Archivfunde werfen neue Fragen auf

9. April 2015

Im Zuge neuerlicher Recherchen wurden im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin menschliche Hirnschnitte wiederentdeckt, die bisher nur teilweise wissenschafts- und medizinhistorisch untersucht worden sind. Die Hirnschnitte gehören zum Nachlass des Arztes und Hirnforschers Julius Hallervorden und gelangten mit einer Abgabe im Jahr 2001 in das Archiv. Die Brisanz des Materials wurde damals aber offensichtlich nicht erkannt. Aktuelle Nachforschungen haben nun den Verdacht aufkommen lassen, dass diese Hirnschnitte im Zusammenhang mit dem "Euthanasie"-Programm im "Dritten Reich" stehen könnten. Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann, hat daher eine umgehende Untersuchung angeordnet.

Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung (KWI) in Berlin wurden von 1940 bis 1945 hunderte Gehirne von Opfern des gleichzeitig stattfindenden Massenmordes an psychisch Kranken und geistig Behinderten wissenschaftlich untersucht. Forscher des KWI für Hirnforschung wie Julius Hallervorden (1882-1965), der ab 1938 am KWI arbeitete, haben sich damit in unvorstellbarer Weise zu Mitschuldigen eines organisierten Krankenmordes gemacht.

In den 1980er-Jahren hatten Recherchen externer Forscher ergeben, dass rund 700 Gehirnpräparate von "Euthanasie"-Opfern über die KWI- und späteren Max-Planck-Forscher Julius Hallervorden und Hugo Spatz in die Sammlungen des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt gelangt waren. Da nicht klar war, welche Präparate von "Euthanasie"-Opfern stammten und welche von Patienten, die eines natürlichen Todes gestorben waren, entschied sich die Max-Planck-Gesellschaft, alle während der NS-Zeit angefertigten Hirnschnitte, die sich zu diesem Zeitpunkt in den Sammlungen von Max-Planck-Instituten befanden, zu bestatten. Auf dem Münchner Waldfriedhof wurde daher 1990 eine Gedenkstätte für die Opfer errichtet.

1997 setzte Max-Planck-Präsident Hubert Markl eine unabhängige Forschungskommission ein, um die Verbindungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Institute mit dem „Dritten Reich“ umfassend zu untersuchen und zu dokumentieren. Auch die Geschichte des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung wurde dabei aufgearbeitet. In einer persönlichen Stellungnahme haben die Direktoren des Instituts, das seinen Sitz seit 1962 in Frankfurt hat, noch einmal deutlich gemacht, dass sie die abscheuliche Forschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung aufs Schärfste verurteilen und sich angesichts der Tatsache, dass die Hirnschnitte bis in die 1960er-Jahre hinein noch für Forschungszwecke genutzt wurden, für absolute Transparenz ausgesprochen.

Die jüngsten Archivfunde zeigen, dass offenbar nicht alle Hirnschnitte 1990 entdeckt und beigesetzt wurden. Die etwa 100 mikroskopischen Hirnpräparate zu 35 Fällen aus den Jahren 1938 bis 1967 gelangten erst im Jahr 2001 mit einer Abgabe des Neurologischen Instituts (Edinger-Institut) am Universitätsklinikum Frankfurt in das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft. Bei der Übergabe wurde zwar eine Prüfung und Kategorisierung der Schnitte vorgenommen, jedoch wurde der notwendige Handlungsbedarf nicht erkannt. Die jetzt angeordneten Untersuchungen sollen Näheres über die möglichen Opfer sowie die bisherigen wissenschaftlichen Auswertungen in Erfahrung bringen. Die aus der NS-Zeit stammenden Hirnschnitte sollen darüber hinaus beigesetzt werden. Über den Verbleib der Schnitte, die nach 1945 entstanden sind, muss noch entschieden werden.

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