Die Kunst der leisen Kritik

Russische Künstlerinnen und Künstler nutzen subtile Protestformen der Vergangenheit und interpretieren sie neu

Repressionen und Zensur zeigen in Russland Wirkung: Protest muss neue Wege gehen. Kunstschaffende, die sich kritisch äußern, bedienen sich vielfach fantasievoller ästhetischer Taktiken aus der Zeit des Kalten Krieges. Am Kunsthistorischen Institut in Florenz erforscht Hana Gründler mit ihrem Team, wie die Kunst in Osteuropa autoritäre Strukturen umgeht und Räume der Freiheit eröffnet – damals und heute.

Text: Tanja Beuthien

Es ist Frühjahr in Sankt Petersburg, Ende März 2022, als die Künstlerin Alexandra Skotschilenko einen Supermarkt betritt. Die vom Kreml so genannte „Militärische Spezialoperation“ in der Ukraine ist in vollem Gange, doch von Krieg darf keine Rede sein. Skotschilenko sieht sich um, zieht die Preisschilder aus den Schienen und tauscht sie aus. Anstelle des Sonderangebots für Instantkaffee ist nun ein ganzer Satz zu lesen: „Die russische Armee hat eine Kunstschule in Mariupol bombardiert, in der sich etwa 400 Menschen vor den Angriffen versteckt hatten.“ Und: „Rekordinflation durch Militäreinsatz.“ Oder: „Stoppt den Krieg!“ Wenige Tage später wird die Zeichnerin und Musikerin verhaftet. Und angeklagt wegen „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte“ – im russischen Strafgesetzbuch ein Straftatbestand, der kritische Stimmen ersticken soll.

Die Repressionen gegen die eigene Bevölkerung haben in Russland seit dem Angriff auf die Ukraine zugenommen. Gemäß russischen Nichtregierungsorganisationen sind seit Einführung des neuen Paragrafen über 250 Personen unter diesem Vorwand strafrechtlich belangt worden – und mehr als 800 Personen wegen Antikriegsaktivitäten. Längst ist die organisierte politische Opposition zerschlagen, der Kremlkritiker Alexej Nawalny kam in einem Straflager in der Polarregion zu Tode. In anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist die Situation ähnlich. So sind nach UN-Angaben im benachbarten Belarus derzeit etwa 1500 politische Gefangene inhaftiert. Doch wie sind Widerstand und kritische Kunst möglich, wenn Kunstaktionen mit drastischen Strafen sanktioniert werden können? Hana Gründler, Forschungsgruppenleiterin am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut, untersucht mit ihrem Team am Beispiel Osteuropa, wie Kunst und Philosophie in einem repressiven System als subversive Praktiken verstanden werden können. „Wann hat Kunst eine politische Sprengkraft, und wie bestimmen wir überhaupt den Begriff des Politischen?“, fragt Gründler.

Auf den Punkt gebracht

  • Seit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich der Druck auf die Zivilbevölkerung und auf die Kunstszene in Russland noch einmal erhöht.

  • Die Bildwissenschaftlerin und Max-Planck-Forscherin Hana Gründler erforscht mit ihrem Team in Florenz die Widerständigkeit von Kunst, Kultur und Philosophie unter repressiven Regimen in Osteuropa seit 1945.

  • Auch heute nutzen Künstler und Künstlerinnen wieder die subtilen Protestformen der Vergangenheit und interpretieren sie neu.

„Öffentlichkeit war in totalitären Ländern schon immer ein ambivalenter Zwischenbereich“, so die promovierte Bildwissenschaftlerin und Philosophin. Satellitenstaaten der Sowjetunion, etwa Ungarn, die Tschechoslowakei und auch die ehemalige DDR, waren bis 1991 im Warschauer Pakt straff zusammengeführt. Die sozialistischen Länder waren Moskau unterworfen und gleichgeschaltet, die Bewohner oft Bespitzelungen und politischer Verfolgung ausgesetzt. Reformbestrebungen wie den Volksaufstand in Ungarn 1956 und den Prager Frühling 1968 haben sowjetische Truppen gewaltsam unterdrückt. Protest war nur schwer möglich.

Im repressiven Klima der 1970er-Jahre beginnt unter anderem der tschechische Künstler Jiří Kovanda, den streng überwachten öffentlichen Raum für Kunstaktionen zu nutzen. Ähnlich wie Alexandra Skotschilenko den Supermarkt als Aktionsfeld suchte, bespielt Kovanda zu seiner Zeit die Fußgängerzone der Stadt. Mit ausgebreiteten Armen postiert er sich auf dem Prager Wenzelsplatz. Passanten müssen ihn umrunden, drehen sich nach ihm um. In dieser und anderen Aktionen wird er zu einem Störfaktor im Stadtgetriebe, einem unerklärlichen Hindernis, einer Irritation. Dabei erinnert Kovanda nicht explizit an den Einmarsch der sowjetischen Truppen oder an die Panzer in der Prager Innenstadt. Und auch nicht an den Suizid des 20-jährigen Studenten Jan Palach, der sich im Januar 1969 mit Benzin überschüttete und anzündete, um gegen die Invasion und die Repressionen der sowjetischen Besatzer zu protestieren. Jiří Kovandas Performance ist subtil. Und nur sichtbar für diejenigen, die stehen bleiben und den Künstler beobachten. Ein Akt der Widerständigkeit mit dem eigenen Körper.

„Diese Performances haben in den 1970er-Jahren in der Phase der sogenannten Normalisierung in der ČSSR unter sehr schwierigen und riskanten Bedingungen stattgefunden. Dabei sperrten sich die Künstlerinnen und Künstler aber auch gegen allzu plakative politische Deutungen“, erklärt Gründler. Sie griffen auf die kleinen Gesten zurück, wenn die großen nicht möglich waren. Und sie verbreiteten sie anschließend mit Fotos oder kritischen Schriften im inoffiziellen Selbstverlag, im „Samisdat“, in dem nicht systemkonforme Texte gedruckt wurden – auch im Westen. „Viele Künstler sind emigriert; es gab Kanäle, über die Dokumentationen solcher Aktionen bekannt gemacht wurden. Etwa durch Exilzeitschriften und Kunstmagazine wie Flash Art oder auch durch Ausstellungen in Deutschland und Frankreich. Der Eiserne Vorhang war durchlässiger als gedacht.“

Heute dient das Internet als Multiplikator für Protestaktionen. So wurden im April 2022 die Fotos einer Person veröffentlicht, die sich in Moskau gefesselt und geknebelt an verschiedenen Orten auf den Boden legte, um so an Gräueltaten russischer Soldaten an Zivilisten in Butscha zu erinnern. Aber es gibt auch subtilere Formen des künstlerischen und zivilgesellschaftlichen Widerstands, die bewusst oder unbewusst an die ästhetischen Praktiken der 1970er-Jahre anknüpfen. Die kritische Bevölkerung nutzt derzeit verstärkt Kunst und Graffiti im öffentlichen Raum, um das Unsagbare zu verdeutlichen – und in Netzwerken zu teilen. Die Seite No wobble! beispielsweise dokumentiert anonyme Street-Art in Russland gegen den Krieg. Zu sehen sind etwa Legofiguren, die weiße Blätter in die Höhe halten und damit an die White-Paper-Proteste erinnern, Knetfiguren, die ein Schild tragen mit der Aufschrift „Нет Bойне“ („Nein zum Krieg“) – oder einfach ein durchgestrichener Karpfen: Das Wort wobla (Karpfen) ersetzt in diesem Fall das nahezu gleichlautende woina (Krieg).

Spielerisch wirkt das alles – und machtlos. „Das sieht nach harmlosen Gesten aus. Aber in einem oppressiven System sind das ganz starke Zeichen“, so Gründler. „Es gibt ästhetische Praktiken der inoffiziellen Kultur des Undergrounds, in der alltägliche Prozesse infrage gestellt werden. Viele Positionen wollen die Betrachtenden dazu animieren, ihre eigene Sicht der Realität zu hinterfragen, und im Sinne einer Graswurzelbewegung Veränderungen der Wahrnehmung herbeiführen – die letztlich auch zu Veränderungen der politischen Realität führen können.“ Hana Gründler spricht nicht von der Unfreiheit der Kunst, sondern sieht, „dass die Kunst Räume der Freiheit eröffnet“.

Als Beispiel aus der Vergangenheit nennt Hana Gründler eine Collage des tschechischen Künstlers und Dichters Jiří Kolář. Diese zeigt den Ausschnitt eines ikonischen Pressefotos: eine brennende Straßenbahn, die am 21. August 1968 während des Einmarschs der Sowjettruppen in der Nähe des tschechoslowakischen Rundfunks aufgenommen wurde. Darüber klebt Kolář eine Hand, die das Porträt Dante Alighieris präsentiert – eines Dichters, der sich nicht den Mund verbieten ließ und aus politischen Gründen ins Exil musste so wie Jahrhunderte später auch Kolář, der die französische Staatsbürgerschaft annahm. „Das ist keine Agitprop, keine plakative politische Kunst“, sagt Gründler. „In den Zeiten des Sozialistischen Realismus wurde von der Kunst erwartet, dass sie die Realität ,korrekt‘ und politisch eindeutig wiedergebe. Dagegen beharrten Künstlerinnen und Künstler wie Kolář auf der Komplexität und Uneindeutigkeit der Lebenswelt. Die von der staatlichen Kunstdoktrin verpönte Fantasie wurde dabei zu einem wirkmächtigen Instrument der Sensibilisierung.“ Wichtig sei die Fähigkeit, „zwischen den Zeilen zu lesen“.

Viel Fantasie erfordert es auch, ein Gemälde des estnischen Malers Richard Uutmaa zu entschlüsseln. Oliver Aas, Doktorand in Gründlers Florentiner Forschungsgruppe, nennt es als Beispiel für eine unterschwellige Unterwanderung herrschender Narrative. Auf den ersten Blick lässt sich in Bucht bei Puise (1955) nur ein „banales“ Landschaftsbild erkennen. Aber im kulturellen Kontext des damaligen Stalinismus gelesen, handelt es sich um eine ungeheure Provokation: eine unpolitische, rein ästhetische Landschaftsdarstellung, die politischer nicht sein könnte.

Man muss im Kleinen anfangen

Auch die Künstlerin Zorka Ságlová hinterfragt gängige Erzählmuster, als sie 1970 in einer Land-Art-Aktion 700 weiße Windeln auf einem Feld im böhmischen Sudomĕř auslegt. Mit ihrer Performance erinnert sie an eine der berühmtesten Schlachten der tschechischen Geschichte im Jahr 1420. Der Legende nach beschlossen der Hussitenführer Jan Žižka und die hussitischen Frauen, Kleider auf dem schlammigen Grund eines Teiches auszulegen, damit sich die Pferde der katholischen Adeligen in den Stoffen verheddern würden. „Diese Geschichte der Hussiten haben sich die Kommunisten angeeignet und als ein stark heroisches, männliches Narrativ weitergetragen. Ságlová deutet es um. Sie zeigt, wie Frauen eine ganze Reiterarmee zu Fall gebracht haben. Und spielt somit auf weibliche, vermeintlich unheroische Formen des Widerstands an“, sagt Hana Gründler.

Doch wie erfolgreich sind solche künstlerischen Praktiken? Wie ist die Resonanz der Bevölkerung auf solche Kunstaktionen? „Ságlovás Performance ist außerhalb eines kleinen Kreises der inoffiziellen Kultur damals wahrscheinlich nur wenig wahrgenommen worden“, so Gründler. „Aber wie Václav Havel gezeigt hat, ist es in einem derart repressiven System schon viel, wenn nur ein paar Leute ihre Meinung ändern. Man muss im Kleinen anfangen: So wie etwa der Gemüsehändler aus Havels Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben am 1. Mai eben keine Banner ins Schaufenster hängt und somit der offiziellen Phrasendrescherei keinen Raum gibt. Es sind Bottom-up-Strategien, die helfen, die zivilgesellschaftliche Passivität zu überwinden, und die zu einer ethisch-politischen Transformation führen können.“

In der einstigen Tschechoslowakei hat die Geschichte den Künstlern und Dissidenten recht gegeben. 1989 ist es, wie in anderen Ländern des „Ostblocks“, zur weitgehend gewaltfreien „Samtenen Revolution“ gekommen. Der Dramatiker Václav Havel spielte dabei eine wesentliche Rolle. „Der scharfe Regimekritiker verbrachte als politischer Häftling mehrere Jahre im Gefängnis und schrieb dort wöchentlich Briefe an seine Frau Olga. Die Briefe an Olga sind ein Ausdruck der Hoffnung und der Menschlichkeit in dunklen Zeiten und besitzen heute, da viele Künstler und Oppositionelle inhaftiert sind, wieder eine besondere Aktualität“, sagt Hana Gründler. „Wir müssen uns aus unserer sicheren Position klarmachen, welchen Gefahren sich Künstlerinnen und Künstler derzeit in Russland oder Belarus aussetzen.“ Ales Puschkin etwa, der 1999 eine Schubkarre mit Mist vor Alexander Lukaschenkos Präsidialverwaltung in Minsk ausleert und kurzzeitig verhaftet wird. 2021 stellt er die Performance in einer Ausstellung in Kiew noch einmal nach. Und kehrt, obwohl ihm ein Strafverfahren droht, nach Belarus zurück. Wegen „Verunglimpfung staatlicher Symbole“ kommt er kurz darauf ins Gefängnis. Und stirbt im Sommer 2023 unter ungeklärten Umständen – ähnlich wie Nawalny – in der Haft.

Oder eben Alexandra Skotschilenko, die im November des vergangenen Jahres für ihre Supermarktaktion zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. „Im März 2022 war der Krieg eine ,Spezialoperation‘. Aber Skotschilenko benennt ihn als das, was er ist“, so Gründler. Nach Auskunft von Amnesty International sitzt die 33-Jährige trotz mehrerer chronischer Krankheiten noch immer in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg und wartet auf ihre Berufungsanhörung. Es sei unwahrscheinlich, dass sie einen fairen Prozess bekomme, so die Menschenrechtsorganisation. Es bleibe nur die Hoffnung auf eine humane Behandlung im Strafvollzug. Aus der Untersuchungshaft schreibt Skotschilenko unterdessen Medienberichten zufolge in einem Brief, dass sie all das verkörpere, „was für Putins Regime unerträglich ist: Kreativität, Pazifismus, LGBT, psychologische Aufklärung, Feminismus, Humanismus und Liebe zu allem Hellen, Uneindeutigen und Ungewöhnlichen“.

Für die Wahrheit in Haft

Ob und wie sich die Repressionen in Russland nach der Wahl im März weiter verschärfen, ist im Augenblick kaum abzusehen. Im vergangenen Jahr schon wurden die Direktionen der Kunstmuseen landesweit mit staatsnahen Personen besetzt, beobachtet die Kunsthistorikerin Sandra Frimmel von der Universität Zürich. Es gebe aktuell keine verlässliche künstlerische Staatsdoktrin, „keinen Kanon des Erlaubten, eher einen Kanon des Verbotenen“. Alle Institutionen und Formen von Kunst, seien es Zirkus, Theater oder Museen, sollen „staatliche Werte“ vertreten. Verunglimpfungen der Streitkräfte, religiöser Symbole, „Propaganda von Homosexualität“ sind generell verboten. Sogar der Regenbogen, der als LGBTQ+-Symbol gelesen werden könnte, steht auf dem Index.

Eine ähnliche Politik hat bis vor Kurzem auch die nationalkonservative Partei PiS in Polen während ihrer achtjährigen Regierungszeit von 2015 bis 2023 verfolgt. Magdalena Nieslony, die Visiting Scholar in Hana Gründlers Team war, zeigt in ihrer Forschung, wie unter der rechtsgerichteten Regierung die „Kulturpolitik zu einem zentralen Kampfplatz der Indoktrinierung“ wurde. Das ändert sich nun mit der neuen Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk. Zur Biennale in Venedig 2024 bespielt das ukrainische Kollektiv „Open Group“ den polnischen Pavillon mit einem Performancevideo – der Beitrag eines rechtsgerichteten Künstlers wurde im Januar zurückgezogen.

In Russland dagegen gehe es in diesem Augenblick eher um „die Schaffung von Solidaritätsnetzwerken, um kleinere, vertrauensbildende Maßnahmen, darum, mehr Hoffnung zu schaffen, und um das Bemühen, Gräben zu überbrücken“, sagt Alexander Borodikhin, Journalist und Herausgeber von Mediazona, einem der größten russischen Oppositionsmedien. „Die allgemeine Demobilisierung und Desensibilisierung der vergangenen Jahrzehnte hat eine gewisse erlernte Hilflosigkeit hervorgebracht“, so Borodikhin. Künstlerischer Protest sollte seiner Ansicht nach nicht so sehr als ein praktikables Mittel betrachtet werden, um die bestehende Ordnung infrage zu stellen. „Kunst kann eine Form sein, um die Verbundenheit wiederzubeleben – und nicht der Rammbock, wie einige Dissidenten es hoffen.“ Es ist die Taktik der kleinen Schritte, wie sie schon seit Jahrzehnten von Künstlerinnen und Künstlern angewandt wird. Denn, wie Hana Gründler sagt: „Kunst muss nicht eindeutig politisch sein. Aber als ethische Kleinarbeit eröffnet sie Möglichkeiten des Andersdenkens.“ Und Perspektivenwechsel haben schließlich schon Revolutionen ausgelöst.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht