Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Die Entwicklung des episodischen Gedächtnisses: Einsichten aus der Lebensspannenpsychologie

A lifespan perspective on the development of episodic memory

Autoren
Brod, Garvin; Shing, Yee Lee; Fandakova, Yana; Werkle-Bergner, Markus; Lindenberger, Ulman
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Zusammenfassung
Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersuchen vergleichend das episodische Gedächtnis von Kindern und Erwachsenen verschiedener Altersgruppen und betrachten es somit aus einer Lebensspannenperspektive. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Kinder und ältere Erwachsene trotz ähnlicher Leistungen in den diesen Leistungen zugrunde liegenden Mechanismen deutlich voneinander unterscheiden. Mit einem Zwei-Komponenten-Modell der Entwicklung des episodischen Gedächtnisses werden diese Unterschiede erfasst.
Summary
Researchers at the Max Planck Institute for Human Development directly compare episodic memory performance in children, younger adults, and older adults. The studies reveal that children and older adults differ in the mechanisms that support episodic memory even when performance levels are similar. In a two-component model of episodic memory the researchers attempt to capture these age-graded differences in underlining mechanisms, and demonstrate its utility for developmental research.

Episodisches Gedächtnis bezeichnet die Fähigkeit, sich an in der Vergangenheit liegende Ereignisse zu erinnern und diese – zumindest in Teilen – wiederzuerleben. Die Untersuchung der altersabhängigen Veränderungen des episodischen Gedächtnisses ist ein klassisches Forschungsfeld sowohl der Entwicklungspsychologie als auch der kognitiven Altersforschung [1]. Beide Disziplinen haben sich in der Vergangenheit jedoch kaum bemüht, ihre Befunde zu integrieren oder gar verschiedene Altersgruppen auf beiden Seiten der Lebensspanne direkt miteinander zu vergleichen [2]. Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben genau dies unternommen. Die Untersuchungen basieren auf der Annahme, dass sich Entwicklung als Interaktion von Reifung, Seneszenz und Lernen verstehen lässt. Dabei ist Reifung nicht auf die Kindheit und Seneszenz nicht auf das hohe Alter begrenzt. Beide Klassen von Mechanismen interagieren zudem mit der Lernbiografie des Individuums.

Die Plastizität des episodischen Gedächtnisses über die Lebensspanne

Episodische Gedächtnisleistungen entwickeln sich über die Kindheit und Adoleszenz und bauen im Alter ab. Dieser umgekehrt U-förmige Zusammenhang zwischen Alter und Gedächtnisleistung sagt jedoch wenig über die Mechanismen sowie über die Grenzen der Veränderbarkeit (Plastizität) dieser Leistungen aus. Um darüber Erkenntnisse zu gewinnen, sind jenseits des querschnittlichen Altersvergleichs andere Forschungsmethoden erforderlich, wie zum Beispiel Trainingsprogramme. Eine Forschergruppe um Paul Baltes [3, 4] unterscheidet im Zusammenhang von Trainingsstudien den Leistungsstatus vor einer Intervention (Ausgangsleistung), die aktuell vorhandenen kognitiven Leistungsreserven einer Person nach Erhalt von Unterstützung, etwa in Form einer Merkstrategie (gegenwärtige Maximalleistung), und das maximal mögliche Entwicklungspotenzial einer Person nach intensivem Training (Entwicklungskapazität). Im Vergleich zu einer einmaligen Messung erlaubt die Testung des maximal möglichen Entwicklungspotenzials (testing the limits) ein detaillierteres Verständnis der Mechanismen, die entwicklungsbedingten Veränderungen zugrunde liegen.

Die Untersuchung der Wissenschaftler um Yvonne Brehmer [5] gehört zu den wenigen, die durch einen direkten Vergleich einer Altersstichprobe über die Lebensspanne innerhalb einer Studie altersabhängige Unterschiede in der trainingsinduzierten Plastizität der episodischen Gedächtnisleistung zeigen konnte. Die Forscher verglichen die Gedächtnisleistung von vier Altersgruppen (jüngere [9–10] und ältere [11–12] Kinder sowie jüngere [20–25] und ältere [65–78] Erwachsene) zu verschiedenen Zeitpunkten: erstens vor jeglicher Instruktion; zweitens, nachdem den Teilnehmern eine Gedächtnisstrategie zur Verbesserung ihrer Leistung beigebracht wurde; und drittens nach intensivem Training dieser Strategie. Die Teilnehmer übten die Loci-Methode, bei der zu lernende Wörter mit einem vorher definierten Ort in der Vorstellung verknüpft werden. Zur späteren Wiedergabe wurden die Orte geordnet mental abgegangen und die assoziierten Wörter abgerufen. Die anfängliche Gedächtnisleistung der Kinder war mit derjenigen der älteren Erwachsenen vergleichbar (vgl. Abb. 1). Auch direkt nach der Strategie-Instruktion unterschieden sich Kinder und ältere Erwachsene in ihrer Leistung kaum. Im Vergleich zu den älteren Erwachsenen profitierten die Kinder jedoch deutlich stärker vom Training der Gedächtnisstrategie, wodurch sie am Ende eine deutlich höhere Gedächtnisleistung aufwiesen. Diese Befunde liefern Hinweise darauf, dass Kinder und ältere Erwachsene sich hinsichtlich Ausgangsleistung und gegenwärtiger Maximalleistung kaum unterscheiden, dass aber Kinder im Vergleich zu älteren Erwachsenen über eine höhere Entwicklungskapazität ihrer episodischen Gedächtnisleistung verfügen, die sich in größeren Leistungszuwächsen durch Training niederschlägt.

Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass eine Beschränkung auf den querschnittlich in Einmalmessungen erhobenen Befund eines umgekehrten U-förmigen Zusammenhangs zwischen Alter und Gedächtnisleistung wichtige Unterschiede verdecken würde. Trotz ähnlicher Ausgangsleistung von Kindern und älteren Erwachsenen unterscheiden sich die Altersgruppen deutlich hinsichtlich der Veränderbarkeit ihrer Leistungsfähigkeit durch Training. Dies deutet darauf hin, dass sich die zugrunde liegenden Mechanismen, die die Leistung von Kindern oder älteren Erwachsenen im Vergleich zu jungen Erwachsenen limitieren, ebenfalls zwischen den Altersgruppen unterscheiden.

Das Zwei-Komponenten-Modell der Entwicklung des episodischen Gedächtnisses über die Lebensspanne

Das Zwei-Komponenten-Modell von Shing, Werkle-Bergner und Lindenberger [6] unterscheidet zwischen einer assoziativen Komponente, die für die Verknüpfung verschiedener Elemente einer Episode zu einer kohärenten Repräsentation notwendig ist (auch Binding genannt [7]), und einer strategischen Komponente, die kognitive Kontrollprozesse (beispielsweise der gezielte Einsatz von Merk- oder Organisationsstrategien) ermöglicht. Beide Komponenten interagieren und folgen einer unterschiedlichen Lebensspannentrajektorie [8]. Nach dem Modell erreicht die assoziative Komponente, die mit der Entwicklung des medialen Temporallappens (insbesondere des Hippocampus) im Gehirn verknüpft ist, bereits in der mittleren Kindheit eine hohe Funktionalität. Im Gegensatz dazu erlangt die strategische Komponente, die mit der Entwicklung des präfrontalen Kortex verknüpft ist, erst deutlich später, vermutlich erst im jungen Erwachsenenalter, ihre volle Funktionsfähigkeit. Beide Komponenten zeigen in höherem Erwachsenenalter Funktionsverluste.

Um die Vorhersagen des Modells empirisch zu testen, führten Shing et al. [6] eine Lebensspannenstudie durch, in der sie die Anforderungen an beide Gedächtniskomponenten in einer Wiedererkennensaufgabe manipulierten. Die Teilnehmer lernten zunächst Listen mit Wortpaaren, die sich hinsichtlich ihrer Anforderungen an die assoziative Komponente unterschieden. Während eine Liste mit Paaren, in denen beide Wörter Deutsch (DD) waren, weniger hohe Anforderungen an die assoziative Komponente stellt, waren die Wortpaare, in denen ein Wort Deutsch und das andere Malaiisch war (DM), deutlich schwieriger zu verknüpfen. Gleichzeitig wurde mittels unterschiedlicher Instruktionen, die entweder auf die Verarbeitung einzelner Wörter (Items) oder auf Wortpaare (Paar) fokussierten oder den Teilnehmern eine elaborierte Strategie an die Hand gaben (Instruktion), die Anforderung an die strategische Komponente manipuliert. Die Strategie wurde darüber hinaus mit den Probanden trainiert (Training).

Die älteren Erwachsenen zeigten im Vergleich zu den Kindern eine etwas bessere Leistung in der Item- und in der Paar-Bedingung (vgl. Abb. 2). Die Forscher führen dies auf deren größeres Vorwissen zurück, das bei der Verknüpfung von neuer Information hilfreich ist. Im Gegensatz dazu profitierten die Kinder jedoch deutlich stärker von der Strategie-Instruktion in der DD-Bedingung und vom Training in der DM-Bedingung. Wie durch das Zwei-Komponenten-Modell vorhergesagt, war die Leistung der älteren Teilnehmer besonders niedrig in der DM-Bedingung, die hohe Anforderungen an die assoziative Komponente stellt. Kinder zeigten im Vergleich zu jüngeren und älteren Erwachsenen niedrigere Leistung sowohl in der DM- als auch in der DD-Bedingung, bevor ihnen eine effektive Strategie an die Hand gegeben wurde. Nach dem Training dieser Strategie war die Leistung der Kinder jedoch mit der von jüngeren Erwachsenen vergleichbar. Dies unterstreicht das vorhandene Potenzial durch die schon weit entwickelte assoziative Komponente, was sich nach dem Ausgleich von Defiziten in der strategischen Komponente zeigt. Zudem macht das Ergebnis deutlich, dass sich trotz einer anfänglich ähnlichen Leistung beider Gruppen die zugrunde liegenden Gedächtnismechanismen zwischen Kindern und älteren Erwachsenen unterscheiden.

Ein weiteres Ergebnis der Lebensspannenbetrachtung ist also, dass die Berücksichtigung älterer Erwachsener helfen kann, die Spezifika des episodischen Gedächtnisses bei Kindern genauer zu erfassen. Im Umkehrschluss kann gleichermaßen die Betrachtung von Kindern helfen, die Charakteristika des episodischen Gedächtnisses bei älteren Erwachsenen besser zu verstehen.

Die aktuellen Forschungen sind darauf ausgerichtet, die Annahmen des Zwei-Komponenten-Modells über die Unterschiede in den neuronalen Korrelaten der assoziativen und der strategischen Komponenten sowie über deren altersbedingte Veränderungen neurowissenschaftlich zu überprüfen [9, 10].

Literaturhinweise

Schneider, W. D.; Pressley, M.
Memory development between two and twenty
Abingdon: Psychology Press/Taylor and Francis Group, 1997
Bialystok, E.; Craik, F. I. M.
Structure and process in lifespan cognitive development
In: The Handbook of Life-Span Development: Biology, Cognition and Methods across the Life-Span. (Eds.) Lerner, R. M.; Overton, W. F. Hoboken, NJ: Wiley, 2010, 195–225
Baltes, P. B.
Theoretical propositions of life-span developmental psychology: On the dynamics between growth and decline
Developmental Psychology 23, 611–626 (1987)
Lindenberger, U.; Baltes, P. B.
Testing-the-limits and experimental simulation: Two methods to explicate the role of learning in development
Human Development 38, 349–360 (1995); doi:10.1159/000278341
Brehmer, Y.; Li, S.-C.; Müller, V.; Oertzen, von, T.; Lindenberger, U.
Memory plasticity across the life span: Uncovering children's latent potential
Developmental Psychology 43, 465–478 (2007); doi:10.1037/0012-1649.43.2.465
Shing, Y. L.; Werkle-Bergner, M.; Li, S.-C.; Lindenberger, U.
Associative and strategic components of episodic memory: A life-span dissociation
Journal of Experimental Psychology: General 137, 495–513 (2008); doi:10.1037/0096-3445.137.3.495
Zimmer, H. D.; Mecklinger, A.; Lindenberger, U.
Levels of binding: Types, mechanisms, and functions of binding in remembering
In: Handbook of Binding and Memory: Perspectives from Cognitive Neuroscience. (Eds.) Zimmer, H. D.; Mecklinger, A.; Lindenberger, U. Oxford: Oxford University Press, 2006, 22–24
Werkle-Bergner, M.; Müller, V.; Li, S. C.; Lindenberger, U.
Cortical EEG correlates of successful memory encoding: Implications for lifespan comparisons
Neuroscience & Biobehavioral Reviews 30, 839–854 (2006)
Fandakova, Y.; Lindenberger, U.; Shing, Y. L.
Deficits in process-specific prefrontal and hippocampal activations contribute to adult age differences in episodic memory interference
Shing, Y. L.; Rodrigue, K. M.; Kennedy, K. M.; Fandakova, Y.; Bodammer, N. C.; Werkle-Bergner, M.; Lindenberger, U.; Raz, N.
Hippocampal subfield volumes: Age, vascular risk, and correlation with associative memory
Frontiers in Aging Neuroscience 3, 2 (2011); doi: 10.3389/fnagi.2011.00002
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