Forschungsbericht 2024 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Das Individuum im Völkerrecht: Geschichte und Theorie

The individual in international law: history and theory 

Autoren
Peters,  Anne; Sparks, Tom
 
Abteilungen

Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law, Heidelberg

Zusammenfassung
In unserem Buch untersuchen wir die Veränderung des Rechtstatus des Einzelmenschen im Völkerrecht. Diese „Humanisierung“ wird in verschiedenen historischen Perioden (von der Antike bis 1945) und aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven (wie Rechtspositivismus, Naturrecht, Marxismus, Drittweltansätze, Feminismus, globales Recht oder Rechtsethnologie) analysiert. Das Völkerrecht muss sich in einer Zeit tiefgreifender ökologischer und technischer Herausforderungen dem Post-Anthropozentrismus stellen, und wir beobachten eine Humanisierung neuer Bereiche wie Gewaltverbot und Klimarecht.
 
Summary
In our book, we explore how the status of the human individual has evolved in international law. This “humanisation” is analysed in different historical periods (from antiquity to 1945) and from various theoretical perspectives (ius positivism and ius naturalism, Marxism, TWAIL, feminism, global law, global constitutionalism, law and economics, and legal anthropology). International law must face post-anthropocentrism in an era of deep ecological and technical challenge, and we see a humanisation of new fields ranging from the ius contra bellum to climate law.

Die Humanisierung des Völkerrechts

Das Völkerrecht stellt zunehmend den Einzelmenschen in den Mittelpunkt – ein Prozess, der als „Humanisierung“  des Völkerrechts bezeichnet wird. Diese Tendenz betrifft nicht nur die Menschenrechte, sondern auch darüber hinausgehende Individualrechte, die Völkerrechtspersönlichkeit des Einzelnen sowie die staatliche Souveränität. Hauptkritikpunkte an der Humanisierung des Völkerrechts sind, dass sie neoliberal, neokolonial und anthropozentrisch sei. Eine zentrale Kritik ist zudem, dass dem Prozess eine fundierte historische und theoretische Grundlage fehle.

Das Individuum in der Geschichte des Völkerrechts

Im historischen Teil des Buchs [1] analysieren wir das Individuum im Völkerrecht der Antike, Individuen und Gruppenidentität im mittelalterlichen Völkerrecht, „exemplarische Individuen“ im Völkerrecht  von 1500-1647, das Individuum im Völkerrecht der Zeit von 1648-1789, die Stellung des Individuums im 19. Jahrhundert sowie die Herausbildung eines internationalen Status des Individuums (1914-1945).

Im antiken Recht stand das Individuum nicht im Mittelpunkt des rechtlichen Denkens. Die Funktionsweise proto- oder quasi-völkerrechtlicher Instrumente und Ideen in einer Epoche vor der modernen Staatlichkeit, zeigt jedoch bereits die Überlappung sozialer und rechtlicher Beziehungen.

Obwohl sich das mittelalterliche Proto-Völkerrecht eher auf kollektive und weniger auf individuelle Identitäten konzentrierte, trugen verschiedene Akteure der mittelalterlichen Gesellschaft zur Herausbildung eines Rechtsstatus von Einzelpersonen bei. Beispiele sind Regelungen für Kriegsgefangene oder Vorschriften über Vergeltungsmaßnahmen.

In den frühneuzeitlichen Lehren zum ius gentium war die Stellung des Einzelnen besonders umstritten. Die Vorstellung vom Einzelnen als „Exemplum“ verdeutlicht jedoch, wie zentral der Einzelmensch im damaligen Rechtsdenken war.

Zwischen 1648 und 1789 wandelte und entwickelte sich die rechtliche Stellung des Individuums im Völkerrechtsenken und in der Rechtspraxis weiter. Drei miteinander verknüpfte Konzepte prägten die Debatten und Regelungen zur Stellung des Einzelnen im Völkerrecht: der Naturzustand, die juristische Erkenntnistheorie und das Institut der Anerkennung. In diesem Kontext gewannen die Menschenrechte zunehmend an Bedeutung, insbesondere der Schutz durch Habeas Corpus und das Recht auf Religionsfreiheit.

Im 19. Jahrhundert dominierte der Staatszentrismus die Völkerrechtstheorie. Gleichzeitig erweiterten Fortschritte in Kommunikations- und Transporttechnologien den globalen Handlungsspielraum des Einzelnen, was zu Konflikten und internationalen Rechtsstreitigkeiten führen konnte. In diesem Spannungsfeld forderte der Einzelne entweder die staatliche Autorität heraus oder trug zu ihrer Stärkung bei. Die Bemühungen westlicher Staaten, den Einzelnen durch das Völkerrecht zu kontrollieren, begünstigten letztlich Freihandelsimperialismus und Kolonialismus. Dabei wurden bestimmte Gruppen selektiv bevorzugt, andere an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und unterdrückt.

Nach dem Ersten Weltkrieg, der russischen Revolution und dem Zerfall  mehrerer Imperien entstand eine Vielzahl internationaler Rechtsinstitutionen und -verfahren: das internationale Arbeitsrecht, das Mandatssystem, Regelungen für Flüchtlinge und Staatenlose, das Optionsrecht, Plebiszite und der Besitzstandsschutz. Einzelpersonen erhielten Zugang zu internationalen Gerichten und Tribunalen und konnten Rechte, die in internationalen Verträgen verankert waren, vor nationalen Gerichten geltend machen.

Diese praktischen Neuerungen verfolgten makropolitische Ziele wie den Abbau zwischenstaatlicher Spannungen, die Klärung von Reparationsfragen und die Förderung des transnationalen Handels. Gleichzeitig inspirierten sie eine dogmatische Debatte über die Völkerrechtspersönlichkeit von Individuen, eingebettet in breitere Paradigmen von Demokratie und Solidarität. Die Abkehr von einem strikt positivistischen Rechtsverständnis hin zu einem soziologisch geprägten Ansatz sowie die Erschütterungen durch Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg führten dazu, dass die eher rechtstechnischen Aspekte wieder mit grundlegenderen Überlegungen zur Unverletzlichkeit der Person zusammengeführt wurden.

Das Individuum in der Theorie des Völkerrechts

Im methodischen Teil unseres Buchs untersuchen wir den Status des Individuums aus verschiedenen theoretischen Perspektiven. Dazu gehören der Rechtspositivismus, das zeitgenössische sakrale und säkulare Naturrecht, Dritt-Welt-Ansätze, der Feminismus, der Marxismus sowie die Paradigmen des Global Law, des Global Constitutionalism, der Law-and-Economics-Schule und der Rechtsanthropologie.

Insbesondere das von Tom Sparks verfasste Kapitel zur säkularen Naturrechtstradition beleuchtet die Verbindung zwischen Humanisierung und säkularem Naturrecht. Es zeigt auf, dass ein auf naturrechtlichen Prinzipien beruhendes Völkerrechtssystem – zumindest nach der großen Mehrheit der säkularen Naturrechtstheorien – als „humanisiertes“ Rechtssystem verstanden werden kann. Aufbauend auf der sozio-rechtlichen Theorie von Émile Durkheim argumentiert Sparks, dass das internationale Rechtssystem, selbst auf der Grundlage skeptischer Prämissen, auf das Individuum ausgerichtet sein muss.

Jenseits von Neoliberalismus, Neokolonialismus und Anthropozentrismus

Mit drei „konstruktiven“ Kritiken – dass die Humanisierung neoliberal, neokolonial und anthropozentrisch sei – setzen wir uns offen und differenziert auseinander. Wir unterscheiden dabei zwischen Humanisierung und Individualisierung. Vertreter der Humanisierungsthese müssen sich auch mit Ökozentrismus und Posthumanismus auseinandersetzen und den Einzelnen stärker in Gemeinschaften und soziale Kontexte einbetten. Auf diese Weise könnte eine „zweite Welle“ der „erneuerten“ Humanisierung im Völkerrecht stattfinden.

Sparks, T.; Peters, A. (Hg.)
The Individual in International Law: History and Theory.
Oxford: Oxford University Press (2024)

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