Zwei Gehirnhälften, eine Wahrnehmung

Max-Planck-Forscher zeigen, wie die Kommunikation zwischen Gehirnhälften dividuell subjektives Erleben beeinflusst

1. September 2011

Die Großhirnrinde unseres Gehirns ist in zwei Hälften unterteilt, zwischen denen nur verhältnismäßig wenige Verbindungen bestehen. Trotzdem gelingt es uns problemlos, ein zusammenhängendes Bild unserer Umgebung zu erzeugen – unser Wahrnehmungsvermögen ist nicht in zwei Hälften gespalten. Für die nahtlose Einheit unserer subjektiven Erfahrungen müssen Informationen von beiden Hemisphären effizient zusammengeführt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Corpus Callosum, die größte Faserverbindung zwischen linker und rechter Hirnhälfte. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt haben untersucht, ob Unterschiede zwischen Personen im Aufbau des Corpus callosum festlegen, wie Beobachter einen visuellen Reiz wahrnehmen, für den die linke und rechte Gehirnhälfte zusammenarbeiten müssen. Demnach gibt es einen Zusammenhang zwischen den Merkmalen spezifischer Faserteile und dem subjektiven Erleben von einzelnen Personen.

Erhan Genç und seine Kollegen benutzen in ihrem Versuch eine Bewegungsillusion, „Motion Quartet“ genannt, die auf zwei unterschiedliche Arten wahrgenommen werden kann. Das „Motion Quartet“ verursacht Scheinbewegung, bei der der Eindruck von Bewegung von einer Abfolge unbewegter Objekte ausgelöst wird. Das ist ähnlich wie bei Filmen im Fernsehen oder Kino, die die Wahrnehmung einer natürlichen Dynamik erzeugen, obwohl sie aus einer Sequenz aus Standbildern bestehen.

In den Experimenten der Frankfurter Wissenschaftler lösen vier weiße Quadrate in einer rechteckigen Anordnung den Eindruck von Bewegung aus. Die Anordnung besteht aus zwei alternativen Filmrahmen mit zwei Paaren von diagonal gegenüberliegenden Quadraten (oben links und unten rechts vs. oben rechts und unten links). Die Beobachter sehen entweder waagrechte oder senkrechte Bewegung. Manchmal springt ihre Wahrnehmung zwischen den zwei Interpretationen hin und her, obwohl der Reiz selbst unverändert bleibt.

Interessanterweise weiß man aus früheren Studien, dass meistens vertikale Bewegungen wahrgenommen werden, wenn der Abstand zwischen den vier Quadraten gleich ist und die Beobachter den Mittelpunkt des Quartetts fixieren.

Aufgrund der Organisation des visuellen Systems, muss die Sehinformation für waagrecht erscheinende Bewegung über beide Hirnhälften integriert werden, während die senkrecht erscheinende Bewegung nur von der jeweils gegenüber liegenden Hemisphäre verarbeitet wird. Das Quartett erzeugt deshalb in erster Linie senkrechte Bewegung, denn die Kommunikation zwischen den beiden Gehirnhälften braucht länger als die innerhalb einer Hemisphäre. „Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den Versuchspersonen, welche Bewegungsrichtungen bevorzugt wahrgenommen werden“, sagt Erhan Genç, der die Studie zusammen mit Johanna Bergmann, Wolf Singer und Axel Kohler durchgeführt hat. „Deshalb haben wir untersucht, ob Unterschiede in der Mikrostruktur des Corpus callosum diese Wahrnehmungsunterschiede verursachen.“

Zu diesem Zweck bestimmten die Wissenschaftler einen individuellen Gleichgewichtspunkt für jeden der Teilnehmer, an dem sie beide Bewegungsrichtungen gleich oft wahrnehmen. Bei den meisten Teilnehmern muss der waagrechte Abstand kleiner sein als der senkrechte, nur dann ist die Wahrnehmung sowohl waagrechter als auch senkrechter Bewegung ausgeglichen. Dieser Gleichgewichtspunkt ist über Wochen stabil und damit eine konstante Eigenschaft von Betrachtern, wie gut sie Informationen aus beiden Gehirnhälften integrieren können. Mit Hilfe des Kernspintomografen maßen die Forscher die Diffusion von Wassermolekülen, welche mit der Beschaffenheit der Nervenfasern zusammenhängt.

Die Analysen  der Forscher ergaben, dass die Eigenschaften spezifischer Faserteile, die für die Verarbeitung visueller Bewegungen spezialisierte Regionen verbinden, den individuellen Gleichgewichtspunkt des Beobachters bestimmen. „Offenbar können die Teilnehmer mit einem größeren Durchmesser der Nervenfasern und einer dadurch schnelleren Nervenleitungsgeschwindigkeit Sehinformationen aus beiden Hirnhälften besser zusammen führen“, sagt Axel Kohler. Dieser Zusammenhang scheint auf die Bewegungszentren des Sehsystems begrenzt zu sein. Benachbarte Faserbündel des Sehsystems, die  andere visuelle Gebiete miteinander verbinden, sind nicht mit dem Gleichgewichtspunkt assoziiert.

„Es ist faszinierend, dass die individuellen Unterschiede zwischen Menschen in der bewussten Wahrnehmung so eng mit dem unterschiedlichen Aufbau des Gehirns verknüpft sind“, sagt Erhan Genç. Solche beträchtlichen anatomischen Unterschiede im Verlauf von Nervenfasern beeinflussen sogar sehr grundlegende sensorische Prozesse – insbesondere, wenn die Kommunikation über die beiden Hirnhälften gefordert ist.

Als nächstes wollen die Wissenschaftler herausfinden, ob ähnliche Einflüsse auch für andere Eigenschaften von Sehinformationen oder andere Sinnesreize bestehen.  Möglicherweise beeinflussen auch andere Verbindungen zwischen den Hemisphären außerhalb des Corpus callosum unsere individuellen subjektiven Erfahrungen.

AV/HR

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