Alterung - ein mathematisches Gesetz?

Alterung - ein mathematisches Gesetz?

Die Nachricht ist zum Allgemeinplatz geworden: Menschen werden immer älter. In den Industriestaaten steigt die Lebenserwartung alle zehn Jahre um zwei bis drei Jahre. Die Wissenschaftler um James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, ist einer Naturkonstante auf der Spur. Ihn interessiert: Wird diese Entwicklung so weitergehen? Stellt die Geschwindigkeit des Alterns eine grundlegende, unveränderliche Größe des menschlichen Lebens dar?

Diese Frage hat erhebliche Bedeutung für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft, für Politik und Wirtschaft – kein Wunder, dass die Alternsforschung an Einfluss gewinnt. Diese Disziplin hat sich zu einem der interessantesten Bereiche der demografischen Forschung entwickelt und wird vor allem in den USA inzwischen mit erheblichen Mitteln ausgestattet. Auch die Max-Planck-Förderstiftung (MPF) ist überzeugt von der grundsätzlichen Bedeutung der Frage "Rate of Human Ageing – Wie schnell altern Menschen?" und unterstützte deshalb das Team von Vaupel mit 950.000 Euro.

Die Forschung, aus der sich Prognosen für die Lebenserwartung stellen lassen, basiert weitgehend auf der Mathematik. Sie benötigt umfassende Daten von Menschen aller Altersklassen, die nach verschiedenen statistischen Methoden ausgewertet werden. Da die Fragestellung interdisziplinär nicht nur mit den Sozialwissenschaften, sondern auch mit der Biologie – etwa der Frage der genetischen Disposition – verknüpft ist, bezieht man die Daten bestimmter humaner Biomarker sowie Erkenntnisse aus den Alterungsprozessen von Modellorganismen ein.

Die Lebenserwartung steigt, weil das Sterberisiko sinkt.

Die Berechnung der Lebenserwartung kann verwirrend sein: Laut Statistischem Bundesamt liegt die Lebenserwartung eines 2009 geborenen Mädchens bei 82 Jahren und sieben Monaten (Jungen: 77 Jahre und sechs Monate). Wissenschaftler des Rostocker Instituts haben dagegen ausgerechnet, dass jedes Baby, das 2009 in der Bundesrepublik zur Welt kam, mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Leben von mindestens 100 Jahren vor sich hat. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Prognosen erklären?

Die Lösung: Der vom Statistischen Bundesamt berechnete Wert trifft nur dann zu, wenn die Lebensbedingungen auf dem Niveau verharren, das sie zum Zeitpunkt der Berechnung hatten. Wenn sich die Lebensbedingungen auch in Zukunft so schnell verbessern wie in den vergangenen 150 Jahren, kommt man zum Resultat der Rostocker.

Die Statistiker am Institut benutzen für die Alterung noch eine andere Messlatte: Die Sterberate – also das Risiko, in einem bestimmten Alter zu sterben. Für eine 20-jährige westdeutsche Frau im Jahr 2009 ist das Sterberisiko mit 0,0002 unerheblich. Bis zu ihrem 40. Geburtstag hat sich die Sterberate auf 0,0007 mehr als verdreifacht, ist aber immer noch sehr gering. Selbst mit 60 ist die Todesgefahr noch nicht nennenswert: Das Risiko liegt dann bei knapp 0,006. Dann allerdings steigt die Rate rasant: Mit 80 Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit, in Laufe desselben Lebensjahres vom Tod ereilt zu werden, bei etwa 4 Prozent, mit 90 bei rund 15 und mit 95 bei fast 27 Prozent.

Gibt es hinter diesem jähen Anstieg eine Regel? Gar ein mathematisches Naturgesetz der Alterung? James Vaupel hat dazu ein großes Forschungsprogramm aufgelegt. Seine Hypothese: Einen einheitlichen Prozentzuwachs der Sterberate gibt es nicht nur im Bevölkerungsdurchschnitt, sondern ebenso für jeden Einzelnen.

Sterberisiko steigt prozentual gleichmäßig an - aber zunächst auf niedriger Basis.

Die Grundlagen für diese Forschung legte bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert der junge Londoner Versicherungsmathematiker Benjamin Gompertz. Er entdeckte: Auch wenn die Sterberaten erst sehr niedrig sind, steigen sie doch von Lebensjahr zu Lebensjahr um denselben Prozentsatz. Beim erwachsenen Menschen erhöht sich die Rate jedes Jahr um etwa zehn Prozent. Nur fällt das in jungen Jahren kaum ins Gewicht: Ein winziges Risiko, das um ein Zehntel steigt, ist immer noch winzig. Erst wenn sich die Steigerungen anhäufen wie der Zinseszins auf dem Sparkonto, werden die Raten groß und sichtbar. Da dynamische Größen, deren relative Veränderung konstant ist, einer Exponentialfunktion gehorchen, formulierte Gompertz das erste statistische Alterungsgesetz: Das Sterberisiko steigt exponentiell mit dem Alter.

Interessante Abweichung: Vom Kinder- bis ins junge Erwachsenenalter steigt die Mortalität noch nicht exponentiell. Sie ist am Anfang des Lebens noch leicht erhöht, weil es selbst in den entwickelten Ländern immer noch eine Säuglings- und Kindersterblichkeit gibt. Ist diese kritische Phase überwunden, verweilt das Risiko ein paar Jahre bei fast Null. In der Pubertät steigt das Sterberisiko von Männern sprunghaft an, weil sie sich durch hormongetriebenes Prahl- und Imponierverhalten verstärkt in Lebensgefahr bringen. Mit etwa 40 Jahren setzt schließlich das ein, was Demografen als "Alterung" bezeichnen: Der regelmäßige Anstieg der Mortalität um zehn Prozent pro Jahr. Erstaunlicherweise blieb dieser Alterszuwachs zumindest in der jüngeren Menschheitsgeschichte nahezu gleich, ebenso wie der Startpunkt von 40 Jahren.

Das hieße: Im Prinzip altern alle Menschen ab 40 gleich schnell. Die relative Geschwindigkeit, mit der ihr Sterberisiko pro Lebensjahr wächst, wäre dann eine Naturkonstante. Nach dieser Theorie würde kein Mensch per se zu einer längeren Phase der Alterung neigen als ein anderer. Unglückliche Zufälle schließt das allerdings nicht aus. Leider bleiben sie das Wesen des Risikos: etwa, schon früh durch eine Krankheit oder wegen eines Unfalls dahingerafft zu werden.

Es bleibt trotz alledem ein großer Spielraum, durch gesundes Verhalten das eigene Risikolevel zu drücken. Die Sterberisiken sind nur Mittelwerte. Sie gelten im Durchschnitt für die ganze Bevölkerung, und die Werte jedes Einzelnen können deutlich darüber (oder darunter) liegen. Denn wie hoch das Niveau der eigenen Sterblichkeit ist, unterliegt auch dem individuellen Verhalten und den körperlichen Voraussetzungen, die jeder Einzelne schon mit in die Wiege gelegt bekam oder die früh im Leben geprägt wurden. Jeder kann die eigene Alterung hinausschieben.

Bild: "It's all about love", Candida Performa. Creative Commons CC BY 2.0.

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