizophrene Psychose. In über 80 Prozent der Fälle manifestiert sich eine Schizophrenie bis zum 30. Lebensjahr. Manchmal entsteht sie aber bereits im Alter von Zehn oder Zwölf. Bei so jungen Betroffenen kann die Erkrankung zu Entwicklungsverzögerungen, Koordinationsproblemen sowie Schwierigkeiten im Denken, Sprechen oder einer Lese-Rechtschreibschwäche führen. „In diesen sehr frühen Phasen der Erkrankung sind die Symptome schwer zu deuten, sodass stattdessen häufig Diagnosen wie ADHS, Autismus oder Depression gestellt werden“, sagt Koutsouleris.

Der Wissenschaftler möchte Betroffene mithilfe von KI vor einem solchen Schicksal bewahren. „Als ich 2008 meinen ersten Vortrag zum Thema „Mathematische Modelle zur Früherkennung psychiatrischer Erkrankungen“ gehalten habe, sind nur vier Zuhörer gekommen. Und die dachten, ich hätte irgendwas geraucht“, erzählt der Wissenschaftler. Inzwischen sind die Hörsäle dank der enormen Fortschritte bei der Entwicklung von KI voll. Koutsouleris gehörte im Januar 2024 zu den Gründern der Forschungsplattform „Virtual Brain Twin“– einem digitalen Modell des Gehirns für die personalisierte Behandlung psychiatrischer Erkrankungen mit Schwerpunkt Schizophrenie. In dem auf vier Jahre angelegten Projekt arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 18 europäischen Forschungseinrichtungen zusammen. Es soll die Diagnose von Schizophrenie zuverlässiger machen, neue Behandlungsmethoden erforschen und helfen, Therapien auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten zuzuschneiden.

Momentan werden für den digitalen Zwilling noch Daten gesammelt und die mathematischen Modelle verfeinert. „Wir trainieren KI-Modelle mit MRT-Aufnahmen von Patienten mit unterschiedlichen Schweregraden der Erkrankung. Dann analysieren wir, was die Modelle auf den Bildern „gesehen“ haben. Die Ergebnisse geben wir an die Programmierer weiter, die damit einen Bauplan für den individuellen digitalen Zwilling erstellen“, erklärt Koutsouleris.

Subtile Veränderungen im Gehirn

Ausgangspunkt für die Plattform ist die von Koutsouleris und seinem Team entwickelte Software „NeuroMiner“ (MaxPlanckForschung 3/2021, Seite 39). Dieses Programm analysiert MRT-Aufnahmen des Gehirns sowie weitere krankheitsrelevante Daten des Patienten mittels KI und erkennt dort subtile, für das menschliche Auge unsichtbare Veränderungen in der Struktur des Gehirns bereits Jahre vor dem Ausbruch einer psychischen Erkrankung.

Der Virtuelle Zwilling geht noch einen Schritt weiter und stellt im Computer einige für psychiatrische Erkrankungen relevante Vorgänge nach: Er beruht auf MRT-Aufnahmen, auf denen sich die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn ablesen lassen. Anhand der darauf sichtbaren Veränderungen können die Forschenden gestörte Abläufe rekonstruieren. Hinzu kommen MRT-Aufnahmen von Gesunden und Erkrankten vor und nach der Gabe von Medikamenten in verschiedenen Dosierungen. So lernt das Programm, wie sich deren Wirkung bei verschiedenen Patienten unterscheidet. Weiterhin fließen Blutwerte, Hirnstrom-Messungen (EEG) und Erbgutanalysen ein. Das KI-Programm kann zudem auf Daten aus Gen- und Proteinanalysen sowie zur Wirkung von Medikamenten zurückgreifen. So entsteht das digitale Abbild einer Durchschnittsversion des menschlichen Gehirns.

Der digitale Zwilling kann nun dieses „Durchschnittsgehirn“ an die Gegebenheiten des einzelnen Patienten anpassen und beispielsweise berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich aus einer einzelnen Psychose eine Schizophrenie entwickeln wird oder welche Medikamente bei genau diesem Menschen wirken werden. Mit jedem neuen Patienten lernt und verbessert sich der digitale Zwilling. „Allerdings wird die Vorhersagekraft nicht bei hundert Prozent liegen, denn vieles über die Schizophrenie und die Funktionsweise des Gehirns ist noch nicht bekannt“, fügt Koutsouleris an.

Gezieltere Therapie

Das Programm kann auch die Wirkung unterschiedlicher Dosierungen von Medikamenten und anderer Therapien prognostizieren. So wie Flugsimulator Turbulenzen oder Stürme simuliert, kann der digitale Zwilling hunderte Szenarien für einen Patienten durchspielen. Die Forschenden erhoffen sich dadurch jede Menge neue Erkenntnisse über die Entstehung der Erkrankung und ihre Therapie. Zum Beispiel, warum viele Antipsychotika nur bei 30 Prozent der Patienten wirken. Die geringe Ansprechrate ist der Grund, warum viele ein Medikament nach dem anderen einnehmen müssen, bis sie das passende gefunden haben.

Dass die Wirkung der Medikamente so unterschiedlich sein kann, deutet daraufhin, dass es nicht nur die eine Schizophrenie, sondern unterschiedliche Typen gibt. Jede Form könnte eine andere Ursache haben und müsste entsprechend behandelt werden. „Der digitale Zwilling soll künftig schon vor Beginn einer Therapie vorhersagen, wie gut ein Patient auf eine Behandlung ansprechen wird. Und wenn wir dann auch noch die Subtypen der Erkrankung mit dem digitalen Zwilling beschreiben können, lassen sich neue Medikamente entwickeln, die viel präziser wirken als alles, was wir derzeit haben“, erklärt Koutsouleris.

Früherkennung von Alzheimer

Der digitale Gehirnzwilling könnte auch die Prognose und Therapie anderer psychischer und neurodegenerativer Erkrankungen wie Depression, Alzheimer oder Parkinson verbessern. „Die Wirkung von Medikamenten gegen Alzheimer hängt zum Beispiel stark davon ab, wie weit die Erkrankung schon fortgeschritten ist. Könnte man eine Alzheimer-Demenz nur fünf Jahre früher entdecken, als dies heute meist der Fall ist, könnten Medikamente den Verlauf der Krankheit zumindest verlangsamen“, sagt Koutsouleris.

Die ersten Untersuchungen von Patienten, die Symptome einer Schizophrenie zeigen, sollen Anfang 2027 beginnen. Wenn der digitale Zwilling in der Psychiatrie zum Einsatz kommt, wäre das ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin mit auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Therapien. So ließe sich in Zukunft zuverlässiger als heute verhindern, dass aus kleinen Erschütterungen der Psyche ein großes Beben wird. 

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