Die Macht der Unschärfe

Was muss die Politik über die Welt wissen, um sie richtig regieren zu können? Wer kann und soll es ihr sagen? Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel. Doch während Erklärungen vergangener Ereignisse für die Politik eher uninteressant erscheinen, sind Prognosen kaum zu treffen. Dennoch: Einfluss und Nutzen der Sozialwissenschaften lassen sich nicht bestreiten.

Es besteht ein Bedürfnis, mit Gründen überzeugt statt mit Reizen gesteuert zu werden

Woher kommen diese mechanistische Weltsicht und die sozialtechnischen Utopien, die sich aus ihr speisen? Offenkundig ist der Traum von wissenschaftlichen Techniken zur Verhaltenssteuerung noch nicht ausgeträumt – von Techniken, die keinen Widerstand auslösen, weil die Betroffenen ihren Einsatz gar nicht bemerken. Viele glauben, dass deren Entwicklung die eigentliche Aufgabe einer wirklich wissenschaftlichen Sozialwissenschaft sei. So wird man als Sozialwissenschaftler immer wieder von Kollegen aus den Naturwissenschaften nach Maßnahmen gefragt, mit denen man die „Technikfeindlichkeit“ der Öffentlichkeit ausschalten könnte; schließlich sei das doch das Gebiet, auf dem man sich auskenne.

Anders als in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften besteht aber der Objektbereich der Sozialwissenschaften selbst aus beobachtungs- und handlungsfähigen Subjekten, denen keineswegs gleichgültig ist, was die Wissenschaft über sie behauptet und wozu ihre Erkenntnisse von der Politik verwendet werden. Menschen erkennen Versuche, ihr Handeln zu steuern, und ordnen ihnen Intentionen zu, auf die sie wiederum mit eigenen Intentionen reagieren. Zu diesen gehört ein elementares Bedürfnis, mit Gründen überzeugt statt mit Reizen gesteuert zu werden.

Alle demokratischen Gesellschaften – also Gesellschaften, deren Mitglieder etwas zu sagen haben – unterwerfen deshalb den Einsatz verhaltenssteuernder Techniken strengen Regeln. So wäre, selbst wenn die Forschung über „Neuro-Marketing“ hielte, was ihre Betreiber der Welt versprechen, damit zu rechnen, dass die Anwendung ihrer Ergebnisse rechtlich eng begrenzt würde.

Ebenso wie die Sozialwissenschaften die Zukunft nicht vorherzusagen vermögen, bleiben die Reaktionen handelnder Subjekte auf wissenschaftliche Steuerungsversuche unberechenbar. Sozialwissenschaftliche Theorien lassen sich nicht geheim halten. Ihr Einsatz zur Verhaltenskontrolle wird über kurz oder lang bemerkt, auf seine Absichten hin untersucht und absichtsvoll beantwortet. So wollten die Forscher bei den berühmten Hawthorne-Experimenten (1924 bis 1932) herausgefunden haben, dass Arbeiterinnen auch ohne Lohnerhöhung schneller und besser arbeiten, wenn man freundlich zu ihnen ist und die Wände ihrer Werkstatt gelb anstreicht. Aber nachdem sich unter den Beschäftigten herumgesprochen hatte, dass das Management mit seinen guten Worten und der gelben Farbe lediglich Geld sparen wollte, kam es zu Lohnforderungen und einem Streik.

Ein ähnliches Schicksal traf postum John Maynard Keynes, der doch besser als alle anderen Ökonomen seiner Zeit verstanden hatte, wie wichtig Erwartungen für das Verhalten sind. Als in den 1970er-Jahren die Keynesianische Globalsteuerung der Wirtschaft mittels Geld- und Fiskalpolitik zur etablierten Praxis geworden war, reagierten Unternehmen und Konsumenten immer zögerlicher auf sinkende Zinsen; sie glaubten nämlich, bei anhaltender Stagnation mit weiteren Zinssenkungen rechnen zu können. Am Ende funktionierte die Theorie nicht mehr, weil sie allgemein bekannt und zur Grundlage eigensinnigen strategischen Handelns ihrer Objekte geworden war.

Viele andere Facetten des Verhältnisses zwischen Prognosen über menschliches Handeln und diesem selbst ließen sich noch beschreiben. Für alle gilt: Die Tatsache, dass sozialwissenschaftliche Theorien in der Welt, die sie analysieren, zur Kenntnis genommen werden können, beeinflusst ihre Geltung auf die eine oder andere Weise.

Zur Redakteursansicht