Die Macht der Unschärfe

Was muss die Politik über die Welt wissen, um sie richtig regieren zu können? Wer kann und soll es ihr sagen? Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel. Doch während Erklärungen vergangener Ereignisse für die Politik eher uninteressant erscheinen, sind Prognosen kaum zu treffen. Dennoch: Einfluss und Nutzen der Sozialwissenschaften lassen sich nicht bestreiten.

Gesundbeterei kann die soziale Welt tatsächlich heilen

Eine besondere Variante dieses Zusammenhangs ist der Einsatz von Prognosen in der Wirtschaftspolitik. Wenn die Wissenschaft eine günstige Entwicklung vorhersagt, fassen die Wirtschaftssubjekte – zumindest glauben das Wirtschaftswissenschaftler wie Politiker – Mut und investieren oder konsumieren. Sie werden, im Jargon dessen, was Wirtschaftswissenschaftler unter Psychologie verstehen, „optimistisch“. Sind die Vorhersagen dagegen schlecht, breitet sich „Pessimismus“ aus, Investitionen und Konsum gehen zurück.

Nun ist die Wirtschaft ein Handlungssystem. Daher sind – und das hat niemand besser erkannt als Keynes – die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte für das, was in ihr geschieht, von kausaler Bedeutung. Und in der Tat ist Robert K. Mertons Begriff der self-fulfilling prophecy kaum irgendwo so sehr in das Alltagsverständnis eingeflossen wie in der Wirtschaftspolitik.

Denkt man die Sache zu Ende, ergibt sich die paradoxe Möglichkeit, dass eine Vorhersage, die ursprünglich und objektiv falsch war, dadurch richtig werden kann, dass sie bekannt gemacht wird: Wenn eigentlich schlechte Zeiten bevorstehen, kann die falsche Vorhersage guter Zeiten dazu führen, dass die schlechten Zeiten ausbleiben und alles gut ausgehen wird. Politiker, die angesichts einer bevorstehenden Krise nicht mehr weiterwissen, verlegen sich deshalb gerne darauf, die Krise kleinzureden oder zu leugnen, in der Hoffnung, dass sie dann auch klein bleibt. Drücken hingegen andere Mitglieder der politischen Klasse (vor allem solche, die sich gerade in der Opposition befinden) die Befürchtung aus, es könne schlimm werden, beschuldigt man sie, sie wollten die Katastrophe herbeireden – selbst wenn diese nach allen wissenschaftlichen Kriterien objektiv bevorsteht.

Auch Ökonomen können in oder vor einer Krise in diesem Sinne zu Staatsmännern mutieren und sich überreden lassen, ihre Prognosen nach oben zu verschönern, um Panik zu vermeiden und der Wirtschaftspolitik die Arbeit zu erleichtern. Die Verantwortung des Wissenschaftlers bestünde dann nicht mehr in der Berechnung der Welt, sondern vielmehr in ihrer Beeinflussung durch die gezielte Massage von Daten und Methoden.

Im Extremfall, wie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, können dann Elitenkartelle entstehen, deren Mitglieder sich gegenseitig zu ostentativem Optimismus verpflichten, egal in welche Abgründe sie geblickt haben und noch blicken. Was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn in einer Situation hoher Ungewissheit ohnehin keine geeigneten Instrumente zur Verfügung stehen?

So können sich Politik und Wissenschaft – und gerade deren positivistischste Spielart – in Magie verwandeln: in einen Versuch, das Schreckliche dadurch zu verhindern, dass man seine Benennung verbietet und das Gute beschwört. Politiker als hochtrainierte Spezialisten für Sprachregelungen neigen ohnehin zu einem magischen Weltbild, über das man sich durchaus zu Recht lustig machen kann. Sein rationaler Kern aber ist die besondere Reaktionsfähigkeit der sozialen Welt: dass sie mitunter tatsächlich durch Symbole beeinflusst und durch Gesundbeterei geheilt werden kann. Rechtfertigt das, sie in ihrem unterstellten Interesse zu belügen?

Ich lasse das dahingestellt und merke lediglich an, dass auch hier gilt, dass Steuerung dann scheitern kann, wenn ihre Instrumente als solche durchschaut werden. Positive Prognosen müssen für wissenschaftlich wahr gehalten werden, wenn sie den Optimismus auslösen sollen, den sie auslösen müssen, um wahr werden zu können. Würde bekannt, dass sie um dieses Ergebnisses willen frisiert worden sind, wäre nicht Optimismus die Folge, sondern ein tiefer Verlust von Vertrauen – und ein Absturz, der weit schlimmer sein könnte als alles, was man bis dahin für möglich gehalten hätte.

Dass der Sozialwissenschaftler dem erfahrenen Praktiker wirklich viel voraushaben kann, wenn es um die Wahl geeigneter Mittel für gegebene Ziele geht, lässt sich also mit Gründen bezweifeln. Der Abstand zwischen Theorie und Intuition dürfte jedenfalls geringer sein, als viele Sozialwissenschaftler glauben möchten. Das heißt aber nicht, dass die Sozialwissenschaften politisch nutzlos sein müssen – nur, dass es nicht die von den Wissenschaftlern selber so hoch geschätzte theoriebildende Forschung ist, die einen Beitrag dazu leisten kann, die Politik zu verbessern. So mag das Zählen, Messen und Beobachten sozialer Sachverhalte manchem als trivial erscheinen. Aber es ist alles andere als das.

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