Das NET(z) des Immunsystems

11. Januar 2011
Wenn Wissenschaftler ihren Augen nicht trauen, sind sie möglicherweise etwas ganz Außergewöhnlichem auf der Spur. So wie Arturo Zychlinsky und seine Kollegen am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie. Weiße Blutkörperchen, die Netze auswerfen, um damit Krankheitserreger zu fangen – das hatte vor ihnen noch niemand beobachtet. Heute profitieren die ersten Patienten von der Entdeckung. 

Text: Klaus Wilhelm

Der Junge konnte kaum mehr atmen, seine Ärzte mussten ihn mit Sauerstoff zusätzlich beatmen. Jeder Schritt fiel ihm schwer. Die Pilzinfektion in seinen Lungen drohte sich auszubreiten. Seit seiner Geburt litt der Achtjährige unter einer Krankheit des Immunsystems, der sogenannten chronischen Granulomatose. Immer wieder befielen ihn Pilze. Niemand wusste, warum sein schwaches Immunsystem gerade diese Eindringlinge nur schwerlich zu bekämpfen vermochte.

Eine Gentherapie eines Teams der Universitätsklinik Zürich um Janine Reichenbach und Reinhard Seger hat den Jungen ins Leben zurückgeholt. „Das ist toll“, schwärmt Volker Brinkmann, Leiter der Arbeitsgruppe Mikroskopie am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. Mit der eigentlichen Behandlung des kleinen Patienten hatte der Biologe nur mittelbar – besser gesagt: rein wissenschaftlich – zu tun: durch die Erforschung der neutrophilen Granulozyten, wichtige Zellen des angeborenen Immunsystems. Und durch die Untersuchung der Netze, die sie auswerfen, um Krankheitserreger zu fangen und zu töten – den Neutrophil Extracellular Traps, kurz NETs.

Eine der spannendsten Entdeckungen der Immunologie des vergangenen Jahrzehnts aus dem Institut auf dem Gelände der berühmten Charité in Berlin-Mitte, der einstigen Wirkungsstätte der Infektionsmedizin-Legenden Robert Koch und Paul Ehrlich. Die Neutrophilen des kranken Jungen waren Studien der Berliner Forscher zufolge nicht in der Lage, NETs zu bilden – was sich laut Brinkmann „vor allem im Kampf gegen Pilze verheerend auswirkt“.

Jetzt studiert der Wissenschaftler in seinem Büro auf einem Bildschirm ein Bild der NETs, aufgenommen mit einem seiner Hightech-Mikroskope in den Räumen nebenan. Rein ästhetisch gesehen ein Genuss: ein mit Farbstoffen bunt gefärbtes Knäuel aus Fäden und Punkten, oberflächlich betrachtet. Dergleichen hat er 2003 als erster Mensch überhaupt gesehen, als noch niemand von der Existenz dieser zellulären und molekularen Abwehrgespinste wusste, und sie plötzlich unter seinen Mikroskopen erschienen.

Artefakt oder natürliches Phänomen?

Auch Arturo Zychlinsky, Direktor am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie und Leiter der Arbeitsgruppe Zelluläre Mikrobiologie, wusste zunächst wenig mit den seltsamen Strukturen anzufangen. „Ich dachte an einen Artefakt“, räumt er ein – also ein künstliches Phänomen, das durch die Bedingungen im Labor ausgelöst wird und nicht natürlicherweise im Organismus vorkommt.

Dabei war Arturo Zychlinsky, geboren und aufgewachsen in Mexiko-City, schon damals lange erfolgreich im Geschäft und ein Experte seines Fachs. Bereits als junger Mann begeisterten ihn Mikroben und das Immunsystem, das sie attackiert. So kam für ihn nur das Studium der Mikrobiologie und Immunologie in Frage. Als es schließlich an die Doktorarbeit ging, entschied er sich für ein Thema aus der angeborenen Immunabwehr.

Dieses System galt als eher tumb im Vergleich zum großen, dem erworbenen oder adaptiven Immunsystem. Dieses basiert darauf, jeden Keim, ganz gleich ob Virus oder Bakterium, ob Parasit oder Pilz, mit maßgeschneiderten Waffen zu vernichten. Und hernach die molekulare Visitenkarte des jeweiligen Erregers ein Leben lang im Gedächtnis zu behalten, um bei einer erneuten Infektion schneller und effektiver zur Tat zu schreiten.

Das adaptive Immunsystem besteht aus Myriaden spezialisierter Zellen mit verschiedenen Unterklassen und aus noch mehr Botenstoffen und Signalmolekülen sowie passgenauen Antikörpern. Ein Dickicht der zellulären Kommunikation, ein Wirrwarr der Signalverarbeitung, unfassbar kompliziert. Für den jungen Zychlinsky „zu kompliziert, um es zu erforschen“, wie er freimütig sagt.

Da erschien das vermeintlich simpler gestrickte angeborene Immunsystem weitaus verlockender. Dass es dergleichen gibt, wussten schon die Griechen der Antike, die Entzündungen beschrieben. „Eine Entzündung ist die Antwort des angeborenen Immunsystems auf eine Infektion“, sagt der Zychlinski – unter anderem mit Schmerzen und Rötung des Gewebes. Die angeborene Immunabwehr ist eine Art Vorhut, ein erster Schutzwall, ein im Vergleich zum „großen Bruder“ adaptives Immunsystem zumindest vordergründig wenig filigraner Haudrauf, der eingedrungene Erreger binnen Minuten attackiert.

„Es ist uralt“, mutmaßt Zychlinsky aus guten Gründen, wahrscheinlich so alt wie das vielzellige tierische Leben, mithin gut 500 bis 600 Millionen Jahre. Seine Zellen und Moleküle finden sich bereits in Schwämmen und Insekten, in Fischen und Fröschen, seit Organismen begonnen haben, andere Lebewesen zu parasitieren und auszubeuten.

Neutrophile Granulozyten - Fußsoldaten des Immunsystems

Zu den wichtigsten Zellen des angeborenen Immunsystems zählen die Makrophagen. Sie fressen Keime förmlich auf – aber mit ungleich kleinerem Hunger als die neutrophilen Granulozyten, die diese Aufgabe 100-mal effektiver erledigen und sich täglich zu Millionen aus Stammzellen des Knochenmarks differenzieren. 70 Prozent aller weißen Blutkörperchen sind Neutrophile; gut und gerne ein halbes Pfund schleppt jeder Erwachsene mit sich herum. Sie streunen durchs Blut und warten nur darauf, von den durchs Gewebe patrouillierenden Wächterzellen des Immunsystems (den dendritischen Zellen) durch Botenstoffe wie Interleukine aktiviert zu werden.

Bekommen sie tatsächlich das Signal „Keime im benachbarten Gewebe!“, eilen die rundlichen Neutrophilen mit ihrem stark gelappten Zellkern aus dem Blutstrom an die Wand des Gefäßes, in dem sie sich gerade befinden, suchen jede noch so kleine Lücke, machen sich länglich-schlank, schlängeln sich hindurch und hasten zum Ort der Infektion.

„Diese Fußsoldaten des Immunsystems“, wie Arturo Zychlinsky sie nennt, sind hoch bewaffnet und allzeit bereit. Sie teilen sich nicht, nach spätestens sechs Stunden sterben sie unabhängig davon, ob sie zum Einsatz gekommen sind oder nicht. In der Nähe der Erreger eingetroffen, entscheiden sie sich, wie sie gegen den Eindringling vorgehen. Entweder sie verschlingen ihn in einem blitzschnellen Akt. Oder sie fluten die infizierte Umgebung mit Bakterien-tötenden Proteinen, die sie in Dutzenden kleiner Depots, den Granula, gespeichert haben. „Da ist alles drin, was gut und teuer gegen Krankheitserreger ist“, wie Volker Brinkmann es ausdrückt.

Eines dieser Enzyme ist die Elastase, die Arturo Zychlinskys Team seit dessen Zeit an der New York University School of Medicine untersucht. Die Elastase zersägt auch jene Bakterienproteine, welche die Mikroben für den Menschen zu Krankheitserregern machen. Diese Virulenz-Faktoren spannen die Wirtszellen ganz für eigene Zwecke ein. Zychlinsky und seine Kollegen zeigten, dass Elastase etwa die Virulenz-Faktoren von Shigella-Bakterien spalten, die gefährliche Durchfallerkrankungen verursachen.

Im Jahr 2003 wollten die Berliner Forscher wissen, wo Shigellen und Elastase in den Neutrophilen aufeinandertreffen. Eine Aufgabe für Volker Brinkmann und sein Mikroskopie-Team, die mit einem Farbstoff die Elastase nach der Infektion einer Neutrophilen-Kultur mit Shigellen orten und sie so unter seinen Licht- und Elektronenmikroskopen sichtbar machen können. „Da tauchte plötzlich Elastase außerhalb der Zellen an diesen bunten Knäueln auf“, erinnert sich Brinkmann, „das war komisch“.

Daraufhin begannen die Wissenschaftler weitere Experimente, in denen sie auch gezielt die Erbsubstanz der Neutrophilen anfärbten. Derlei Finesse führte dann zum sicheren Nachweis der NETs: „Die waren immer da“, sagt Brinkmann. Ein Artefakt war also ausgeschlossen.

Netze aus Chromatin

Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse im Fachblatt Science beackern etliche Forscherteams das neue Feld. Selbstverständlich auch die Berliner Wissenschaftler. Heute, sieben Jahre später, können sie ihren Gästen einen eindrucksvollen Film zeigen, der den Ablauf im Zeitraffer illustriert. Es ist ein Prozess voller Dynamik, begleitetet von dramatischen Veränderungen in den neutrophilen Granulozyten. „Wie Selbstmord-Bomber, die sich selbst in die Luft sprengen“, beschreibt Doktorandin Kathleen Metzler das Szenario. Denn die Bildung der NETs bedeutet gleichzeitig den Tod der Granulozyten.

Unter dem Rasterelektronen-Mikroskop zeigen sich die NETs als feine Fasern und Partikel, die die Fäden zu komplexeren Strukturen verbinden. So entsteht ein Knäuel, in dem sich die Bakterien verheddern. Darin vor allem enthalten: Chromatin. Dieses Gemisch aus DNA und Proteinen befindet sich normalerweise im Zellkern und ist der Träger der Erbinformation.

Den größten Anteil der im Chromatin enthaltenen Proteine stellen die Histone, die der DNA eine geordnete Struktur verleihen. Bei der Netzbildung werden die Histone teilweise zerschnitten, damit sich die DNA-Fäden ausbreiten können. Neben Chromatin und Histonen enthalten NETs 20 bis 25 Proteine aus dem Zellplasma der Neutrophilen, die Bakterien töten oder deren Virulenz-Faktoren unschädlich machen.

Für Arturo Zychlinsky sind jedoch die Histone „die wichtigsten antimikrobiellen Substanzen“ in den NETs. Dass Histone Bakterien bekämpfen können, entdeckte schon 1958 der US-Wissenschaftler James Hirsch. Sein Fund fand aber keine große Anhängerschaft in der Fachwelt. Doch im Labor gereinigte Histone töten Bakterien weitaus effektiver als alle anderen bekannten körpereigenen Antibiotika. Wir haben allerdings keine Ahnung, wie sie das machen“, sagt der Max-Planck-Forscher.

Unklar ist zudem, ob Histone im Organismus bei der Immunabwehr eine Rolle spielen. Zychlinsky vermutet, dass sich die Histone in der Evolution entwickelt haben, um die Erbsubstanz vor Bakterien zu schützen. Beweisen kann er es nicht. Die tödlichen Netze, so viel ist mittlerweile klar, fangen Pilze ab. Und natürlich Bakterien: Shigellen, Salmonellen, Pneumokokken und Staphylokokken, die  Lebensmittelvergiftungen und Schocksyndrome auslösen können.

Granulozyten opfern sich auf

Die Max-Planck-Wissenschaftler wiesen NETs nicht nur in experimentellen Zellkulturen, sondern auch in Gewebeproben von Patienten mit Blinddarmentzündungen und Bakterienruhr nach. Interessanterweise funktioniert dieser Prozess gleichermaßen gut wie das Auffressen der Erreger: „In den NETs sterben ähnlich viele Bakterien wie von lebenden Neutrophilen verdaut werden“, sagt Arturo Zychlinsky.

Der erwähnte Film zeigt auch, wie die Neutrophilen die lebenswichtigen Zellkernbestandteile mobilisieren und aus der Zelle herausschleudern können. Einmal von einem Bakterium in der Umgebung oder durch Botenstoffe des Immunsystems aktiviert, spulen die Zellen ein Programm ab, das unweigerlich ihr Ende bedeutet – ein Suizid fürs Gemeinwohl. Zunächst verändert sich die Struktur des Zellkerns und der Granula. „Die Hülle um den Kern zerfällt, die Granula lösen sich auf, und so können sich die NETs-Bestandteile im Innern der Zellen mischen“, sagt Volker Brinkmann.

Das alles passiert binnen zweier Stunden. Es folgt ein Stadium zwischen Leben und Tod. In einem letzten Akt, nach drei Stunden, zieht sich die Zelle noch einmal zusammen, bis die Zellmembran an einer Stelle aufreißt und die hochaktive Mischung ausgespuckt wird. Außerhalb der Zelle entfaltet sie sich und formiert dann jene Netze, in denen sich Bakterien verfangen.

„Was auf molekularer Ebene dabei geschieht, wissen wir noch nicht“, sagt Zychlinsky. Denn Neutrophile lassen sich im Labor wegen ihrer kurzen Lebensspanne kaum fassen. Fest steht aber: Haben bestimmte Rezeptoren auf der Neutrophilen-Oberfläche das Todessignal erhalten, aktiviert die Zelle binnen 20 Minuten ein NADPH-Oxidase genanntes Enzym, das aus normalen Sauerstoffmolekülen aggressive Sauerstoffradikale produziert – sogenanntes Superoxid. Hemmen die Berliner Forscher dieses Enzym, bleibt die NETs-Bildung aus.

Kathleen Metzler hat mit Granulomatose-Kranken gearbeitet, Leidensgenossen des achtjährigen Gentherapie-Patienten. Die Gene für die Herstellung der NADPH-Oxidase sind bei diesen Patienten defekt, deshalb können sie keine NETs bilden. Auch Menschen mit einer Mutation im Gen für die Myeloperoxidase – ebenfalls an der Sauerstoff-Radikalbildung beteiligt – vermögen keine Netze zu knüpfen, wie die amerikanische Wissenschaftlerin entdeckt hat. Allerdings ist die resultierende Immunschwäche häufig weniger gravierend. Mit Zellproben dieser Patienten wollen die Doktorandin und ihre Kollegen herausfinden, warum Sauerstoff-Radikale für die NETs-Formation so wichtig sind.

Gestörter NETs-Abbau bei Lupus erythematodes

Doch wie jedes nützliche biologische Phänomen hat die Bildung der NETs ihren Preis. Das haben die Max-Planck-Forscher von Anfang an vermutet und schon in der ursprünglichen Science-Veröffentlichung eine schwere Autoimmunerkrankung erwähnt, den Systemischen Lupus erythematodes (SLE). Bei Autoimmunerkrankungen richtet das adaptive Immunsystem seine Waffen, etwa Antikörper, fälschlicherweise gegen Strukturen des eigenen Organismus.

Lupus trifft Frauen fast zehnmal häufiger als Männer. Wahrscheinlich ausgelöst von Infektionen, entwickeln sich Hautauschläge – etwa die typische schmetterlingsförmige Rötung im Gesicht sowie Gelenk- und Muskelschmerzen, Müdigkeit und Entzündungen. Lupus verläuft in Schüben, und mit jedem Schub wird es schlimmer. Vor allem aber zerstören bei einigen Patienten die Autoimmun-Antikörper die Nieren.

Die schwierig zu stellende Diagnose hängt von vielen Faktoren ab. In jedem Fall  bilden die Patienten drei Typen von Antikörpern: gegen die Erbsubstanz DNA, gegen Histone und gegen Proteine aus den Granula von Neutrophilen. Also interessanterweise gegen genau die Bestandteile der Netze. Und oft kommt es nach einer Infektion zu einem SLE-Schub. Deshalb, so die Vermutung der Berliner Wissenschaftler, könnten die Symptome daher rühren, dass die NETs nicht abgebaut werden.

Gemeinsam mit Medizinern der Universität Erlangen gingen die Max-Planck-Forscher der Sache auf den Grund. Bei jedem neuen Schub nach einer Infektion wandern offenbar Neutrophile an den Ort des Geschehens und produzieren Netze. Die rechtzeitige Entsorgung der Netze scheint essenziell zu sein, um die Bildung neuer Autoimmun-Antikörper zu verhindern. Offenbar baut normalerweise das im Blut zirkulierende Enzym DNase-1 die Netze ab. Doch funktioniert das bei einem Teil der Lupus-Patienten nicht. „Entweder sie bilden zu viele Netze oder aber die DNase ist blockiert“, sagt Arturo Zychlinsky, vielleicht durch Antikörper gegen das Enzym. Oder aber die DNase-1 kommt einfach nicht an die Netze heran.

Ist der Mechanismus gestört, reichern sich die Antikörper vor allem in den Nieren an, haben die Wissenschaftler entdeckt. „Wir können mit großer Sicherheit sagen, dass diese Lupus-Patienten ein hohes Risiko für ein Nierenversagen besitzen“, betont Zychlinski. Auf dieser Basis ließe sich also ein neuer Diagnose-Test, der eine hohe Konzentration von Antikörpern gegen die Netze nachweist, für die Prognose eines Nierenversagens entwickeln. Das könnte einer früheren Behandlung der Patienten den Weg ebnen.

Zur Therapie von Lupus-Patienten ist es jedoch noch ein langer Weg. So ließen sich in einer Art Blutwäsche die gefährlichen Antikörper herausfiltern. Sollte es aber gelingen, die molekularen Geheimnisse des Krankheitsprozesses zu entschlüsseln, könnte daraus eines Tages ein selektiv wirkendes Medikament erwachsen, das die NETs-Bildung bei SLE-Patienten bremst.

NETs sind auch an Vaskulitis, Prä-Eklampsie und cystischer Fibrose beteiligt

Auch bei einer anderen seltenen Autoimmunerkrankung – der Vaskulitis, bei der das Immunsystem die Gefäße und die Nieren angreift – spielen die NETs bei der Krankheitsentstehung eine wichtige Rolle. Überhaupt entdecken Wissenschaftler immer öfter, dass Netze an Krankheitsprozessen beteiligt sind – oder sie können zuvor mysteriöse Phänomene mit NETs plötzlich erklären.

Beispielsweise war lange rätselhaft, warum Staphylokokken und Pneumokokken genannte Bakterien eine DNase auf ihrer Oberfläche platzieren. Jetzt ist nach einer Studie der Berliner Max-Planck-Forscher und des Karolinska-Instituts in Stockholm klar: Sie wollen die Netze zersäbeln. Beraubt man die Erreger der DNasen, bedrohen sie den Organismus weitaus weniger. Ohne DNasen, das belegt ein Versuch mit Mäusen, wandern die Bakterien nicht in die Lungen ein, womit etwa das Risiko für eine Blutvergiftung praktisch auf Null sinkt.

Darüber hinaus sind NETs offenbar an der Entstehung der Prä-Eklampsie bei Schwangerschaften beteiligt. Bei dieser Erkrankung lagern die Frauen Wasser ins Gewebe ein und bekommen Bluthochdruck. Der Prozess kann auch für das Ungeborene in eine schwerwiegende Notfallsituation münden. Die äußerste Schicht des mütterlichen Gewebes bildet dabei an der Kontaktfläche zum Embryo kleine Partikel. Kommt es zu einer Entzündung und wandern Neutrophile ein, entstehen Netze, die die Blutversorgung des Embryos gefährden, indem sie das Gewebe regelrecht „verkleistern“, wie Volker Brinkmann sagt. Die Folge: Sauerstoffmangel für das ungeborene Leben mit potenziell dramatischen Folgen.

Forscher um Dominik Hartl vom Klinikum der Universität München haben zudem massenweise Netze in den Lungen von Patienten mit Cystischer Fibrose gefunden. Die Betroffenen leiden aufgrund eines Erbdefekts an einer verschleimten Lunge – ein idealer Nährboden für immer neue Bakterieninfektionen. Die Netze verstopfen die Lunge zusätzlich, was die Atemprobleme der Patienten verstärkt. Je schlechter die Lungenfunktion der Patienten, umso mehr Netze in den Atemwegen. Angestoßen wird die Netzbildung in diesem Fall offenbar unabhängig von der NADPH-Oxidase.

Netze, so die Ergebnisse von ehemaligen Zychlinsky-Mitarbeitern, stimulieren die Bildung von Blutgerinnseln in Venen und bieten dafür ein ideales Gerüst. Blutplättchen heften sich an, werden aktiviert und klumpen sich zusammen. Die Gabe von DNase stoppt den bedrohlichen Prozess. Die Netze verbinden sich auch mit etlichen Proteinen, die die Thrombose fördern. Auch die Substanz Heparin stoppt die von den Netzen ausgelöste Thrombose-Bildung. Grund: Heparin entfernt die Histone von der DNA. Histone allein können offenbar die Formation der Blutgerinnsel auslösen. Die Erkenntnisse stärken einen Befund aus Bevölkerungsstudien: Demnach sind Infektionen häufig verbunden mit der Bildung von Blutgerinnseln.

So zeigt sich, wie die durch Grips, Geschick und Zufall gespeiste fundamentale Entdeckung von Arturo Zychlinsky und Volker Brinkmann  immer weitere Kreise zieht. „Uns interessieren vor allem Grundlagenprozesse“, betont Zychlinsky. „Aber wenn irgendwann einmal ein Patient davon profitieren würde, wären wir die glücklichsten Menschen.“

 

GLOSSAR

Angeborenes Immunsystem

Das Immunsystem besteht aus dem angeborenen (unspezifischen) und erworbenen (spezifischen) Immunsystem. Die angeborene Immunabwehr bildet die vorderste Front in der Abwehr von Krankheitserregern. Mithilfe bestimmter Proteine spüren seine Zellen körperfremde Stoffe von Erregern auf. Das angeborene System erkennt sie jedoch nicht spezifisch und schützt auch nicht vor einer erneuten Infektion. Es soll vielmehr die Entstehung eines Infektionsherdes verhindern und seine Ausbreitung eindämmen. Darüber hinaus stimuliert es das erworbene Immunsystem mit seinen B- und T-Zellen und Antikörpern.

Neutrophile
Neutrophile Granulozyten sind ein bestimmter Typ weißer Blutkörperchen (Lymphozyten). Sie entstehen im Knochenmark und sind Teil des angeborenen Immunsystems. Sie können Krankheitserreger erkennen, aufnehmen und töten.

Chromatin
Als Chromatin bezeichnet man den Komplex aus der Erbsubstanz DNA und Proteinen. Es ist der Bestandteil der Chromosomen. Bestimmte Proteine des Chromatins, die Histone, dienen dazu, das fadenförmige DNA-Molekül besonders dicht zu packen und zu komprimieren.

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