Multiple Sklerose wird ferngesteuert
Die Lunge fungiert als Sammelplatz für autoagressive Immunzellen
Autoimmunerkrankungen werden durch Immunzellen ausgelöst, die sich gegen das eigene Gewebe richten. So gelingt es den Immunzellen bei der Multiplen Sklerose (MS), in das Nervengewebe einzudringen und dort zerstörerische Entzündungen zu verursachen, die mit schweren Ausfallserscheinungen, z.B. Lähmungen und Gefühlsstörungen einhergehen können. Warum die Zellen diese körpereigene Schranke bei der MS überwinden und scheinbar mühelos in das Hirngewebe eindringen können, hat ein Forscherteam zunächst am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried und später an der Universität Göttingen, herausgefunden: Die krankmachenden Immunzellen werden in der Lunge darauf programmiert, beweglicher zu werden und effizient Gefäßbarrieren wie die Blut-Hirn-Schranke zu durchbrechen.
Spezialisierte Immunzellen, sogenannte T-Zellen, gelten als Verursacher der Multiplen Sklerose (MS). Obwohl nahezu jeder gesunde Mensch diese potentiell krankmachen-den T-Zellen in seinem Immunsystem beherbergt, entwickelt nur zirka 0,1 Prozent der Bevölkerung eine manifeste Erkrankung. Das liegt u.a. daran, dass die T-Zellen normalerweise nicht in das Gehirn vordringen können, da das zentrale Nervengewebe von der Blutzirkulation durch eine dichte Gefäßbarriere getrennt ist. „Frühere Arbeiten auf dem Gebiet der experimentellen MS-Forschung haben bereits gezeigt, dass T-Zellen sehr wohl in das Gehirn vordringen und dort eine MS-ähnliche Erkrankung hervorrufen können, wenn sie außerhalb des Nervengewebes voraktiviert werden“, sagt Alexander Flügel, inzwischen Direktor der Abteilung Neuroimmunologie und Leiter des Instituts für Multiple-Sklerose-Forschung der Universität Göttingen. „Wir wollten nun herausfinden, wo genau im Organismus die T-Zellen aktiviert werden und welche speziellen Eigenschaften sie dazu befähigen, die Blut-Hirnschranke zu überwinden.“
Die Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen konnten zunächst feststellen, dass krankmachende T-Zellen nicht sofort nach Aktivierung in das Gehirn einwandern. Sie müssen diesen Schritt erst „erlernen“. In einem Lernprozess richten sich die T-Zellen komplett neu aus. Sie stellen die Zellteilung ein und drosseln die Produktion von Eiweißen, mit denen sie Entzündungsprozesse anfachen. Stattdessen werden sie auf „Wanderung“ programmiert: Sie werden beweglicher. Dafür erscheinen spezialisierte Rezeptoren auf ihrer Zelloberfläche. Diese kleinen Antennen ermöglichen es ihnen, sich in der jeweiligen Umgebung zu orientieren und sich an Zellstrukturen festzuhalten.
Die Göttinger Wissenschaftler entdeckten einen bislang für T-Zellen unbekannten Rezeptor namens Ninjurin-1. Dieser Rezeptor steuert speziell das Anheften der T-Zellen an der Innenseite der Gehirngefäße und ist damit für die Einwanderung der Zellen aus der Blutbahn in das Nervengewebe von wesentlicher Bedeutung. Im Gehirngewebe angelangt, läuft das Programm umgekehrt ab: Die eingewanderten T-Zellen werden reaktiviert, produzieren Entzündungsstoffe und setzen damit den gewebeschädigenden Autoimmunprozess in Gang, der typisch ist für die Krankheit MS.
Wo im Körper findet die Wanderungsprogrammierung der T-Zellen statt? Auch bei dieser Frage konnten die Wissenschaftler neue, überraschende Entdeckungen machen. Sie fanden heraus, dass aktivierte T-Zellen aus dem Blutkreislauf direkt in die Lunge einwandern. Im Lungengewebe bewegen sich die Zellen mit zunehmender Geschwindigkeit entlang der dortigen Gefäße und Luftwege in die anliegenden Lymphknoten, gelangen dann über die Milz und erneut über die Blutzirkulation schließlich in das zentrale Nervensystem. Kurioserweise kriechen die Zellen in der Lunge nicht nur an der Außenseite der Bronchien, sondern sie krabbeln auch innerhalb der Luftleiter, in der die Atemluft zirkuliert. Mittels einer spezialisierten Mikroskopietechnik beobachteten die Forscher im lebenden Lungengewebe, dass die T-Zellen die Bronchien offenbar als eine Art Schnellstraße nutzen. Und in der Tat sind aktivierte T-Zellen sogar nach direkter Einführung in die Luftwege in der Lage, einen autoimmunen Erkrankungsprozess in Gang zu setzen. Das Lungengewebe ist auch der Ort, wo die ersten entscheidenden Schritte in Richtung Wanderungsprogrammierung der krankmachenden T-Zellen stattfinden.
Die direkte Bedeutung der Befunde für die MS-Erkrankung bei Menschen liegt in der möglichen Auslösung von Krankheitsschüben durch Infektionen des Respirationstrakts oder andere Irritationen, wie z.B. Rauchen. So entdeckten die Wissenschaftler der jetzigen Studie potentiell autoaggressive T-Zellen, die langfristig als immunologische Gedächtniszellen in der Lunge verweilen. Nach lokaler Reizung werden die „schlafenden“ Zellen aktiv: Sie wandern in das Gehirn ein und lösen eine MS-artige Erkrankung aus.
Die Schlüsselfunktion der Lunge für die Aktivierung und Umprogrammierung krank-machender T-Zellen könnte in ähnlicher, wenn auch weniger dramatisch für andere Organsysteme, wie den Darm oder den Urogenitaltrakt, gültig sein. Umfangreiche genetische Analysen konnten kürzlich verschiedene Gene bei MS-erkrankten Personen identifizieren, die Patienten für die Erkrankung anfällig machen. „Interessanterweise stimmte eine beträchtliche Anzahl dieser Gene mit denen überein, die wir bei der Wanderungsprogrammierung der T-Zellen in unserer Arbeit gefunden haben“, sagt Flügel. Ziel zukünftiger Studien wird es daher sein, geeignete Gene aus dem Wanderungsprogramm zu finden, die als therapeutische Angriffspunkte dienen könnten.