IGH verlangt von Staaten mehr Zusammenarbeit für Klimaschutz

IGH-Gutachten: Wie Staaten das 1,5-Grad-Ziel nun umsetzen müssen

Alle Staaten haben die Kollektivpflicht, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, das 1,5 Grad Ziel zu erreichen, und sind für die Einhaltung verantwortlich. Wer dagegen verstößt, kann zur Rechenschaft gezogen werden.

Text: Nina Schick

Rund zwei Stunden verlas Gerichtspräsident Iwasawa Yuji am Nachmittag des 23. Juli 2025 in Den Haag das Klimaschutz-Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH). Das 140 Seiten lange Dokument stellt unter anderem fest:

  • Das Recht auf eine saubere Umwelt ist ein Menschenrecht.
  • Alle Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, und zu diesem Zweck zusammenzuarbeiten.
  • Für die Staaten gelten strenge Präventions- und Sorgfaltspflichten.
  • Staaten können für schädliches Verhalten unter Umständen zur Wiedergutmachung verpflichtet sein.

„Das Gutachten stützt sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und lässt keinen Zweifel am Ausmaß der Klimakrise. Es sieht eine klare völkerrechtliche Verpflichtung zu mehr Anstrengungen beim Klimaschutz – ist aber als Gutachten naturgemäß abstrakt gehalten und muss im einzelnen Fall noch konkretisiert werden“, sagt Jannika Jahn, Klimarechtsexpertin und Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

Pflicht zur Kooperation

Auffällig an Yujis Vortrag war die Betonung der Verpflichtung „to cooperate“, also zur Zusammenarbeit der Staaten. Aus der Verpflichtung, das Klima zu schützen, ergibt sich für den Gerichtshof auch die Verpflichtung, zu diesem Zweck zusammenzuarbeiten – ein klares Statement gegen den Trend zum Rückzug auf die nationale Ebene und das Fingerzeigen auf andere. „Die klare Aussage des Gerichts ist: Wir müssen miteinander agieren, um Probleme zu lösen. Kein Staat kann die Klimakrise alleine lösen – und jeder einzelne Akt ist kausal“, erläutert Jahn.

Ebenso fällt auf, dass das Gericht nicht vom 1,5-Grad-Ziel abrückt, obwohl dies aus Sicht vieler Experten nicht mehr realistisch ist. „Juristisch ist es das Ziel, auf das sich die Vertragsparteien des Pariser Abkommens geeinigt haben. Daher besteht die rechtliche Pflicht nationale Beiträge zur Treibhausgas-Reduzierung zu formulieren, die geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen“, sagt Jahn. Das funktioniert nur, wenn die Staaten kooperieren und ihre jeweiligen nationalen Beiträge mit Blick auf das gemeinsame Ziel festlegen. Wegen des stetigen Fortschreitens der Klimakrise müssen diese kontinuierlich gesteigert werden. „Vor diesem Hintergrund hat das Gericht gesagt, dass es nicht allein im Ermessen der Staaten liegt, ihre eigenen nationalen Beiträge festzulegen“, sagt Jahn.

Das Gutachten geht auf eine Initiative des Inselstaats Vanuatu und anderer kleiner, vom Klimawandel besonders betroffener Staaten zurück. Diese erwirkten im März 2023 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 77/276. Alle 193 Mitgliedstaaten nahmen die Resolution an – und erteilten damit dem IGH den Auftrag, ein Gutachten zu zwei Fragen zu erstellen.

  1. Welche Verpflichtungen haben Staaten, das Klimasystem und die Umwelt vor Treibhausgasen für jetzige und zukünftige Generationen zu schützen?
  2. Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich für Staaten aus diesen Verpflichtungen, wenn sie durch ihre Handlungen und Unterlassungen dem Klimasystem erheblichen Schaden zugefügt haben, insbesondere im Hinblick auf vom Klimawandel besonders bedrohte Staaten und im Hinblick auf jetzige und zukünftige Generationen?

Größte Anhörung in der Geschichte

Dazu hielt das Gericht in Den Haag im Dezember 2024 die größte Anhörung seiner Geschichte ab. Fast 100 Staaten und zwölf Organisationen trugen an zehn Tagen ihre Argumente den 15 Richterinnen und Richtern vor. Zwei wesentliche Strömungen zeigten sich während der Anhörung, erwartungsgemäß mit mehrheitlich kleineren, von der Klimakrise stärker betroffenen Staaten auf der einen Seite und überwiegend Industriestaaten, die mehr zur Verschmutzung beigetragen haben, auf der anderen Seite.

Eine wesentliche Rolle spielten dabei internationale Verträge zum Klimawandel, insbesondere das Pariser Abkommen. Die Länder der großen Emittenten sehen in den Abkommen spezielles Recht, das klimarechtliche Fragen abschließend regelt. Da das Pariser Abkommen zwar das 1,5-Grad-Ziel, aber fast keine konkreten Pflichten festlegt, ist es für die emittierenden Länder bequem – und geht den kleineren Staaten nicht weit genug. Sie argumentierten, dass das allgemeine Völkerrecht den Staaten individuelle Verpflichtungen auferlegt, beispielsweise aus einer allgemeinen Präventions- und Sorgfaltspflicht.

Der IGH erteilte der „lex-specialis-Auffassung“ nun eine eindeutige Absage. Klimaschutzverträge und Völkerrecht ergänzten einander. Die Pflichten des allgemeinen Völkerrechts stehen neben dem Pariser Abkommen und beeinflussen zugleich dessen Auslegung. Damit sind auch Staaten, die nicht Vertragsparteien des Pariser Abkommens sind, zum Klimaschutz verpflichtet. Kein Staat kann sich durch den Austritt aus dem Abkommen vor seinen Verpflichtungen drücken. Gerade Industriestaaten, die am meisten zum Klimawandel beigetragen haben, sieht der Gerichtshof hier in der Pflicht.

Die kleineren Staaten brachten auch die historische Verantwortung der Industrieländer auf den Tisch und forderten umfassende Maßnahmen – Entschädigungen, Schuldenerlass, Wiedergutmachungen und ganz konkret auch Wiederherstellung von Ökosystemen. Dazu äußerte sich das Gericht in der Form, dass es solche Wiedergutmachungen für möglich erklärte – ohne genau auszuführen, unter welchen Voraussetzungen das sein könnte.

Klimaschutz ist ein Menschenrecht

Klimarechtsfragen sind Menschenrechtsfragen – diese Auffassung etabliert sich in der Rechtsprechung. Hier steht der IGH in einer Reihe mit dem gerade erst veröffentlichten Gutachten des Interamerikanischen Gerichtshof der Menschenrechte oder dem „Klimaseniorinnen“-Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ohne eine intakte Umwelt könnten Menschenrechte nicht verwirklicht werden, stellte der IGH fest.

Das Gutachten ist rechtlich nicht bindend – und dennoch alles andere als bedeutungslos. „Ich denke, dass das Gutachten Klimaklagen weltweit stärken wird. Da der Gerichtshof die völkerrechtlichen Pflichten der Staaten klargestellt hat, kann man bei ihnen nun mit dem Völkerrecht argumentieren“, sagt Jahn.

Weltweit sind Hunderte Klagen mit Bezug zum Klimaschutz anhängig. Auch eine politische Dimension sieht sie: „Das Gutachten macht deutlich, dass aus dem Völkerrecht Rechtspflichten hervorgehen. Das schränkt politische Freiräume ein und macht es schwieriger, sich seiner Verantwortung zu entziehen.“ Wie Gerichte weltweit bereits entschieden haben, zeigt unser Überblick.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht