Verwildertes Genie

Verwilderte Zuchtnerze besitzen größere Gehirne als ihre in Gefangenschaft gehaltenen Artgenossen

Nutztiere unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von ihren wilden Artgenossen, aber einen Unterschied zeigen sie alle: Ihre Gehirne sind kleiner als die ihrer Vorfahren - ein Phänomen, das als Domestizierungseffekt bekannt ist und das unter anderem bei Schafen, Schweinen und Kühen auftritt. Auch das Gehirn amerikanischer Zuchtnerze ist mit der Zeit in Gefangenschaft geschrumpft. Nun hat eine Studie des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz eine seltene Umkehr des Domestizierungseffekts entdeckt: Nerze, die von aus Gefangenschaft entkommenen Tieren abstammen, haben innerhalb von nur 50 Generationen fast die volle Gehirngröße ihrer Vorfahren wiedererlangt.

Wenn das Gehirn von Tiere im Laufe der Domestizierung kleiner wird, gilt dies meist als Einbahnstraße. Sogar wilde Populationen von ehemals domestizierten Tieren, die seit Generationen in freier Wildbahn leben, scheinen fast nie die relative Gehirngröße ihrer Vorfahren wiederzuerlangen. "Wenn im Laufe der Evolution ein Körperteil wie zum Beispiel bestimmte Gehirnregionen verloren gehen, sind sie weg und können nicht einfach wiedergewonnen werden", sagt Dina Dechmann, Hauptautorin der Studie und Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.

Die Frage, ob verwilderte Tiere die relative Gehirngröße ihrer wilden Artgenossen wiedererlangen können, ist schwierig zu untersuchen. Dazu müsste man getrennte wilde und verwilderte Populationen einer Tierart finden, um sicherzustellen, dass sich die Gruppen nicht vermischt haben. Und man müsste ein Tier finden, an dem man ausreichend Gehirn- und Schädelmessungen vornehmen kann. Mit anderen Worten, man bräuchte ein Tier wie den amerikanischen Nerz.

Der amerikanische Nerz stammt aus Nordamerika und wird seit über einem Jahrhundert für in Europa für den Pelzhandel gezüchtet. Nach vielen Generationen in Gefangenschaft entkamen einzelne Tiere und bildeten verwilderte Populationen, die sich in ganz Europa ausbreiteten. Diese natürliche Geschichte lieferte somit die getrennten Populationen, die Dechmann und ihr Team benötigten: wilde Nerze aus Nordamerika, domestizierte Nerze aus europäischen Pelzfarmen und verwilderte Nerze aus Europa.

Schädel als Indikator für die Gehirngröße

Um die Veränderungen in der Gehirngröße zu untersuchen, wandte sich das Team einem Proxy zu: dem Schädel. "Die Größe der Hirnschale ist ein guter Indikator für die Hirngröße bei Nerzen, und so können wir Messungen an vorhandenen Schädelsammlungen vornehmen, ohne dass wir lebende Tiere benötigen", sagt Pohle. Eine Museumssammlung der Cornell University lieferte die Schädel von wilden amerikanischen Nerzen, während die von domestizierten Tieren von europäische Pelzfarmen stammten. Für die wilde Population arbeiteten Dechmann und Pohl mit Andrzej Zalewski vom polnischen Mammal Research Institute zusammen, der über eine im Rahmen eines Programms zur Ausrottung verwilderter Nerze gewonnene Sammlung von Schädeln verfügte. "Normalerweise besteht die Schwierigkeit darin, ausreichend große Sammlungen von Schädeln zu finden, mit denen man arbeiten kann", sagt Dechmann. "Wir hatten das unglaubliche Glück, mit mehreren Organisationen zusammenzuarbeiten, um die benötigten Probengrößen zu erreichen.

Das Team nahm Messungen an den Schädeln vor, um die relative Gehirngröße der Tiere zu bestimmen. Sie fanden heraus, dass die Gehirne der in Gefangenschaft gezüchteten Nerze im Vergleich zu ihren wilden Vorfahren um 25 Prozent geschrumpft waren, was dem gut dokumentierten Domestikationsprozess entspricht. Entgegen den Erwartungen wuchsen die Gehirne wild lebender Nerze jedoch innerhalb von 50 Generationen auch fast wieder auf die Größe ihrer wilden Vorfahren an. "Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Verlust der Gehirngröße bei domestizierten Tieren nicht immer unumkehrbar ist", sagt Ann-Kathrin Pohle, Masterstudentin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und Erstautorin der Studie. "Mit dieser Erkenntnis vertiefen unser Verständnis für die Auswirkung der Domestizierung auf die Gehirne von Tieren und wie sich diese Veränderungen auf die Tiere auswirken könnten, wenn sie in die Wildnis zurückkehren."

Tiere mit flexiblen Gehirnen

Dechmann vermutet den Grund, warum gerade dieses Tier etwas erreicht hat, was als unwahrscheinlich galt. Amerikanische Nerze gehören zu einer Familie von kleinen Säugetieren, den Marderartigen, welche die bemerkenswerte Fähigkeit besitzen, ihre Gehirngröße saisonal zu verändern, was als Dehnel-Phänomen bekannt ist. Dechmann, eine Expertin für diesen Prozess, hat das Dehnel-Phänomen bei den nahverwandten Wieseln, sowie bei Spitzmäusen und Maulwürfen dokumentiert. "Während andere domestizierte Tiere beim Verringern der Gehirngröße anscheinend manche Hirnregionen dauerhaft verlieren, ist es möglich, dass Nerze ihre ursprüngliche Gehirngröße wiedererlangen können, weil bei ihnen eine flexible Gehirngröße einprogrammiert ist", sagt sie.

Diese Flexibilität könnte den Nerzen, als sie wieder in die freie Wildbahn kamen, Vorteile gebracht haben. "Wenn man aus der Gefangenschaft zurück in die Natur flieht, braucht man ein voll funktionsfähiges Gehirn, um die Herausforderungen des Lebens in der Wildnis zu meistern. Tiere mit flexiblen Gehirnen wie die Nerze könnten ihr Gehirn wiederherstellen, selbst wenn es zuvor geschrumpft war."

Die Ergebnisse sagen nichts darüber aus, ob die Gehirne verwilderter Nerze genauso funktionieren wie die von Wild-Nerzen. Um das herauszufinden, müsste das Team die Gehirne der Tiere untersuchen, was der Fokus für zukünftig geplante Studien ist.

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