Dreijährige helfen Opfern von Ungerechtigkeit

Kleinkinder setzen sich für die Bedürfnisse anderer ebenso ein wie für ihre eigenen

18. Juni 2015

Viele Menschen halten Kleinkinder für stur, egoistisch und unfähig, mit anderen zu teilen. Doch Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Universität Manchester in Großbritannien haben jetzt herausgefunden, dass schon Dreijährige über ein überraschendes Maß an Fürsorge und einen intuitiven Sinn für eine opferorientierte Gerechtigkeit verfügen. Kleinkinder geben verlorene Dinge an deren rechtmäßige Eigentümer zurück. Wenn das nicht möglich ist, hindern sie wenigstens andere daran, zu nehmen, was ihnen nicht gehört. Darüber hinaus setzen sich Drei- und Fünfjährige für die Bedürfnisse einer anderen Person genauso stark ein wie für ihre eigenen – sogar wenn es sich bei dieser um eine Handpuppe handelt. Die Ergebnisse der Studie mit Kindern aus Deutschland vermitteln neue Einblicke wie der Gerechtigkeitssinn im Laufe der Evolution entstanden ist.

„Die Sorge um andere, z.B. in Form von Empathie, scheint ein Hauptbestandteil des menschlichen Gerechtigkeitssinns zu sein“, sagt Keith Jensen von der Universität Manchester. „Die Gerechtigkeit Opfern gegenüber und die Bestrafung der Täter – beides grundlegende Bestandteile der menschlichen Kooperation – sind möglicherweise auch  für das einzigartige Sozialverhalten des Menschen von zentraler Bedeutung.“

Menschen kooperieren häufig, wenn es um die Bestrafung von Trittbrettfahrern geht. Frühere Studien zeigten jedoch, dass Schimpansen Betrüger nur dann bestrafen, wenn sie selbst geschädigt wurden. Um die Wurzeln des Gerechtigkeitssinns beim Menschen besser zu verstehen, untersuchen Forscher die frühe Entstehung dieser Eigenschaft bei Kleinkindern. Studien zufolge teilen Kinder lieber mit einer Handpuppe, die zuvor einer anderen Person „geholfen“ hatte, als mit einer, die sich „schlecht benommen“ hatte.

Sie bevorzugen außerdem, dass die Puppe bestraft wird, die die Strafe verdient, nicht jedoch die, die sie nicht verdient. Ab einem Alter von sechs Jahren sind Kinder sogar bereit, einen Preis zu zahlen, um fiktionale oder reale Spielkameraden für ein Fehlverhalten zu bestrafen. Die Androhung einer Strafe motiviert Vorschulkinder dazu, sich großzügiger zu verhalten.

Um herauszufinden, was dem Gerechtigkeitssinn von Kleinkindern zugrunde liegt, führten Katrin Riedl, Keith Jensen und Kollegen am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie eine Studie mit Drei- und Fünfjährigen durch. Die Kinder konnten einer Handpuppe Gegenstände wegnehmen, die diese zuvor einer anderen Handpuppe „weggenommen“ hatte. Das Ergebnis: Die Kinder setzten sich für das „Opfer“ – die bestohlene Handpuppe – ebenso ein, als wären sie selbst betroffen. Aus allen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten entschieden sie sich am ehesten dafür, den Gegenstand an den Besitzer zurückzugeben. „Es scheint, dass sich der Gerechtigkeitssinn im Zusammenhang mit dem einem Opfer entstandenen Schaden bereits in der frühen Kindheit entwickelt“, so die Autoren.

Die neuen Erkenntnisse betonen den hohen Stellenwert, den das Eingreifen Dritter für die menschliche Kooperation hat. Sie könnten sich auch für Eltern und Kindergartenerzieher als nützlich erweisen. „Vorschulkinder reagieren feinfühlig, wenn anderen ein Schaden entsteht. Vor die Wahl gestellt, helfen sie lieber dem Opfer dabei, den Schaden zu beseitigen als den Übeltäter zu bestrafen“, sagt Jensen. „Anstatt Kinder für ein Fehlverhalten zu bestrafen oder das Fehlverhalten anderer mit ihnen auf eine strafende oder schuldzuweisende Art zu besprechen, können Kinder den Schaden, der dem Opfer entstanden ist, und die Schadensbehebung als Lösung möglicherweise besser nachvollziehen.“

SJ, HR

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