Kann ein Elektron an zwei Orten gleichzeitig sein?

Berliner Max-Planck-Forscher weisen an Elektronen von Stickstoff-Molekülen nach, dass der Welle-Teilchen-Charakter gleichzeitig in Erscheinung tritt

6. Oktober 2005

In einer Art molekularem Doppelspaltexperiment haben Wissenschaftler des Fritz-Haber-Instituts (FHI) der Max-Planck Gesellschaft in Zusammenarbeit mit Forschern vom California Institute of Technology in Pasadena/USA erstmals an Elektronen nachgewiesen, dass diese gleichzeitig Eigenschaften von Welle und Teilchen besitzen und quasi per Knopfdruck zwischen beiden Zuständen hin- und hergeschaltet. Darüber gelang den Forschern der Nachweis, dass eine Störung der Spiegelsymmetrie dieser Moleküle durch den Einbau zweier verschieden schwerer Isotope, in diesem Fall N14 und N15, zu einem teilweisen Verlust der Kohärenz führt, da sich die Elektronen teilweise an einem der beiden, nun unterscheidbaren Atome, zu lokalisieren beginnen. Diese Untersuchungsergebnisse könnten für den Bau und die Kontrolle von "künstlichen Molekülen", die aus Halbleiter-Quantenpunkten bestehen und als Bauelemente von Quantencomputern in Betracht gezogen werden, von Bedeutung sein (nature, 29. September 2005).

Vor hundert Jahren begann man den in der Naturphilosophie postulierten dualen Charakter der Natur auch auf der Ebene elementarer physikalischer Vorgänge schrittweise zu erkennen. Albert Einstein war der erste, der 1905 diese Konsequenz aus Plancks Quantenhypothese zog. Er ordnete dem eindeutig als elektromagnetische Welle bekannten Photon Teilchencharakter zu. Dies ist die Quintessenz seiner Arbeit zum Photoeffekt. Später war es vor allem deBroglie, der 1926 erkannte, dass alle uns als Teilchen bekannten Bausteine der Natur - Elektronen, Protonen etc. - sich unter bestimmten Bedingungen wie Wellen verhalten.

Die Natur in ihrer Gesamtheit ist also dual; kein einziger ihrer Bestandteile ist nur Teilchen oder Welle. Niels Bohr führte zum Verständnis dieser Tatsache 1923 das Korrespondenz-Prinzip ein, das vereinfacht besagt: Jeder Bestandteil der Natur hat sowohl Teilchen- als auch Wellencharakter und es hängt nur vom Beobachter ab, welchen Charakter er gerade sieht. Anders gesagt: Es hängt vom Experiment ab, welche Eigenschaft - Teilchen oder Welle - man gerade misst. Dieses Prinzip ist als Komplementaritätsprinzip in die Geschichte der Physik eingegangen.

Albert Einstein war diese Abhängigkeit der Natureigenschaften vom Beobachter Zeit seines Lebens suspekt. Er glaubte, es müsse eine vom Beobachter unabhängige Realität geben. Doch die Quantenphysik hat die Tatsache, dass es keine unabhängige Realität zu geben scheint, im Laufe der Jahre einfach als gegeben akzeptiert, ohne sie weiter zu hinterfragen, da alle Experimente sie immer wieder und mit wachsender Genauigkeit bestätigt haben.

Bestes Beispiel ist das Young’sche Doppelspaltexperiment. Bei diesem Doppelspaltexperiment lässt man kohärentes Licht auf eine Blende mit zwei Schlitzen fallen. Auf einem Beobachtungsschirm hinter der Blende zeigt sich dann ein Interferenzmuster aus hellen und dunklen Streifen. Das Experiment kann aber nicht nur mit Licht, sondern auch mit Teilchen wie z. B. Elektronen durchgeführt werden. Schickt man einzelne Elektronen nacheinander durch den offenen Young’schen Doppelspalt, erscheint auf der dahinterstehenden Photoplatte ein streifenförmiges Interferenzmuster, das keinerlei Information über den Weg, den das Elektron genommen hat, enthält. Schließt man jedoch einen der beiden Spalte, so erscheint auf der Photoplatte ein verwaschenes Abbild des jeweils offenen Spaltes, aus dem man den Weg des Elektrons direkt ablesen kann. Eine Kombination aus Streifenmuster und Lagebild ist in diesem Doppelspaltexperiment jedoch nicht möglich, dazu bedarf es eines molekularen Doppelspaltexperiments, das nicht auf der Orts-Impuls-Unschärfe, sondern der Spiegel-Symmetrie beruht.

Nicht umsonst wurde das Experiment in einer Umfrage der englischen physikalischen Gesellschaft in der Zeitschrift Physics World 2002 zum schönsten Experiment aller Zeiten gewählt. Obwohl jedes Elektron einzeln durch einen der beiden Spalte zu laufen scheint, baut sich am Ende ein wellenartiges Interferenzmuster auf, als ob sich das Elektron beim Durchgang durch den Doppelspalt geteilt hätte, um sich danach wieder zu vereinen. Hält man aber einen Spalt zu oder beobachtet man, durch welchen Spalt das Elektron geht, verhält es sich wie ein ganz normales Teilchen, das sich zu einer bestimmten Zeit nur an einem bestimmten Ort aufhält, nicht aber an beiden gleichzeitig. Je nachdem also, wie man das Experiment ausführt, befindet sich das Elektron entweder an Ort A oder an Ort B oder an beiden gleichzeitig.

Das diese Doppeldeutigkeit erklärende Bohrsche Komplementaritäts-Prinzip fordert aber zumindest, dass man nur eine der beiden Erscheinungsformen zu einer gegebenen Zeit in einem gegebenen Experiment beobachten kann - entweder Welle oder Teilchen, aber nicht beides zugleich. Bei aller Doppeldeutigkeit der Quantenphysik bleibt dieser Rest von Eindeutigkeit in jedem Experiment erhalten. Entweder ist ein System in einem Zustand des wellenartigen "Sowohl-als-auch" oder aber des teilchenartigen "Entweder-oder" in Bezug auf seine Lokalisierung. Im Prinzip ist dies eine Folge der Heisenbergschen Unschärferelation, die besagt, dass man immer nur eine Größe eines komplementären Pärchens von Größen (z.B. Ort und Impuls) gleichzeitig beliebig genau bestimmen kann. Die Information über die andere Größe geht dabei umgekehrt proportional verloren.

In jüngster Zeit hat eine Klasse von Experimenten ergeben, dass diese verschiedenen Erscheinungsformen der Materie ineinander überführbar sind, das heißt, man kann von einer Form in die andere schalten und unter bestimmten Bedingungen wieder zurück. Diese Klasse von Experimenten nennt man Quantenmarker und Quantenradierer. Sie haben in den letzten Jahren an Atomen und Photonen und seit jüngstem auch an Elektronen gezeigt, das es ein Nebeneinander von "Sowohl-als-auch" und "Entweder-oder" für alle Formen der Materie gibt, also eine Grauzone der Komplementarität. Es gibt demzufolge experimentell nachweisbare Situationen, in denen die Materie sowohl als Welle aber auch als Teilchen gleichzeitig in Erscheinung tritt.

Derartige Situationen werden mit einer Dualitäts-Relation beschrieben, bei der es sich um ein erweitertes Komplementaritäts-Prinzip der Quantenphysik handelt, das man auch als Koexistenzprinzip bezeichnen könnte. Es besagt, dass sich die normalerweise einander ausschließenden Erscheinungsformen der Materie, wie lokal und nichtlokal, kohärent und nichtkohärent, in einem bestimmten Übergangsbereich gleichzeitig nachweisen lassen, also messtechnisch vorhanden sind. Man spricht von teilweiser Lokalisierung und teilweiser Kohärenz bzw. von teilweiser Sichtbarkeit und teilweiser Unterscheidbarkeit; Größen, die über die Dualitätsrelation miteinander verbunden sind.

Das Komplementaritäts-Prinzip und damit der komplementäre Dualismus der Natur wird in diesem Übergangsbereich also um ein Koexistenzprinzip, d.h. einen parallelen Dualismus erweitert. Dieser zeigt, das die Natur einen ambivalenteren Charakter hat, als bisher angenommen. Beispiele dafür sind die Atom-Interferometrie, wo dieses Verhalten 1998 erstmalig bei Atomen, d.h. zusammengesetzten Teilchen, gefunden wurde.

In der aktuellen Ausgabe von Nature berichten die Berliner Max-Planck-Forscher gemeinsam mit Forschern vom California Institute of Technology in Pasadena/USA nun von molekularen Doppelspaltexperimenten mit Elektronen, also nicht zusammengesetzten elementaren Teilchen. Diese beruhen darauf, dass sich Moleküle mit identischen und damit spiegelsymmetrischen Atomen wie ein von der Natur aufgebauter mikroskopisch kleiner Doppelspalt verhalten. Dazu gehört Stickstoff, wo sich jedes Elektron - auch die hochlokalisierten inneren Elektronen - an beiden Atomen gleichzeitig aufhält. Ionisiert man nun ein solches Molekül etwa mit weicher Röntgenstrahlung, führt diese Eigenschaft zu einer kohärenten, also wellenartig streng gekoppelten Emission eines Elektrons von beiden atomaren Seiten, genauso wie im Doppelspaltexperiment mit Einzelelektronen.

Die Forscher konnten erstmals den kohärenten Charakter der Elektronenemission solcher Moleküle analog zum Doppelspaltexperiment experimentell direkt nachweisen. Dazu haben sie die innersten und damit am stärksten lokalisierten Elektronen von Stickstoff aus dem Molekül mittels weicher Röntgenstrahlung gelöst und ihre Bewegung anschließend in dem Bezugssystem des Moleküls über eine koinzidente Messung mit den ionischen Molekülfragmenten verfolgt. Darüber hinaus gelang den Forschern der lange bezweifelte Nachweis, dass eine Störung der Spiegelsymmetrie dieser Moleküle durch den Einbau zweier verschieden schwerer Isotope, in unserem Fall N14 und N15, zu einem teilweisen Verlust der Kohärenz führt, da sich die Elektronen teilweise an einem der beiden, nun unterscheidbaren Atome, zu lokalisieren beginnen. Dies entspricht einer teilweisen Markierung eines der beiden Spalte in einem Young’schen Doppelspaltexperiment. Man spricht auch von teilweiser "Welcher Weg"-Information, weil die Markierung Aufschluss darüber gibt, welchen Weg das Elektron genommen hat.

Die Experimente wurden von Mitarbeitern der Arbeitsgruppe "Atomphysik" des FHI an den Synchrotronstrahlungslaboren BESSY in Berlin und HASYLAB bei DESY in Hamburg durchgeführt. Die Messungen mittels einer Multi-Detektoranordnung für kombinierten Elektronen- und Ionen-Nachweis fanden hinter so genannten Undulator-Strahlrohren statt, die weiche Röntgenstrahlung mit hoher Intensität und spektraler Auflösung liefern.

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