Die Krone der Sonne

Wer eine totale Sonnenfinsternis erlebt, ist überwältigt vom Anblick des Strahlenkranzes, der unser Tagesgestirn umgibt. Was Laien bezaubert, bringt Forscher seit Jahrzehnten ins Grübeln. Warum, so rätseln sie, ist diese Korona genannte Gasschicht mehrere Millionen Grad heiß? Das Team um Sami K. Solanki, Direktor am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen, geht das Problem mit raffinierten Beobachtungsmethoden und Computersimulationen an.

Feldlinien verdrillen sich wie Gummibänder

Ursache für all diese Aktivitäten sind die Magnetfelder, die wie beschrieben aus der Oberfläche herausragen. Nun gleicht die Sonne einem heißen Gasball, dessen Materie ständig in Bewegung ist. Wie Wasser in einem Kochtopf wallt heißes Gas in konvektiver Bewegung aus dem Innern nach oben, kühlt sich dort ab und strömt wieder in die Tiefe. „Deshalb sind die Fußpunkte der Magnetfeldbögen nicht fest in der Oberfläche verankert, sondern bewegen sich mit den aufwallenden heißen Gasmassen hin und her“, erklärt Hardi Peter.

Dabei verdrillen sich die Feldlinien und speichern immer mehr Energie, wie ein Gummiband, das man verdreht. Wenn die Spannung einen kritischen Wert übersteigt, können sich Magnetfeldlinien mit gegensinniger Polung verbinden. Physiker nennen diesen Vorgang Reconnection („Wiederverbindung“). Bei einem solchen magnetischen Kurzschluss verschwindet ein Teil des Feldes, und die darin gespeicherte Energie wird schlagartig frei.

Es geht aber auch ohne Kurzschluss. Allein ein sich bewegendes Magnetfeld kann an das umgebende Plasma Energie abgeben, ganz ähnlich wie bei einem stromdurchflossenen Leiter: Das bewegte Magnetfeld induziert in der Korona Ströme; deswegen sprechen die Forscher auch von Ohmscher Heizung. Vermutlich steckt in diesen Vorgängen der Schlüssel für das Verständnis der Koronaheizung.

Die aktiven Regionen lassen sich im UV-Bereich sehr gut beobachten. Zeitrafferfilme führen eindrucksvoll vor Augen, wie dynamisch sich die Magnetfelder und das heiße Gas verändern. Magnetfeldbögen schwingen hin und her, lösen sich auf und bilden neue Konfigurationen. Mit dem Spektrometer Sumer messen die Forscher Dichte, Temperatur und Geschwindigkeiten; ein weiteres Instrument auf Soho liefert die Magnetfeldstärken. Mit diesen Beobachtungsdaten eines bestimmten Zeitpunkts füttert Peter sein Computerprogramm und lässt es dann selbstständig die weitere Entwicklung berechnen.

Siebenfach ionisiertes Neon lässt das Gas strahlen

Nach einem vorgewählten Zeitraum wird die Rechnung abgebrochen und das Ergebnis mit der Realität verglichen, und zwar in allen verfügbaren Größen: Das Programm kann die Geschwindigkeits- und Temperaturfelder darstellen oder die Erscheinung des Gases bei einer bestimmten Temperatur anzeigen. So strahlt etwa ein 700000 Grad heißes Plasma intensiv bei einer Wellenlänge von 77 Nanometern (Millionstel Millimeter). Verursacher sind siebenfach ionisierte Neonatome.

Die ermittelten Geschwindigkeitsfelder lassen sich indes noch schwer mit der Realität vergleichen, weil Sumer zu langsam ist. Das Instrument benötigt etwa zehn Minuten, um eine aktive Region gänzlich zu vermessen. Eine Simulation erfasst jedoch die Veränderungen eher im Sekundentakt über einen Gesamtzeitraum von 20 Minuten. „Hier ist im instrumentellen Bereich noch viel Luft nach oben“, kommentiert Peter die derzeitige Situation. Der Vergleich mit der Wirklichkeit gestaltet sich auch deswegen nicht immer einfach, weil das Gas durchscheinend ist. Deshalb erscheinen hintereinander liegende Strukturen stets auf eine Ebene projiziert. Dies betrifft die Beobachtungen ebenso wie die Simulationsergebnisse. Das Weltraumobservatorium Solar Dynamics Observatory (SDO) macht diese Überlagerung einzelner Strukturen derzeit gut sichtbar. Hier zeigen Bilder die komplexe räumliche Struktur und die hohe zeitliche Dynamik der Korona besonders eindrucksvoll. Das Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung sitzt in Sachen Auswertung in der ersten Reihe – betreibt es doch das German Data Center.

Erst mit solchen 3D-Simulationen konnten die Forscher einige beobachtete Phänomene erklären, welche die eindimensionalen Rechnungen nicht wiedergaben. In weiten Teilen ist die Übereinstimmung der 3D-Modelle mit der Beobachtung schon recht gut. Kürzlich stieß Hardi Peter in einer Simulation sogar auf ein bis dahin völlig unbekanntes Phänomen: Ganz plötzlich bildete sich am unteren Rand der Rechenbox eine mehrere Tausend Kilometer hohe heiße Gasblase, die unvermittelt aufschoss, auf einem weiten Bogen bis in 20 000 Kilometer Höhe durch die Korona flog und nach einer Viertelstunde wieder zur Oberfläche zurückfiel. In dem Film erinnert die Szene ein wenig an einen Delfin, der aus dem Wasser springt.

Bei genauer Analyse dieser Sequenz bemerkte Peter, dass an dem Absprungpunkt der Blase die Magnetfelder zufällig stark verflochten waren. Sie bewegten sich zudem sehr schnell und heizten ihre Umgebung besonders stark auf. Ähnlich wie bei einer Explosion wurde nun Material weggeschleudert und flog in hohem Bogen in die Korona. Anfänglich hielt Peter dieses nur in einer Rechnung aufgetretene Phänomen für einen Fehler, wie er bei numerischen Simulationen vorkommen kann. Doch die Datenanalyse zeigte schnell, dass dies nicht der Fall war. Auf einer Tagung stellte sich heraus, dass Kollegen ein ähnliches Phänomen beobachtet und Rabbit genannt hatten, weil es sie an einen springenden Hasen erinnerte.

Neues Observatorium soll auch die Pole beobachten

„Das Interessante an diesem Fall ist, dass der Prozess möglicherweise auch auf viel kleineren Skalen, zum Beispiel bei Spikulen, wichtig sein könnte“, sagt Peter. Das werden zukünftige Arbeiten mit numerischen Modellen höherer räumlicher Auflösung und der weitere Vergleich mit Beobachtungen zeigen müssen. Nach jahrzehntelanger Koronaforschung ist nun zweifelsfrei geklärt, dass die Magnetfelder grundsätzlich genügend Energie liefern, um die Korona zu heizen. „Wir wissen aber noch nicht, wie diese Energie auf der Skala von Zentimetern oder Metern an das koronale Plasma übertragen wird“, schränkt Peter ein. Das können auch seine Simulationen nicht klären, die das Geschehen auf großen Skalen von hundert Kilometern berechnen. Die Sonnenforscher befinden sich in einer ähnlichen Situation wie Meteorologen: Deren Modelle können zwar mit gewisser Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wo es regnen wird; aber die Tröpfchenbildung in der Wolke können sie nicht berechnen.

Große Hoffnungen setzen die Forscher auf ein neues Sonnenobservatorium, den Solar Orbiter, dessen Bau die Europäische Weltraumagentur ESA im Herbst 2011 beschlossen hat. Das Weltraumteleskop soll 2017 starten und die Sonne auf einer elliptischen Bahn mit einem geringsten Abstand von 42 Millionen Kilometern umlaufen. Das entspricht weniger als einem Drittel des Abstands zwischen Erde und Sonne. So nahe ist ein Weltraumobservatorium dem Stern noch nie gekommen. Außerdem wird die Umlaufbahn gegen den Sonnenäquator so stark geneigt sein, dass sich erstmals auch die Pole beobachten lassen.

Starker Beschuss mit Flareteilchen

Das Göttinger Max-Planck-Institut ist an vier von insgesamt zehn wissenschaftlichen Instrumenten beteiligt. Unter seiner Führung entsteht ein Magnetograf, der das Magnetfeld und die Plasmageschwindigkeit messen soll. Zudem wird ein Spektrometer, das auf der Erfahrung mit Sumer aufbaut, die Korona mit unerreichter Genauigkeit und sehr hoher zeitlicher Auflösung untersuchen.

Viel Zeit bleibt den Wissenschaftlern nicht, 2015 müssen sie die Instrumente an die ESA ausliefern. Bis dahin muss noch viel experimentiert werden – „etwa mit Materialien und Optiken, die sehr hohe Temperaturen und einen starken Beschuss von Sonnenwind- und Flareteilchen überstehen“, wie Eckart Marsch erklärt, der zu den Initiatoren von Solar Orbiter gehört. Das Observatorium soll der Sonne so nahe kommen, dass der Hitzeschild der Raumsonde bis 500 Grad Celsius heiß wird. In der geringen Entfernung wird es auch möglich sein, die ursprünglichen Eigenschaften der Teilchen vor Ort noch unverändert so zu messen, wie sie von der Sonnenoberfläche kommen und entlang der Magnetfeldlinien in den interplanetaren Raum hinausfliegen. Ziel ist es unter anderem, die Bahnen der Teilchen bis zu ihrem Ursprung auf der Sonne zurückzurechnen sowie die Ausbreitung von Wellen und Turbulenzen im Sonnenwind besser zu verstehen.

Auf diese Weise würden die Forscher die enge Wechselwirkung des Plasmas mit dem aktiven Magnetfeld der Sonne und ihrer Heliosphäre, also dem Einflussbereich des Sonnenwinds, studieren können. Diese Daten würden dann in die 3D-Modellierung der Teilchenausbreitung eingehen. „Die Mikrophysik der Korona zu verstehen ist eine der Hauptmotivationen für den Solar Orbiter“, sagt Marsch. Und freut sich auf ein goldenes Zeitalter der Sonnenforschung.

Thomas Bührke

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