Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Nachhaltige Materialien GmbH
Nano-Stähle, 3-Dimensionale Orientierungs-Elektronenmikroskopie und metallphysikalische Simulation der Umformung
Nano Steels, 3-Dimensional Orientation Electron Microscopy and Simulation of the Physics of Metal Forming
Mikrostrukturphysik und Umformtechnik (Prof. Raabe) (Prof. Dr.-Ing. Dierk Raabe)
MPI für Eisenforschung GmbH, Düsseldorf
Einleitung
Der vorliegende Aufsatz stellt einige aktuelle Themen aus dem Bereich der Mikrostrukturforschung und Simulation von Stahlwerkstoffen aus dem Institut vor. Das Ziel der vorgestellten Projekte besteht darin, Anstöße für die Methoden, Gefüge und Eigenschaften für den Werkstoff Stahl für die nächsten 10 Jahre zu geben.
Besonderes Augenmerk gilt dabei kommenden Generationen optimierter Gefüge (ultrafeinkörnige Stähle, athermische Effekte, nanoskalierte Ausscheidungen, In-situ-Verbundstähle), verbesserten Eigenschaften (verstärkte Integration mechanischer und funktioneller Elemente, Verbundstrukturen, Stahl-Polymer-Verbundkomponenten), neu entwickelten Simulationsverfahren für die Vorhersage der Umformung und der Rückfederung von Halbzeugen aus hochfesten Stählen, sowie die Entwicklung von entsprechenden Produkten, welche diese Strukturen und Eigenschaften ausnutzen können.
Gefüge mit höchsten Dichten innerer Grenzflächen
Ein entscheidendes Merkmal der Gefüge der meisten in jüngster Zeit erfolgreich eingeführten und optimierten Stahlgüten besteht darin, dass die zugrunde liegenden Mikrostrukturen zunehmend feiner werden [1-3].
Beispielsweise werden im Bereich hochfester Stähle athermische Umklapp-Mechanismen ausgenutzt, die im Verlauf einer Umformung zu besonders kleinen Gitterfehlerabständen führen (hohe Dichten geometrisch notwendiger Versetzungen, hohe Grenzflächendichten zum Beispiel zwischen Austenit, Ferrit, Zementit, Bainit und / oder Martensit). Es ist daher eine Zielrichtung unserer gegenwärtigen Arbeiten, dass in dieser Richtung zunehmend Stähle mit solchen Gefügen insbesondere für den Automobilbereich entwickelt werden. Entscheidend dabei ist, dass Stähle mit wesentlichen Anteilen an athermischen Umwandlungsgefügen eine besonders hohe Aufnahme plastischer Arbeit bei der Umformung, zum Beispiel bei einem Unfall, aufweisen.
Ähnliches gilt für die weitere Entwicklung der niedriglegierten Mn-C-Baustähle, wenngleich auch über den Weg der Verringerung der Ferritkorngröße anstatt über die Einführung von Umform-Martensit oder -Bainit. Bereits jetzt sind Methoden zur Einstellung von mittleren Korngrößen im Sub-Mikrometerbereich auch im Fall der großtechnischen Produktion für solche Stähle mittels spezieller thermomechanischer Verfahren durchführbar.
In Extremfällen werden im Bereich der Stähle und der Nickelbasislegierungen für besondere Anforderungen in Zukunft möglicherweise auch zunehmend nanokristalline und amorphe, d.h. glasartig strukturierte metallische Legierungen zum Einsatz kommen. Für den Bereich der weichmagnetischen Stähle und stahlverwandten Materialien ist dies bereits jetzt der Fall. Im Bereich der Werkstoffe für weichmagnetische Diebstahlsicherungen beispielsweise werden bereits jetzt überwiegend nanokristalline Werkstoffe mit zunehmendem kommerziellen Erfolg eingesetzt. Diese zunehmend erfolgreiche Einführung solcher modernen Werkstoffkonzepte lässt vermuten, dass auch für mechanisch beanspruchte Bauteile glasartige und nanokristalline sowie entsprechende Gradientenkonzepte Einzug halten könnten. Die Charakterisierung erfolgt bei solchen Materialien neuerdings am Institut mithilfe der 3-dimensionalen Orientierungs-Elektronenmikroskopie (Abb. 1).
Fortgeschrittene konstitutive Konzepte zur anwendungsnahen physikalisch-basierten Simulation von Stählen
Zurzeit werden neue Verfahren und Stahlgüten schneller in die Praxis (z.B. in die Automobilpraxis) eingeführt als die numerische Simulation (z.B. die Blechumformsimulation) mit den immer komplexer werdenden Gefügen und Eigenschaften neuer Stähle Schritt halten kann. Dadurch entstehen beträchtliche zusätzliche Kosten aufgrund der tradierten aufwendigen Try-und-Error-Verfahren in den Anwenderindustrien. Es ist für die Zukunft daher damit zu rechnen, dass in der Werkstoffsimulation zunehmend physikalische anstatt empirische Modellieransätze zum Tragen kommen, und neue Stahlentwicklungen somit auch schneller in der Computervorhersage gefügegerecht und realistischer abgebildet werden können (Abb. 2) [4-11].
Insbesondere die Simulation mittels FEM (Finite-Elemente-Methode) ist seit geraumer Zeit ein etabliertes Werkzeug in der Bauteilentwicklung. Sie wird in der Zukunft vermutlich immer breiteren Raum einnehmen und analytische Methoden, beispielsweise die der Plastomechanik, weiter zurückdrängen. Die Anforderungen an die Berechnungsgenauigkeit werden dabei allerdings ebenfalls immer höher. Im Automobilbereich zum Beispiel liegen die Fertigungstoleranzen bei einigen Bauteilen heute durchaus schon im Submillimeterbereich. Um diesen hohen Ansprüchen gerecht zu werden, sind in Zukunft immer bessere Werkstoffmodelle für die werkstoffgerechte und gefügenahe FEM-Berechnung notwendig.
In Bezug auf metallische Werkstoffe stellt dabei die korrekte Wiedergabe der Anisotropie der mechanischen Eigenschaften sowohl im plastischen als auch im elastischen Bereich eine besondere Herausforderung dar. Am Max-Planck-Institut für Eisenforschung wurde hierzu mit der Texturkomponenten-Kristallplastizitäts-FEM (Texture Component Crystal Plasticity Finite Element Method, TCCP-FEM) ein neues Verfahren entwickelt und auch bereits in die Automobilindustrie eingeführt, das bei moderaten Anforderungen an die Rechenzeit eine hohe Präzision bei der Erfassung der Anisotropie bietet. Dies gilt sowohl für die Anisotropie zu Beginn als auch für ihre Entwicklung während des Umformprozesses.
Die Anisotropie der mechanischen Eigenschaften ist eine Schlüsseleigenschaft der Stähle. Es ist daher nahe liegend, dass es unterschiedliche Ansätze gibt, diese in FE-Simulationen zu berücksichtigen. Ein konventioneller Ansatz ist die Verwendung von analytischen Fließortfunktionen. Der Fließort beschreibt, abhängig von der Belastungsrichtung im sechsdimensionalen Spannungsraum, bei welchem Spannungszustand plastisches Fließen einsetzt. Die wohl bekannteste Formulierung dieser Art ist der Fließort nach von Mises. Danach tritt plastisches Fließen immer dann auf, wenn die lokale Vergleichspannung höher ist als eine Grenzspannung. Auf Grund der Formulierung dieser Vergleichsspannung handelt es sich beim von Mises-Fließort jedoch um einen isotropen Fließort, der hier daher nicht weiter betrachtet werden soll, obwohl er noch sehr häufig verwendet wird. Durch Modifikation der Formulierung der Vergleichsspannung lässt sich auf Basis der von Mises-Überlegungen leicht anisotropes Verhalten simulieren. Eine der ältesten und die wohl auch heute noch am häufigsten verwendete Modifikationen dieser Art ist eine von Hill 1948 vorgeschlagene Funktion, die heute in vielen Standard-FEM-Paketen implementiert ist. Diese Art empirischer analytischer Formulierungen hat den Vorteil mathematisch einfach und damit in der Anwendung sehr schnell zu sein.
Dem steht aber eine Reihe von Nachteilen gegenüber. Die Anpassung der Fließortfunktion erfolgt in der Regel mithilfe von mechanischen Kennwerten des Ausgangsmaterials. Das heißt, es wird die Anisotropie des Ausgangsmaterials modelliert. Die Anisotropie verändert sich aber im Laufe des Umformprozesses. So ist zum Beispiel für die sehr wichtige elastische Rückfederung die Anisotropie am Ende der Umformung von Interesse. Diese Entwicklung der Anisotropie kann aber mithilfe solch analytischer Funktionen nur durch Modifikationen der Formulierung während der Simulation erfasst werden, wobei diese Modifikation eine ganze Reihe zusätzlicher empirischer Annahmen erfordert. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass die Art der mathematischen Formulierung häufig Einschränkungen mit sich bringt. So ist es zum Beispiel mit der Formulierung von Hill auf Grund ihrer quadratischen Form nur möglich Anisotropie mit vierzähliger Symmetrie zu modellieren, was für Stähle in der Zukunft keinesfalls mehr ausreicht.
Der eigentliche Ursprung des anisotropen Verhaltens metallischer Werkstoffe liegt in ihrem kristallinen Aufbau. Dabei weist ein Einkristall die maximale Anisotropie auf. Wären die Kristalle eines Bauteils rein statistisch orientiert, so ergäbe sich ein quasi-isotropes Verhalten. Auf Grund seiner Vorgeschichte (z.B. Walzen und Wärmebehandlung) sind die Kristalle in realen Bauteilen aber nicht statistisch orientiert, sondern weisen charakteristische Orientierungsverteilungen auf. Diese als Textur bezeichneten Verteilungen lassen sich mithilfe der Röntgen- oder Elektronenbeugung quantitativ messen. Es ist daher ein physikalisch nahe liegender Ansatz, den Fließort nicht an mechanische Kennwerte anzupassen, sondern ihn generisch aus der Textur zu berechnen. Dazu gibt es unterschiedliche Ansätze. Eine Möglichkeit besteht in der Kopplung von Umform-FEM-Simulation und Textursimulationen. Die entscheidende Größe für die Umform-FEM-Simulation ist die Fließspannung. Diese kann mithilfe von Textursimulationen für vorgegebene Verformungspfade berechnet werden. Es ist daher nahe liegend, beide Arten von Simulationen zu koppeln. Problematisch bei diesem Verfahren ist jedoch die große Zahl von Körnern, die für eine gute Beschreibung der Textur notwendig ist, was zu relativ langen Rechenzeiten führt.
Eine alternative Methode ist das Kristallplastizitäts-FEM-Verfahren. Die Kristallplastizitätsmethode wurde ursprünglich als Einkristall-Methode entwickelt. Sie berücksichtigt direkt die Kristalleigenschaft metallischer Werkstoffe. Das heißt, der plastische Anteil des Deformationsgradienten setzt sich aus Scherungen auf den kristallinen Gleitsystemen zusammen. Dieses Vorgehen liefert direkt die Anisotropie der mechanischen Eigenschaften sowie ihre weitere Entwicklung. Unter Verwendung der Taylor-Annahme kann man die Kristallplastizitätsmethode auf Polykristalle erweitern. Dabei wird angenommen, dass sich alle Kristalle unterschiedlicher Orientierung an einem Integrationspunkt gleich verformen. Will man auf diese Weise jedoch das Umformverhalten ganzer Bauteile simulieren, so ergibt sich wieder das Problem, dass sehr viele Orientierungen für eine korrekte Wiedergabe der Textur benötigt werden.
Die aus dem Kristallplastizitäts-FEM-Verfahren weiter entwickelte Texturkomponenten-Kristallplastizitäts-FEM kombiniert die Polykristallvariante der Kristallplastizitäts-FEM (s.o.) mit der Texturkomponentenmethode zur Beschreibung von statistischen Texturen. Die Texturkomponentenmethode beruht auf der Annahme, dass es möglich ist, die vollständige Orientierungsverteilungsfunktion (die mathematische Beschreibung der Textur, OVF) durch einige wenige gaußförmige Verteilungen im Orientierungsraum, die so genannten Texturkomponenten, sowie einen regellosen Anteil zu beschreiben. Die einzelnen Komponenten werden dabei durch ihre Mittelpunktsorientierung, ihre Intensität und ihre Halbwertsbreite vollständig beschrieben. Damit ergibt sich ein sehr kompakter Datensatz zur vollständigen Beschreibung der Textur.
Die Integration der Texturkomponenten in die Kristallplastizitäts-FEM geschieht wie folgt: Die Kristallplastizitäts-FEM arbeitet mit diskreten Orientierungen. Es stellt sich daher die Frage, wie eine Texturkomponente, die ja eine Orientierungsverteilung ist, innerhalb des FEM-Netzes abgebildet werden kann. Hierzu wird zunächst allen Integrationspunkten die Mittelpunktsorientierung einer Texturkomponente zugewiesen. In einem zweiten Schritt wird dann die Orientierung jedes Integrationspunktes in der Art modifiziert, dass die Gesamtheit aller rotierten Integrationspunkte die Texturkomponente repräsentiert (Abb. 3). Das heißt, die Stützstellen zur Repräsentation der Verteilung im Orientierungsraum werden zusätzlich räumlich über das gesamte FE-Netz verteilt. In ganz ähnlicher Weise wird auch der verbleibende regellose Anteil dargestellt. Hierzu wird jedem Integrationspunkt eine zufällige Orientierung zugewiesen, sodass die Gesamtheit aller Integrationspunkte eine regellose Verteilung der Orientierungen darstellt.