Die Macht der Unschärfe

Was muss die Politik über die Welt wissen, um sie richtig regieren zu können? Wer kann und soll es ihr sagen? Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel. Doch während Erklärungen vergangener Ereignisse für die Politik eher uninteressant erscheinen, sind Prognosen kaum zu treffen. Dennoch: Einfluss und Nutzen der Sozialwissenschaften lassen sich nicht bestreiten.

Häufig darf der Staat wichtige Informationen nicht selbst erheben

Der moderne Staat und die demokratische Diskussion hängen auf vielfältige Weise von Informationen über den Zustand der Gesellschaft ab, die nicht ohne Weiteres verfügbar sind und deren Sammlung oft äußerst kompliziert ist und umfangreiche Fachkenntnisse erfordert. Nur ein kleiner Teil der von der Politik benötigten Daten ergibt sich unmittelbar aus der Buchführung des Staates über seine eigenen Verwaltungsakte: etwa die Zahl der Geburten und Ehescheidungen oder der Bezieher von Sozialleistungen aller Art, die Durchschnittsnoten von Abiturienten oder die Altersstruktur der Rentner. Viel häufiger aber darf oder kann der Staat wichtige Informationen nicht selbst erheben – zum Beispiel die Zahl der Neugeborenen mit Migrationshintergrund oder das tatsächliche Ausmaß der Drogenabhängigkeit.

Andere Größen, die dem Laien völlig unproblematisch vorkommen mögen, müssen durch komplexe Schätzoperationen ermittelt werden, die ständiger Weiterentwicklung bedürfen. Hierzu gehören nicht nur das Bruttosozialprodukt, sondern auch die Bevölkerung, deren Zahl seit den letzten Volkszählungen in den Jahren 1981 (DDR) und 1987 (Bundesrepublik) nicht mehr direkt erhoben, sondern nur noch mit komplizierten, mehr oder weniger befriedigenden Methoden fortgeschrieben wird. Und werden muss, weil die Gesellschaft sich dagegen sperrt, gezählt zu werden – ein weiteres Beispiel für die aktive Rolle, die der Gegenstand der Sozialwissenschaft für diese spielt, indem er auf sie reagiert.

Politisch wichtige Sachverhalte wie das wirtschaftliche Wachstum pro Kopf, die Geburten- und Zuwanderungsrate oder die Arbeitslosenquote sind somit weit weniger sicher bekannt, als normalerweise angenommen wird. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass Regierungen jahrelang Probleme zu lösen versucht haben oder für Probleme von den Wählern zur Rechenschaft gezogen wurden, die sich bei späteren Korrekturen der statistischen Daten nachträglich als Scheinprobleme erwiesen haben.

Die einzige Möglichkeit, die Entscheidungen und Interessen sichtbar zu machen, die in die amtlichen Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit eingehen, bietet eine unabhängige Sozialwissenschaft. Nur sie kann den notwendigen Pluralismus gewährleisten, durch den allein politisch unangenehme Sachverhalte ans Licht kommen können oder sich zeigen lässt, wie kleine und kleinste Veränderungen – etwa in der Definition von Arbeitslosigkeit oder in der Klassifizierung von Stellenbewerbern durch die Arbeitsämter – die Arbeitslosenquote senken oder erhöhen können.

Ähnlich verhält es sich bei der Messung von Armut und Ungleichheit, der Ermittlung des Leistungsstandes von Schülern und Schulen oder der Zufriedenheit von Arbeitnehmern mit ihren Arbeitsbedingungen. Kurz: Ohne laufende, methodisch seriöse, kritische Information der Gesellschaft über sich selbst wäre der politische Diskurs noch inhaltsleerer, als er es oft schon ist.

Der Autor
Wolfgang Streeck, Jahrgang 1946, erforscht unter anderem politische Ökonomie und Wirtschaftssoziologie. Ab 1988 lehrte er an der Universität von Wisconsin in Madison und wurde 1993 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Streeck hatte zudem Gastprofessuren an verschiedenen internationalen Universitäten inne, ehe er 1995 zum Direktor an das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung berufen wurde.

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