„Wir können den Klimawandel nicht im Krisenmodus bekämpfen“

Im Vorfeld der Weltklimakonferenz: Ein Interview mit Jochem Marotzke, Direktor am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie

29. November 2023

Die öffentliche Debatte rund um den Klimawandel ist begleitet von Frustration und Ängsten. Ein Beispiel ist das anschauliche Bild der Kipppunkte, dahinter steht ein physikalischer Mechanismus, der zu massiven, eventuell irreversiblen Veränderungen auf der Erde führen könnte. So könnte etwa der Nordatlantikstrom, der für das relativ milde Klima in Mitteleuropa sorgt, zum Erliegen kommen. Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, erläutert den Stand des Wissens zu dieser und anderen solcher Instabilitäten im Klimasystem. Außerdem stellt er seine Sicht dar, wie die Klimaforschung ihre Erkenntnisse angesichts der heute schon gravierenden Folgen des Klimawandels öffentlich präsentieren sollte.

Herr Marotzke, Sie haben in Ihrer Forschung festgestellt, dass schmelzendes Grönlandeis und erhöhte Niederschläge in nördlichen Breiten einen starken Einfluss auf den Nordatlantikstrom und die gesamte Zirkulation im Atlantik haben können. Könnte die Pumpe der atlantischen Zirkulation auch ganz ausfallen?

Jochem Marotzke: Das könnte sie. Je genauer man hinsieht, desto größer wird aber die Unsicherheit, ob das auch realistisch ist. In der Vergangenheit der Erde ist es wohl auch schon so passiert. Aber ob das heutige Klima wirklich zu einem solchen abrupten Übergang führen kann, ist völlig unklar, aber auch nicht auszuschließen.

Erklären Sie uns kurz, was diese Zirkulation antreibt und was das Salz mit der Strömung zu tun hat?

Der bekannte Golfstrom ist Teil einer größeren Zirkulation im Atlantik. Er kommt aus dem Golf von Mexiko und führt warmes Oberflächenwasser entlang der Nordamerikanischen Ostküste in den Nordatlantik. Dort gibt das Wasser die Wärme an die Atmosphäre ab, deswegen ist es in Europa auch ungewöhnlich mild. Irgendwo im Nordatlantik sinkt ein Teil des nach Norden geführten Wassers ab und kehrt als kalte Tiefenströmung nach Süden zurück. Es sinkt deswegen ab, da kaltes und noch dazu salzhaltiges Wasser eine höhere Dichte hat. Reduziert sich die Salzkonzentration durch Schmelzwasser, kann es sein, dass dieser Prozess aussetzt.

Wenn das System kippt, würde die Zirkulation dann für immer stoppen?

Das Bild eines Kipppunkts, das man oft im Kopf hat, ist: Da fällt was um, und es steht nicht wieder auf. Eine Definition aus dem Jahr 2008, die inzwischen oft verwendet wird, verlangt nicht mehr, dass der Übergang irreversibel ist. Hier ist nur noch von einem Punkt die Rede, jenseits dessen das System deutlich empfindlicher oder sogar instabil wird und sich Veränderungen beschleunigen. Demnach würde die Atlantische Umwälzströmung einen Kipppunkt überschreiten, auch wenn die Zirkulation nur kurz stoppt und dann wieder anfährt.

Wie schätzen Sie ab, wie wahrscheinlich ein bestimmtes Szenario in Ihrem Modell ist?

Um zu beobachten, wie sich die Strömung genau verändert, brauchen wir engmaschige und sichere Messungen. Die haben wir erst seit dem Jahr 2004. Ich habe damals eine recht einfache Methode vorgeschlagen, an den Rändern des Atlantiks die Dichte des Wassers zu messen. Wasser fließt als Ausgleichsströmung zwischen Regionen unterschiedlicher Dichte und so konnten wir dann über mathematische Verfahren auf die Stärke der Gesamtzirkulation des Atlantiks schließen.

Zeigen Ihre Daten eine Abschwächung?

Wir sehen einen Trend. Ob diese Abschwächung natürlich oder anthropogen (also menschengemacht) ist, wissen wir nicht. Die Fluktuation in den Daten ist immer noch zu hoch.

Im Juli diesen Jahres erschien eine Veröffentlichung in Nature Communications, die zum Schluss kommt, die Atlantische Umwälzströmung könnte schon zwischen 2025 und 2095 kollabieren. Können Sie diese Studie einordnen?

Wenn sie recht hätten, würde die Zirkulation in diesem Jahrhundert mit 95 prozentiger Wahrscheinlichkeit zusammenbrechen. Das ist eine wahnsinnig sichere Aussage verglichen mit dem Weltklimabericht, in dem man erst mal nur von einer Abnahme ausgeht, aber sich nicht sicher ist, ob ein Kollaps erfolgen könnte. Statistisch machen die Autoren der Veröffentlichung sehr gute Arbeit. Ihre physikalischen Annahmen gehen auf einen von mir während meiner Doktorarbeit vereinfachten Zusammenhang zurück. Diese Annahmen sind aber womöglich zu einfach.

Was wäre eine realistischere Annahme?

In realistischen Modellen wie auch in der Natur gibt es konkurrierende Prozesse. Zum Beispiel haben wir einen großräumigen Wirbel in subpolaren Breiten, der zusätzlich salzreiches Wasser aus dem Osten nach Norden transportiert. Einfachere Modelle lassen das außen vor. Sie sind leichter zu berechnen, aber man sollte nicht zu viele Schlüsse aus ihnen ziehen.  

Findet man in komplexen Erdsystemmodellen, die Ozean, Landmasse und Atmosphäre gleichzeitig beschreiben, überhaupt irreversible Kipppunkte?  

Das wird gerade noch diskutiert. Meine Kollegin Ricarda Winkelmann hat in einer Studie von 2020 womöglich solche Kipppunkte in einem komplexen Modell gefunden. Laut Weltklimabericht ist es denkbar, aber wir wissen es nicht genau. Regional finden wir solche abrupten Übergänge viel einfacher, die haben aber keine globalen Auswirkungen. Es gibt aber eine Ausnahme und das ist der Grönländische Eisschild. Wenn der mal geschmolzen ist, wird er nicht wiederkommen. Es ist wirklich ein differenziertes Bild, das man hier zeichnen muss und man muss sich das Bild für jeden Kipppunkt einzeln genau anschauen.

Dirk Notz, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, erklärt an Hand ausgewählter Gemählde im Städel Museum, wie der Klimawandel funktioniert und warum wir Menschen hier eine große Rolle spielen. 

Klimaforschung neu erklärt

Dirk Notz, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, erklärt an Hand ausgewählter Gemählde im Städel Museum, wie der Klimawandel funktioniert und warum wir Menschen hier eine große Rolle spielen. 
https://www.youtube.com/watch?v=TAgMx5mIRWg

Wissenschaft liefert keine Schwarz-Weiß-Aussagen, jedes Ergebnis basiert auf Annahmen und unterliegt Unsicherheiten, die interpretiert werden müssen. Ihre Forschung trifft Aussagen darüber, wie lebenswert die Zukunft sein könnte. Da liegen statistische Unsicherheiten und Verunsicherung der Gesellschaft nah beieinander. Wie gehen Sie mit diesem Spannungsfeld um?

Ich veröffentliche zunächst mal das, was wir nach bestem Wissen und Gewissen herausgefunden haben. Ich verspüre aber sehr wohl das Spannungsfeld, wenn es darum geht, wie man etwas darstellt. Wenn ich sage, dass wir nicht wissen, ob die Abnahme der Atlantikzirkulation natürlich oder menschengemacht ist, folgern manche daraus, dass keine der Änderungen im Erdsystem auf den Menschen zurückzuführen ist. Daher skizziere ich bei Vorträgen immer zuerst, was wir ganz sicher wissen, nämlich, die beobachtete Erwärmung ist auf den Menschen zurückzuführen. Punkt. Wieder andere folgern daraus, dass jede der Anomalien auf den Menschen zurückzuführen ist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Beispiel ist die Dürre in Brandenburg. Ja, es hat drei trockene Jahre gegeben, das ist aber viel zu kurz, um sich wissenschaftlich sicher zu sein, dass das auf den menschengemachten Wandel zurückzuführen ist. Wenn ich jedoch so eine wissenschaftliche Aussage unvorsichtig treffe, komme ich in Teufels Küche. Es kann schnell falsch verstanden werden, als würde ich die Sorgen der Betroffenen nicht ernst nehmen.

Aber sind nicht zumindest viele der Veränderungen im Erdsystem auf den Menschen zurückzuführen? Sie sprachen von Instabilitäten im Klimasystem. Ist es nicht einleuchtend, dass es zu Problemen führt, wenn man in extrem kurzer Zeit so in das komplexe Erdsystem eingreift, wie der Mensch das seit der Industrialisierung tut?

Das ist richtig. Wir erwarten eine Zunahme von starken Niederschlägen, wir erwarten eine Zunahme auch von Dürren. Es ist aber das eine zu sagen, das erwarten wir im Klimawandel, und etwas ganz anderes Einzelfälle zuzuschreiben. Die Erderwärmung erwarten wir meinetwegen seit 1896, als Svante Arrhenius Berechnungen durchgeführt hat, zuverlässig nachgewiesen hat man es erst 1996.

Was ist der Preis, wenn man mit Maßnahmen gegen den Klimawandel so lange wartet, bis man sich über seine Auswirkungen völlig sicher ist? Schon jetzt verdichten sich doch die Anzeichen, dass wir ein ernsthaftes Problem haben.

Es ist sicher nicht klug zu warten, bis man sich auch absolut sicher ist. Es ist vor allem eine politische Frage, wie viel Sicherheit man braucht, um aktiv zu werden. Wie treffe ich Entscheidungen unter Unsicherheit? Man muss sich auf die Vorhersagen der Klimamodelle schon verlassen, die sagen, dass Dürren zunehmen werden. Sie werden zunehmen. Aber es widerspricht dem wissenschaftlichen Codex, für einen guten Zweck im Zweifel davon auszugehen, man wüsste mehr, als man wirklich weiß.

Hinter der Wissenschaft und Politik stecken durchaus unterschiedliche Werte und Ziele. Da entsteht Reibung, zumal die Zivilgesellschaft Erwartungen an beide Seiten hegt.

Die Politik muss völlig zu Recht sehr viel mehr einbeziehen, als nur wissenschaftliche Erkenntnis. Gut gemachte Politik ist in einer Demokratie dafür da, für einen Interessenausgleich zu sorgen, sie hat auch eine Leitfunktion. Das weiß ich sehr zu schätzen. Wenn Politik so streng konsistent wäre, wie die Wissenschaft es sein muss, wäre sie handlungsunfähig.

Wie sollten diese Akteure zusammenarbeiten?

Ich wünsche mir, dass Wissen systematischer einbezogen würde. Oft werden Expertinnen und Experten rangeholt, die der Politik sagen, was sie hören will. Ich will der Politik nicht einflüstern, was sie zu tun hat. Es wäre wichtig, dass der Diskurs offener gestaltet wird und dass die volle Breite der Argumente vorgetragen wird, auch wenn sie die Politik nicht hören will.

Ein schönes Beispiel: Ich durfte schon zwei Mal bei einem Schmidt-Gespräch im Hause von Helmut und Loki Schmidt in Hamburg dabei sein, wo Menschen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft für einen offenen Diskurs zusammen kommen. Es geht hier ums Verstehen im allerbreitesten Sinne, auch um das Verstehen der jeweils anderen Seiten. Ich schätze diesen geschützten Raum, in dem man die Zeit hat, im tiefgründigen Austausch herauszuarbeiten, welche Aspekte vielleicht noch unberücksichtigt sind.

Vielleicht hat der ehem. Bundespräsident Joachim Gauck bei der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft diesen Jahres auch auf dieses gegenseitige Verständnis angespielt, als er sagte „Dem Wandel muss das Verstehen vorausgehen“?

Das ist auf jeden Fall ein wichtiger Aspekt neben dem Verständnis der Wissenschaft.

Wo wir über gegenseitiges Verständnis sprechen. Kennen Sie den Film „Don’t Look Up!“?

Ja, ich fand den klasse. Als Satire. Aber es war auch absurd.

Im Film entdeckt eine Doktorandin der Astronomie einen Asteroiden, erst war nicht klar, ob er die Erde trifft, dann haben Simulationen gezeigt: Er wird einschlagen. Irgendwann stand er, kurz vor dem Impact, groß am Himmel. Trotzdem wollte ihn die Menschheit nicht sehen. „Don’t look up!“ hieß es, auch von Regierungsseiten. Und die Wissenschaft, die drehte durch. Sehen Sie da Parallelen zum Klimawandel? Wer will hier wen nicht sehen?

In der Pandemie haben wir gesehen, dass es besser funktionieren kann. Am Anfang wurde sehr entschlossen und effektiv reagiert. Anschließend ist die Gesellschaft vom Krisenmodus in den Risikovorsorgemodus gegangen. Ein Krisenmodus lässt sich nicht so lange aufrechterhalten. Der Klimawandel ist keine Krise und wir können den Klimawandel nicht im Krisenmodus bekämpfen. Es geht um Risikovorsorge.

Im Buch „Deutschland 2050“ haben zwei Journalisten sehr genau skizziert, wo der Klimawandel die Menschen bereits akut bedroht und wie es sich im Jahr 2050 in Deutschland leben wird, je nach Entwicklung.

Ich kenne das Buch nicht, habe aber davon gehört. Wenn ich sage, es ist keine Krise, leugne ich damit nicht, dass es ernst ist.

Die Macht der Extreme

Algen in der Wüste, Extremwetter-Ereignisse oder die ständige Bedrohung durch Vulkanausbrüche in der Geschichte Neapels: Unser neuester Podcast rückt Wissenschaflerinnen und Wissenschaftler in den Fokus, die an Extremen forschen, um die Ökologie, das Klima und dem Umgang des Menschen mit Naturkatastrophen besser zu verstehen.

Ist es also allen voran eine Frage der Kommunikation, ob ich einen wissenschaftlichen Konsens mit starken Bildern, Worst-Case Szenarien oder eher differenziert darstelle?

Ja, und natürlich eine Frage der Intention. Möchte ich wachrütteln, zu Sofortmaßnahmen aufrufen oder möglichst präzises Wissen als Entscheidungsgrundlage vermitteln? Alles drei sind legitime Absichten, ich selbst versuche aber, möglichst differenziert zu kommunizieren.

Es ist aber etwas anderes zu sagen, Deutschland sei nicht direkt vom Klimawandel bedroht. Das haben Sie in der FAZ gesagt.

Das würde ich heute anders formulieren. Dass das zu Recht falsch gelesen werden kann, haben der Autor und ich damals übersehen. Was ich meinte ist, dass Deutschland nicht in seiner Existenz bedroht ist. Der Klimawandel ist keine Krise, die vorübergeht. Er wird bleiben.

Trotz dessen hat der Klimawandel an vielen Orten schon krisenhafte Züge angenommen. Wie stellt man unangenehme Fakten so dar, dass die Gesellschaft nicht in Schockstarre verfällt und handlungsfähig bleibt?

Es ist ein schmaler Grat. Um die Klimaziele zu erreichen, müsste sehr viel schneller und entschiedener gehandelt werden. Die Angst, wir überschreiten 1.5 Grad und dann kippt alles und wir haben keine Überlebenschance, ist aber völlig unbegründet.

Sollten die Medien der Öffentlichkeit mehr zumuten, eigene, differenzierte Schlüsse zu ziehen, indem sie auch die Komplexität hinter dem Klimawandel thematisieren?

Ich denke, ja. Ich war mal auf einer Veranstaltung für Journalisten und habe von Unsicherheiten gesprochen. Danach kam einer auf mich zu und sagte, wenn ich so spreche, machen die Leute dicht und hören nicht zu. Sie wollen eine Aussage, eine Zahl hören. Meine Erfahrung ist aber, dass das Publikum bei meinen Vorträgen zu schätzen wusste, wenn ich mir Zeit nahm, Unsicherheiten so sorgfältig zu erklären, dass man die Informationen besser einordnen konnte. Journalisten kommen auch nicht zu mir, wenn sie Schlagzeilen wollen. Ich habe es während der Pandemie sehr bewundert, wie Herr Drosten die doch sehr komplexen Zusammenhänge erklärt hat, auch zu einer Zeit, als so vieles noch unklar war.

Die Öffentlichkeit blickt sehr genau auf die Klimaforschung, mehr als in vielen anderen Bereichen der Grundlagenforschung. Fühlen Sie sich dennoch frei in Ihrer Forschung?

Ich fühle mich sehr frei, und das ist vielleicht auch das Privileg, in der Max-Planck-Gesellschaft zu arbeiten. Wir wissen, dass unsere Forschung gesellschaftlich sehr relevant ist, aber wir wollen auch die Leute für unsere Forschung gewinnen, die neugierig sind und versuchen wollen zu verstehen, wie die Welt funktioniert.

Interview: Tobias Beuchert

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