Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Forschungsstelle für Neurogenetik
Molekulare Neurogenetik des olfaktorischen Systems der Maus
Einleitung
Der Geruchssinn (Olfaktion) ist darauf spezialisiert, eine große Bandbreite von Molekülen in der äußeren Umgebung zu detektieren. In der Maus beruht der Geruchssinn auf rund 1100 olfaktorische Rezeptor-Gene. Sie sind in den Nervenzellen innerhalb einer Schicht der Riechschleimhaut exprimiert, dem sogenannten primären olfaktorischen Epithel. Die Gene kodieren die Bauanleitung für die olfaktorischen Rezeptor-Proteine, die in der Wand der Neuronen liegen und diese siebenmal durchspannen - ein typisches Merkmal G-Protein gekoppelter Rezeptoren. Obwohl jedes Neuron über alle rund 1100 Rezeptor-Gene verfügt, wird in den jeweils ausdifferenzierten Zellen meist nur eines dieser Gene exprimiert. Die Zellfortsätze (Axone) der Neurone, in denen dasselbe olfaktorische Rezeptor-Gen exprimiert wird, enden und vereinigen sich in denselben Glomeruli – klar abgegrenzten, runden Nervenknoten innerhalb des Riechkolbens. Es gibt etwa 3600 solcher Glomeruli im Riechkolben einer erwachsenen Maus.
Welche molekularen Mechanismen bewirken, dass in einem Neuron immer nur ein einziges Gen aus dem immensen Repertoire von olfaktorischen Rezeptor-Genen exprimiert wird? Welche molekularen und zellulären Mechanismen sorgen dafür, dass die Axone von denjenigen Zellen, in denen das gleiche Rezeptor-Gen exprimiert wird, sich hochpräzise in denselben Glomeruli vereinigen? Diese fundamentalen Fragestellungen versuchen wir, mithilfe von genetisch veränderten Mäusen zu beantworten.
Zusammenhang zwischen der Anzahl der Neuronen und dem Volumen der Glomeruli
Wieviele Neuronen pro Maus sind es genau, die ein bestimmtes Rezeptor-Gen exprimieren? Eine typische Herangehensweise, diese Zellen sichtbar zu machen, besteht darin, dass ein genetischer Marker für Axone, z. B. ein fluoreszierendes Protein, zusammen mit dem jeweiligen Rezeptor-Gen exprimiert wird. Solche Marker lassen sich mithilfe gentechnischer Methoden gezielt in Mäuse einschleusen, was dann nachfolgend in den veränderten Mausstämmen jeweils eine komplette Zellzählung ermöglicht [1].
Die erfolgreich erzeugten Stämme repräsentieren elf Rezeptor-Gene und damit eine Stichprobe von einem Prozent des gesamten Repertoires. Auffallend war, dass die Zahl der Neuronen, in denen ein bestimmter Rezeptor exprimiert wurde, stark variiert und sich bis um das 17-fache unterscheidet. Außerdem wurde eine deutlich lineare Korrelation zwischen der Anzahl von Neuronen pro Maus und dem Volumen der korrespondierenden Glomeruli gefunden. Dies ermöglicht praktischerweise, das glomeruläre Gesamtvolumen dazu zu verwenden, um die Anzahl der Neuronen pro Maus je nach spezifisch genetisch verändertem Mausstamm zu schätzen.
Lage der Glomeruli und deren Variabilität
Wie reproduzierbar sind die Lokalisationen der Glomeruli, die durch die Vereinigung von Axonen derjenigen Neuronen gebildet werden, die denselben Rezeptor exprimieren? Solche Lokalisationen wurden traditionell als „stereotyp“ bezeichnet. Mithilfe der seriellen Zwei-Photonen-Tomografie haben wir die Lokalisation der Rezeptor-spezifischen Glomeruli untersucht und quantifiziert [2]. Bei dieser Art der Tomografie handelt es sich um eine neue automatisierte Methode, die die Fluoreszenz ganzer Organe abbilden kann, sobald die Zwei-Photonen-Mikroskopie mit seriellen Mikrotomschnitten kombiniert wird.
Durch mehrfache Kreuzung wurden Mausstämme mit gezielten Mutationen in mehreren Rezeptor-Genen erzeugt und die Rezeptor-spezifischen Glomeruli visualisiert, nachdem der gesamte Riechkolben mit Antikörpern markiert worden war. Mithilfe der hochauflösenden Daten mittels 3D-Rekonstruktionen konnte ermittelt werden, in welchem Ausmaß die Lage der Glomeruli zwischen den beiden Riechkolben (Bulbi) innerhalb eines Individuums und zwischen den Riechkolben verschiedener Mäuse variiert. Die Analyse zeigte dank der Präzision der neuen bildgebenden Methode, dass die Lage der Glomeruli stärker variiert als bisher angenommen und dass einige Arten von Glomeruli in ihrer Lokalisation variabler sind als andere. In Korrelation mit dem jeweils exprimierten olfaktorischen Rezeptor sind die dazugehörigen Glomeruli in den Bulbi unterschiedlich lokalisiert. Manche Rezeptor-spezifischen Glomeruli sind über weite Bereiche verteilt, andere wiederum liegen eng gebündelt vor (Abb. 1).

Abb. 1: Hochauflösende 3D-Rekonstruktion von fünf Typen Rezeptor-spezifischer Glomeruli im rechten olfaktorischen Bulbus der Maus, resultierend aus Überlagerungen mehrerer Aufnahmen aus verschiedenen Tieren. Die Rezeptor-spezifischen Glomeruli sind in den Farben Violett, Rot, Hellgrün, Türkis und Gold dargestellt. Glomeruli des violetten Rezeptors sind in ihrer Lokalisation über weite Bereiche verteilt. Glomeruli des türkisen Rezeptors liegen sehr eng beieinander.
Ein olfaktorischer Rezeptor mit einer sehr breiten Antwort auf Gerüche
Wie selektiv oder unspezifisch sind die Neuronen, die ein bestimmtes Rezeptor-Gen exprimieren, hinsichtlich des Profils von Molekülen, die diese Zellen physiologisch aktivieren? Bislang wurde davon ausgegangen, dass Neuronen, die den sogenannten SR1-Rezeptor exprimieren, das breiteste Spektrum zeigen. Kürzlich aber haben wir gefunden, dass die physiologische Antwort von Neuronen, die das MOR256-17-Rezeptor-Gen exprimieren, sogar noch breiter ist [3]: Von 35 getesteten Chemikalien aus unterschiedlichen chemischen Strukturklassen haben die Zellen auf 31 reagiert, während die SR1-exprimierenden Neuronen nur auf zehn Substanzen reagierten. Jede einzelne dieser zehn Substanzen aktivierte wiederum auch die MOR256-17-exprimierenden Neuronen. Daraus kann abgeleitet werden, dass Neuronen, die den MOR256-17-Rezeptor exprimieren, innerhalb der rund 1100 unterschiedlichen neuronalen Populationen bezüglich ihrer Antwort auf Gerüche eine besondere Stellung einnehmen. Wann diese Zellen in der Evolutionsgeschichte erstmals auftauchen und was die biologische Funktion eines derart breiten Reaktionsprofils ist, bleibt weiterhin unklar.
Ein neuer Typ von olfaktorischen sensorischen Neuronen
Neben dem primären olfaktorischen Epithel hat auch das sogenannte vomeronasale Epithel eine chemosensorische Funktion. Es dient hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, dazu, Pheromone wahrzunehmen. Die Neuronen des primären olfaktorischen Epithels exprimieren olfaktorische Rezeptor-Gene und unterscheiden sich untereinander nicht hinsichtlich ihrer Signalweiterleitung. Im Gegensatz dazu beruht die Signalweiterleitung in den Neuronen des vomeronasalen Epithels auf dem Trpc2-Ionenkanal. Diese Zellen exprimieren zudem zwei Typen von Rezeptor-Genen, die nicht mit den olfaktorische Rezeptor-Genen verwandt sind. Das generelle Schema ist bei beiden gleich: Aktiviert ein Duftreiz den Rezeptor, so wandelt dieser den chemischen Reiz über eine biochemische Reaktionskette in ein elektrisches Signal um. Die Neuronen des primären olfaktorischen Epithels benötigen für die Umwandlung einen Ionenkanal namens Cnga2 sowie das Enzym Adcy3. Letzteres erzeugt einen bestimmten Botenstoff, das sogenannte cAMP.
Kürzlich haben wir im primären olfaktorischen Epithel zwei neue Arten von olfaktorischen sensorischen Neuronen entdeckt, die diese Eigenschaften der beiden oben genannten Typen vereinen: bei ihnen kommen nämlich beide Ionenkanäle − sowohl Cnga2 als auch Trpc2 − vor. Auf Einzelzellebene lassen sich die beiden neuen Zelltypen anhand der Expression des Enzyms Adcy3 leicht unterscheiden: Typ A-Zellen exprimieren Adcy3, Typ B-Zellen dagegen nicht. Einige der Typ A-Zellen wiederum exprimieren olfaktorische Rezeptor-Gene. Außerdem wurde durch Genexpressionsanalyse festgestellt, dass die Typ B-Zellen die einzigen im primären olfaktorischen Epithel sind, die ein bestimmtes Enzym − die Guanylyl-Zyklase Gucy1b2 − exprimieren [4]. Dieses Enzym erzeugt anstatt cAMP einen anderen, verwandten zellulären Botenstoff, das sogenannte cGMP.
Um die Typ B-Zellen genauer zu untersuchen, wurde ein weiterer Mausstamm erzeugt, der gleichzeitig mit dem Enzym Gucy1b2 einen fluoreszierenden Axonmarker exprimiert (Abb. 2). Mithilfe dieses Mausstammes war es möglich, selektiv eine Vereinigung der Typ B-Axone in drei Glomeruli innerhalb des primären olfaktorischen Bulbus abzubilden. Diese molekularen und anatomischen Analysen definieren somit Gucy1b2 als einen neuen, spezifischen Marker für Typ B-Zellen innerhalb des primären olfaktorischen Epithels. Zurzeit werden funktionale Studien an Gucy1b2 und an Typ B-Zellen durchgeführt, denn diese scheinen eine besondere chemosensorische Funktion zu besitzen.

Abb. 2: Blick auf die Riechschleimhaut einer Maus, aufgenommen mit einem konfokalen Mikroskop. Die Maus war derart gentechnisch modifiziert, dass gekoppelt mit dem Enzym Gucy1b2 gleichzeitig ein fluoreszierender Marker exprimiert wird. Die Enden der einzelnen chemosensorischen Neuronen erscheinen als knopfähnliche Strukturen, von denen feine Sinneshaare ausgehen. Skala: 10 Mikrometer.
Etappenweise Sequenzierung des Riechgewebes oder eines einzelnen Neurons mittels RNA-seq
Das primäre olfaktorische Epithel ist Teil der olfaktorischen Mukosa, eines komplexen chemosensorischen Gewebes, das aus verschiedenen neuronalen und nicht-neuronalen Zelltypen besteht. RNA-seq, auch als Tiefensequenzierung bekannt, hat sich als neue und sehr leistungsfähige Methode erwiesen, um die Genexpression in Gewebeproben und seit kurzem sogar in einzelnen Zellen zu quantifizieren. Wir haben nun RNA-seq hierarchisch in drei Etappen eingesetzt, jeweils mit sinkender Gewebeheterogenität: Angefangen wurde mit einfachen Gewebeproben aus der Nase, aus denen über ein Zellensortiergerät zunächst ein Gemisch differenzierter Riechzellen und aus diesen wiederum am Ende Einzelzellen isoliert werden konnten [5].
Es zeigte sich, dass in ausdifferenzierten Neuronen 98,9 Prozent der intakten olfaktorischen Rezeptor-Gene exprimiert werden. Grundsätzlich kodiert also jedes Mitglied des Rezeptorgen-Repertoires einen potenziellen Rezeptor-Kandidaten für jeweils einen bestimmten Geruch. Gefunden wurde auch, dass einzelne Zellen typischerweise ein ganz bestimmtes Rezeptor-Gen am stärksten exprimieren, in Übereinstimmung mit der allgemein anerkannten „eine Neuron – ein Rezeptor“-Regel.
Zwei der untersuchten Zelltypen exprimieren kein Rezeptor-Gen, dafür jedoch Trpc2 und Gucy1b2 – Gene also, die den Forschern bereits von den Typ B-Neuronen bekannt waren. Von den konventionellen olfaktorischen sensorischen Neuronen unterscheiden sich diese beiden Zelltypen durch die Expression von mindestens 55 Genen. Folglich handelt es sich bei diesen Typ B-Neuronen um einen neuen Typ von chemosensorischen Zellen, die in zukünftigen Experimenten besondere Aufmerksamkeit bekommen werden.