Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Astrophysik

Asymmetrische Neutrinoemission: Ein neues Phänomen in entstehenden Neutronensternen

Autoren
Janka, Hans-Thomas
Abteilungen
„Stellare Astrophysik”
Zusammenfassung
Im Zentrum von explodierenden Sternen, sog. Supernovae, entstehen extrem heiße und dichte Neutronensterne. Erste dreidimensionale Computersimulationen zeigen eine unerwartete, lang anhaltende Dipolasymmetrie der Neutrinoabstrahlung dieser kompakten Sternleichen. Sollte dieses erstaunliche Ergebnis der theoretischen Modelle physikalisch real sein, hätte eine solche Emissionsdifferenz in gegenüberliegenden Halbkugeln weitreichende Konsequenzen für die Entstehung schwerer Elemente in Sternexplosionen und würde den Neutronenstern durch einen Rückstoß beschleunigen.

Sterne mit mehr als zirka achtfacher Masse der Sonne beenden ihr Leben in gigantischen Explosionen, sogenannten Supernovae. Diese spektakulären Ereignisse gehören zu den energiereichsten und hellsten Erscheinungen im Universum und können eine ganze Galaxie für Wochen überstrahlen. Supernovae sind wichtige kosmische Quellen schwerer chemischer Elemente. Sie schleudern nicht nur Kohlenstoff, Sauerstoff und Silizium in den interstellaren Raum, nachdem diese über viele Millionen Jahre im Innern der alternden Sterne erbrütet wurden, sondern erzeugen im Verlauf der Explosion auch Eisen und noch schwerere Elemente.

Während der Großteil der Sternmaterie durch die Supernova ausgeschleudert wird, kollabiert der Kern des sterbenden Sterns unter seiner eigenen Schwerkraft zu einem ultrakompakten Überrest, einem Neutronenstern. Diese wahrlich exotischen Objekte besitzen ungefähr die eineinhalbfache Masse der Sonne, zusammengequetscht in einer Kugel mit dem Durchmesser Münchens. Die zentrale Dichte in einem Neutronenstern erreicht unvorstellbare 300 Millionen Tonnen (das Gewicht eines Berges) im Volumen eines Zuckerwürfels und übersteigt damit die Dichte von Atomkernen.

Die Materie in entstehenden Neutronensternen ist extrem heiß, die Temperaturen können mehr als 500 Milliarden Grad betragen. Bei derartigen Bedingungen erzeugen Teilchenreaktionen von Neutronen, Protonen, Elektronen und Positronen (den Antiteilchen der Elektronen) riesige Mengen von Neutrinos. Daher kühlen neu geborene Neutronensterne durch die Abstrahlung von rund 1058 dieser ungeladenen, fast masselosen Elementarteilchen, die extrem selten mit irdischer Materie wechselwirken: Nur ein einziges von einer Milliarde Neutrinos aus einer Supernova (oder von der Sonne, die ebenfalls Neutrinos in einem nuklearen „Fusionskraftwerk” in ihrem Zentrum erzeugt) kollidiert mit einem Teilchen in der Erde, alle anderen fliegen ohne eine einzige Wechselwirkung durch die Erde hindurch.

Neutronensterne emittieren Neutrinos und Antineutrinos aller drei Flavors („Geschmacksrichtungen”), die zu den drei bekannten Familien geladener Leptonen gehören, nämlich Elektronneutrinos, Myonneutrinos und Tauneutrinos. Diese Neutrinos sollten nach klassischer Vorstellung in alle Raumrichtungen gleichförmig abgestrahlt werden, weil Neutronensterne wegen ihrer gewaltigen Gravitationskräfte nahezu perfekt kugelförmig sind. Die meisten bisherigen Computermodelle für die Neutronensternentstehung haben daher Kugelsymmetrie angenommen. Erst vor kurzem ist es aufgrund der wachsenden Leistungsstärke moderner Supercomputer möglich geworden, die ersten dreidimensionalen Simulationen unter Berücksichtigung der hochkomplexen Neutrinophysik durchzuführen.

Wie erwartet ist die Neutrinoemission zunächst sphärisch, abgesehen von kleineren, über die Oberfläche verteilten Variationen (Abb. 1, linkes oberes Bild). Diese Variationen entsprechen heißeren und kühleren Regionen, die durch wildes „Kochen” und Brodeln der heißen Materie in und um den Neutronenstern erzeugt werden, weil Blasen heißen Gases aufsteigen und Strömungen kühleren Plasmas nach innen sinken (Abb. 2). Allmählich aber wachsen die Gebiete mit höheren und niedrigeren Temperaturen zu einer hemisphärischen Anisotropie, sodass eine Halbkugel mehr Neutrinos abstrahlt als die gegenüberliegende Seite. Eine stabile Dipolasymmetrie stellt sich ein, die über lange Zeiten erhalten bleibt. Während die Emission aller Neutrinos zusammen relativ kleine hemisphärische Unterschiede im Prozentbereich aufweist (Abb. 3, oben), kann die Differenz zwischen den Hemisphären bei Elektronneutrinos und -antineutrinos individuell bis zu 20 Prozent des mittleren Wertes betragen (Abb. 3, Mitte und unten). Besonders ausgeprägt sind die Richtungsvariationen bei der Differenz von Elektronneutrinos und -antineutrinos (Abb. 1, rechtes unteres Bild), d. h. bei der sogenannten Leptonzahlemission.

Die Möglichkeit einer solchen globalen Anisotropie der Neutrinoabstrahlung war nicht vorhergesagt worden und ihr Auftreten in den ersten dreidimensionalen Simulationen der dynamischen Entstehung von Neutronensternen ist ein völlig unerwartetes Ergebnis. Das Phänomen zeigt erstaunliches Verhalten: Trotz des wilden Brodelns der „kochenden”, heißen Materie, welches rasche Variationen des Strömungsmusters innerhalb und außerhalb des Neutronensterns zur Folge hat (Abb. 2), bleibt der Unterschied der Neutrinoemission in beiden Hemisphären über lange Zeiträume stabil bestehen und zeigt nur eine langsame und moderate Verschiebung der räumlichen Richtung (siehe dünne, dunkelgraue Linie in Abb. 1). Das Astrophysikerteam gab dem neuen Phänomen daher den Namen „LESA” für Lepton-Emission Self-sustained Asymmetry (deutsch: sich selbst erhaltende Leptonemissions-Asymmetrie), denn der Emissionsdipol scheint sich durch komplizierte Rückkopplungseffekte selbst zu stabilisieren und zu erhalten [1]. Die asymmetrische Neutrinostrahlung beeinflusst den Kollaps des stellaren Kerns, sodass in beiden Hemisphären unterschiedlich viel Materie auf den Neutronenstern fällt, was die anisotrope Abstrahlung von Neutrinos unterstützt und verstärkt. Dieses Ergebnis legt nahe, dass der kugelsymmetrische Kollaps eines stellaren Kerns keine stabile Situation darstellt, sondern das System eine neue, stabile Dipolasymmetrie annehmen möchte.

Falls LESA wirklich in kollabierenden stellaren Kernen auftritt, hat dieses Phänomen wichtige Folgen für beobachtbare Erscheinungen bei Supernovaexplosionen. Die vom Neutronenstern abgestrahlten Neutrinos wechselwirken mit der aus dem innersten Zentrum der Supernova ausgeschleuderten Materie und bestimmen dabei das Verhältnis von Neutronen und Protonen in diesem Gas. Letzteres ist entscheidend dafür, welche chemischen Elemente sich dann später in den abkühlenden Ejekta bilden. Eine richtungsabhängige Variation der Emission von Elektronneutrinos und -antineutrinos wird daher zu unterschiedlicher Elemententstehung in verschiedenen Richtungen führen. Außerdem tragen die anisotrop abgestrahlten Neutrinos einen Impuls, der einen entgegengesetzten Rückstoß auf den Neutronenstern verursacht. Wegen der gigantischen Zahl entweichender Neutrinos genügt bereits eine kleine Asymmetrie von nur einem Prozent, sollte sie über Sekunden aufrecht erhalten bleiben, um den Neutronenstern auf rund 100 Kilometer pro Sekunde zu beschleunigen. Auch der Neutrinoblitz, der die Erde von einer zukünftigen galaktischen Supernova erreichen wird, muss dann von der Beobachtungsrichtung abhängen. Zuverlässige Berechnungen des Signals, das große Untergrundlabors wie IceCube am Südpol und SuperKamiokande in Japan messen werden, sind daher nur unter Berücksichtigung der Richtungsvariationen möglich, die von den neuen dreidimensionalen Modellen vorhergesagt werden [2, 3].

Jedoch ist die verblüffende neutrino-hydrodynamische Instabilität, die sich im LESA-Phänomen manifestiert, noch nicht gut verstanden. Viel mehr Forschung ist notwendig, um sicherzustellen, dass es sich nicht um ein Artefakt der hochkomplexen numerischen Simulationen handelt. Sollte der neue Effekt physikalisch real sein, stellt er eine Entdeckung dar, die direkt durch den Einsatz modernster Supercomputer bei der Berechnung eines nichtlinearen Systems ermöglicht wurde, ohne dass dieses Phänomen durch theoretische Überlegungen zuvor vermutet worden wäre.

Literaturhinweise

Tamborra, I.; Hanke, F.; Janka, H.-Th.; Müller, B.; Raffelt, G. G.; Marek, A.
Self-sustained asymmetry of lepton-number emission: A new phenomenon during the supernova shock-accretion phase in three dimensions
Astrophysical Journal 792, 96 (2014)
Tamborra, I.; Hanke, F.; Müller, B.; Janka, H.-Th.; Raffelt, G.
Neutrino signature of supernova hydrodynamical instabilities in three dimensions
Physical Review Letters 111, 121104 (2013)
Tamborra, I.; Raffelt, G.; Hanke, F.; Janka, H.-Th.; Müller, B.
Neutrino emission characteristics and detection opportunities based on three-dimensional supernova simulations
Physical Review D 90, 045032 (2014)
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