Das rätselhafte Proton

Neue Ergebnisse bestätigen, dass der Wasserstoffkern kleiner ist als bisher angenommen, und heizen die Debatte über die unterschiedlichen Messungen an

Viele Rätsel können Physiker lösen, indem sie genauer und sorgfältiger messen. Manche Probleme entstehen so jedoch erst, und verschwinden auch mit einem zweiten noch schärferen Blick nicht wieder. Zur zweiten Kategorie gehört der Radius des Protons, also eines Wasserstoffkerns. Mit einer weiteren Messung am Paul-Scherrer-Institut im Schweizer Villigen liefert ein internationales Team, an dem Forscher des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik in Garching maßgeblich beteiligt waren, nun den zweiten Beleg, dass der Ladungsradius des Protons deutlich kleiner ist, als bisherige Experimente ergeben hatten. Der Ladungsradius beschreibt den Raum, in dem sich die positive Ladung des Kerns konzentriert. Um ihn zu bestimmen, nutzen die Forscher Effekte in myonischem Wasserstoff, in dem ein Myon das Elektron ersetzt. Wie die deutlich verschiedenen Ergebnisse der beiden Messverfahren zu erklären sind, debattieren Physiker derzeit lebhaft. Die Diskrepanz könnte nämlich auf verschiedene grundsätzliche Verständnislücken hindeuten – angefangen bei einem unvollständigen Bild des Protonenaufbaus, bis hin zu einem Elementarteilchen, das vom Standardmodell der Teilchenphysik nicht erfasst wird.

Auf den wissenschaftlichen Konferenzen, die Randolf Pohl in den vergangenen drei Jahren besucht hat, ging es sehr lebendig zu – und das wird vermutlich auch noch eine Weile so bleiben. Denn die Fachgemeinde, die sich dort versammelt, tüftelt gemeinsam an einem Rätsel: Immer wieder präsentieren Redner mögliche Lösungen und begründen sie mit mathematisch formulierten Argumenten. Dabei ziehen sie auch schon mal Theorien in Zweifel, die seit Jahrzehnten als gesichert gelten. Andere Vortragende suchen nach Schwachstellen in den Ausführungen ihrer Kollegen und stellen eigene Rechnungen vor, mit denen sie deren Thesen widerlegen. Schließlich ziehen sich alle wieder zurück an ihre Schreibtische und in die Labore, um beim nächsten Treffen mit neuen spitzfindigen Überlegungen die Debatte anzuheizen.

Randolf Pohl und seinen Kollegen des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik sowie einiger anderer renommierter Forschungseinrichtungen kommt bei der Knobelei gewissermaßen die Rolle der Quiz-Meister zu. Denn erst mit ihren Experimenten stellte sich das Rätsel. Und damit die Spannung nicht nachlässt, legen sie jetzt noch einmal nach. Das Team, an dem auch Forscher der ETH Zürich, der Ècole Normale Supérieure in Paris, der Universität Coimbra in Portugal und einiger weiterer Institutionen beteiligt waren, haben nämlich gerade einen neuen Wert für den Ladungsradius eines Protons, also des Kerns eines Wasserstoffatoms, veröffentlicht. „Die neuen Ergebnisse bestätigen den Befund, den wir vor drei Jahren veröffentlicht haben, sind aber noch genauer“, sagt der Physiker des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik in Garching. Demnach liegt der Ladungsradius des Protons zwischen 0,84087 +/- 0,00039 Femtometer – ein Femtometer ist der millionste Teil eines Millionstel Millimeters. Mit einer anderen Messmethode ermittelten zwei unabhängige Gruppen erst kürzlich, dass der Ladungsradius bei 0,879 +/- 0,009 Femtometer beziehungsweise 0,875 +/- 0,011 Femtometern liegen müsse.

Das Myon ist besonders sensibel für den Protonenradius

Wie sehr sich die Ergebnisse der beiden Messmethoden unterscheiden, lässt sich veranschaulichen, wenn man ihre Positionen und Fehlerbreiten auf eine Deutschlandkarte überträgt. Angenommen, man würde Ergebnis von Randolf Pohls Team im Zentrum Münchens verorten, und das der konkurrierenden Messung im Stadtkern Hamburgs. Dann entspräche die Unsicherheit des Münchner Wertes der Entfernung zwischen den beiden Münchner Stadtteilen Pasing und Trudering. Die Hamburger Messung wäre dagegen so ungenau, dass der tatsächliche Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit auch irgendwo zwischen Flensburg und Hannover liegen könnte. Dass es da Probleme gibt ist klar – die gäbe es ja auch, wenn man den Hamburger Michel auf einmal am Münchner Marienplatz suchen würde.

In gewöhnlichem Wasserstoff, in dem ein Elektron um das Proton schwirrt, ist der Einfluss des Protonenradius jedoch sehr klein, weil das leichte Elektron sich meisten weit weg vom Kern rumtreibt. In einer exotischen Variante des Elements, in dem ein Myon statt eines Elektrons den Atomkern umkreist, ist der Effekt jedoch deutlich größer. Myonischen Wasserstoff erzeugen Physiker am Paul-Scherrer-Institut im Schweizer Villigen, wo sie die weltweit stärksten Myonenstrahlen nutzen können.

Für die Vermessung des Protons empfiehlt er sich ebenso wie für manche andere Experimente, weil ein Myon wie ein Elektron eine negative Ladung trägt, aber rund 200 Mal schwerer ist. Wegen seiner höheren Masse hält sich das Myon dichter am Kern auf und reagiert daher empfindlicher auf den Protonenradius als ein herkömmliches Elektron. So wird es möglich, den Ladungsradius sehr genau zu bestimmen – genauer jedenfalls, als das die bis dato übliche Methode der Elektronenstreuung erlaubte. Bei diesen Messungen schießen Wissenschaftler Elektronen auf Wasserstoffkerne und beobachteten, wie sie an den Protonen abgelenkt werden. „Vielleicht gibt es auch bei der Elektronenstreuung einen systematischen Fehler, den wir bislang nicht kennen“, sagt Randolf Pohl. “Aber das wäre eine ziemlich langweilige Erklärung.“

Mit myonischem Wasserstoff lässt sich auch der magnetische Radius ermitteln

Für die Messungen am myonischen Wasserstoff spricht, dass sie mehr als zehnmal genauer sind als die Ergebnisse der Elektronenstreuung. Und je präziser eine Messung ist, als desto zuverlässiger gilt sie. Zudem haben Physiker inzwischen einige der möglichen systematischen Fehler der Experimente mit myonischen Waserstoff diskutiert – und ausgeschlossen. So hatten manche Zweifler spekuliert, ob Pohls Team vielleicht negativ geladene myonische Wasserstoff-Ionen, die ein Myon und ein Elektron enthalten, oder Moleküle aus zwei Protonen und einem Myon in den Blick genommen haben, ohne es zu wissen. Doch dieser Vermutung haben Physiker aus Paris mit Berechnungen inzwischen die Basis entzogen: Selbst wenn die beiden exotischen Gebilde entstehen, bleiben sie nicht lange genug stabil, um sie zu untersuchen.

Inzwischen hat sich die Spektroskopie an myonischem Wasserstoff nicht nur als zuverlässiges Verfahren erwiesen, um den Ladungsradius des Protons zu messen. Jetzt hat das Team um die Max-Planck-Physiker auf diese Weise auch den magnetischen Radius des Protons ermittelt. Der magnetische Radius gibt an, in welchem Bereich die Magnetisierung verteilt ist. Diese ergibt sich durch den Spin des Protons, dadurch also, dass sich das geladene Teilchen ständig um sich selbst dreht. Elektrischer und magnetischer Radius müssen nicht unbedingt gleich groß sein. Denn während der Ladungsradius den Raum beschreibt, in dem sich die Ladung aufhält, kann man sich den magnetischen Radius als die Region vorstellen, in der die Kreisströme fließen, die einem Proton sein magnetisches Moment geben.

Der kleinere Protonenradius wirft Fragen zur Quantenelektrodynamik auf

Einstweilen sorgt der magnetische Radius jedenfalls nicht für große Aufregung – anders als der Ladungsradius. Kein Problem gäbe es, wenn die neue, genauere Messmethode den Protonenradius in dem Bereich, den die Streuexperimente vorgegeben hatten, weiter eingegrenzt hätte. Dass sie den Radius aber in einem ganz anderen Bereich verortet, wirft grundsätzliche Fragen auf.

Besondere Würze bekommt die Geschichte, weil die widersprüchlichen Messungen vielleicht auf grundsätzliche Verständnislücken beim Wasserstoff hinweisen könnten. Wenn Quantenphysiker ein Atom kennen und verstehen, dann ist es das des Wasserstoffs. Da er aus nur einem Proton und einem Elektron besteht, ist es sogar dasjenige Atom, das sie mathematisch am besten beschreiben können. In jedem anderen Atom müssen sie sich mit Näherungen behelfen. So wird der Wasserstoff zum Testfall für ihre Theorien, und deshalb tragen viele Gruppen weltweit auch einen fortwährenden Wettstreit aus, wer das Atom noch genauer charakterisieren kann. Nicht aus sportlichem Ehrgeiz, sondern weil sie auf diese Weise immer neue grundsätzliche Entdeckungen gemacht haben – zum Beispiel die Quantenelektrodynamik, kurz QED.

Die QED beschreibt, wie Materie, also etwa Atome, mit Licht wechselwirken und gilt als ausgesprochen gut belegt. Und doch schien es zunächst so, als könnten die neuen genaueren Messungen des Protonenradius an dieser Theorie rütteln. Das Rätsel der voneinander abweichenden Protonenradien in elektronischem und myonischem Wasserstoff ließe sich nämlich aufklären, wenn die QED einen Effekt vernachlässigt, der sich in myonischem Wasserstoff viel stärker auf die Energiezustände auswirkt als in elektronischem. „Dieser Effekt müsste aber sehr groß sein“, sagt Randolf Pohl. „Und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein so großer Effekt bislang übersehen wurde.“

Möglicherweise stimmt das Bild der Ladungsverteilung im Proton nicht

Auch wenn ein Mangel der QED inzwischen fast vom Tisch ist, hoffen Randolf Pohl und seine Kollegen, dass ihre Messungen auf bislang unbekannte physikalische Zusammenhänge hinweisen. Und für solche Erklärungen bleibt reichlich Raum. So hinterfragten einige Kernphysiker die Vorstellung, wie sich die Ladung im Proton verteilt. Bislang nahmen die Modelle an, dass die Ladung an der Grenze des Protons in etwa exponentiell abnimmt. Was aber, wenn sie langsamer abnimmt? Oder irgendwo einen Höcker hat? Legitime Fragen, die aber nicht zur Lösung des Protonenrätsels führten. Denn Experimente mit gestreuten Elektronen charakterisieren die Ladungsverteilung sehr zuverlässig – und bestätigten die etablierte Annahme eines ungefähr exponentiellen Abfalls.

In eine ähnliche Richtung geht ein Vorschlag, der derzeit recht hoch gehandelt wird. „Möglicherweise wird das Proton anders polarisiert als bislang angenommen, wenn es die negative elektrische Ladung des Elektrons oder Myons sieht“, sagt Randolf Pohl: Die elektrische Ladung verzerrt die Ladungswolke des Protons, und zwar umso stärker je schwerer das ziehende Teilchen ist. Das berücksichtigen die Physiker, wenn sie aus ihren laserspektroskopischen Untersuchungen den Protonenradius berechnen. Erfassen die entsprechenden Formeln die Polarisierung bislang nicht richtig, macht sich das vor allem in myonischem Wasserstoff bemerkbar.

„Am spannendsten wäre es aber, wenn unser Ergebnis auf Physik jenseits des Standardmodells hinweisen würde“, sagt Randolf Pohl. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt alle Elementarteilchen und die meisten Kräfte zwischen ihnen. Die meisten Beobachtungen erfasst es sehr gut, hat aber auch Schwächen. So erklärt es die Gravitation nicht. Und es liefert auch keine Antwort auf die Frage nach der dunklen Materie, die Bewegungen von Sternen beschleunigt, sich anderweitig aber nicht bemerkbar macht und deshalb bislang auch nicht identifiziert wurde.

Lässt ein unbekanntes Elementarteilchen das Proton kleiner wirken als es ist?

Bei der Suche nach dem mysteriösen Stoff kann das geschrumpfte Proton zwar nicht direkt helfen, es kann vielleicht aber generell dazu beitragen, das Standardmodell zu erweitern: „Es ist denkbar, dass ein bislang unbekanntes Teilchen dafür sorgt, dass das Myon stärker an das Proton gebunden ist, als wir annehmen“, sagt Randolf Pohl. Wenn die Physiker von dem Teilchen jedoch nicht wissen, erscheint ihnen das Proton des myonischen Wasserstoffs kleiner als dasjenige des elektronischen. So reizvoll Pohl die Vorstellung findet, eine Tür zur Welt hinter dem Standardmodell gefunden zu haben, so bleibt er doch realistisch: „Das ist nicht sehr wahrscheinlich“, sagt der Forscher.

Während theoretische Physiker mögliche Erklärungen formulieren, bleiben auch die Experimentatoren nicht untätig. „Ob unsere Messung stimmt, lässt sich mit einer genaueren Bestimmung der Rydberg-Konstante überprüfen“, erklärt Pohl. Diese Konstante brauchen Physiker, um den Energieinhalt verschiedener Zustände zu berechnen. Liegen Randolf Pohl und seine Kollegen mit dem kleineren Protonenradius richtig, verändert sich auch diese und vielleicht noch einige andere Naturkonstanten. Mit einer exakteren Messung der Rydberg-Konstanten an elektronischem Wasserstoff ließe sich das Ergebnis der Protonenmessung daher indirekt überprüfen.

Unterdessen setzen Randolf Pohl und sein Team am Paul-Scherrer-Institut auch ihre Versuche mit myonischen Atomen fort. Zunächst werden sie myonische Helium-Ionen spektroskopieren. Zum einen können sie hier noch einmal testen, ob die Modelle der QED tatsächlich vollständig sind. „Dafür eignet sich Helium besser, weil schwächere Effekte der QED bei schwereren Kernen leichter zu beobachten sind“, erklärt Pohl. Zum anderen lassen sich die Messungen an myonischem Helium besser mit den Ergebnissen der Elektronenstreuung vergleichen. „Für Helium sind die Daten der Elektronenstreuung genauer“, so Pohl. Ein vermeintliches neues Elementarteilchen müsste sich auch in myonischem Helium bemerkbar machen. Dann müsste sich auch beim Helium eine Diskrepanz zwischen den beiden verschiedenen Vermessungen des Atomkerns ergeben. Andernfalls schließt sich die Tür zur Physik jenseits des Standardmodells wieder, ehe sie sich überhaupt richtig geöffnet hat.

PH

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht