Göttinger Nobelpreisträger Manfred Eigen verstorben

Der 1967 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Forscher untersuchte zentrale Fragen der Biochemie

Er war einer der vielseitigsten deutschen Forscher und ein öffentlich weit sichtbarer Vertreter der Wissenschaft. Manfred Eigen, Chemie-Nobelpreisträger und Begründer des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen, ist am 6. Februar 2019 im Alter von 91 Jahren verstorben. "Manfred Eigen hat 1967 schon mit 40 Jahren den Nobelpreis für Chemie erhalten. Der Nobelpreis ist eigentlich die Krönung eines jeden Forscherlebens. Doch Eigen blieb auch in den Folgejahren wissenschaftlich höchst produktiv. Dabei war er seiner Zeit oft voraus. So waren seine theoretischen Überlegungen zur gerichteten Evolution von Enzymen aus den 1980er-Jahren Ausgangspunkt für jene Arbeiten, für die 2018 der Chemie-Nobelpreis vergeben wurde. Den wissenschaftlichen Campus in Göttingen hat Manfred Eigen maßgeblich mitgestaltet. Die Max-Planck-Gesellschaft verliert mit ihm einen bedeutenden Wissenschaftler", sagt der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Martin Stratmann.

„Mit dem Tod von Manfred Eigen verlieren wir einen herausragenden Denker und genialen Forscher, der das Leben von Mitarbeitern und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt maßgeblich geprägt hat. Seine Vision, komplexe Lebensvorgänge mit biologischen, physikalischen und chemischen Methoden zu erforschen und das Entdeckte zum Nutzen für den Menschen anzuwenden, hat Manfred Eigen am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie verwirklicht. Diese Vision und seine integrative Persönlichkeit prägen den Spirit unseres Instituts bis heute. Dass wir Manfred Eigen als Mentor haben durften, war ein Segen – für seine Mitarbeiter ebenso wie für das weitere Umfeld in Göttingen“, sagt Nobelpreisträger und Direktorenkollege Erwin Neher.

Seinem Anspruch, Wissenschaft auf höchstem Niveau zu betreiben, ist Manfred Eigen stets spielend gerecht geworden. Wie nur wenige hatte er ein untrügliches Gespür dafür, welches Potenzial und welche Chancen in unerwarteten Entdeckungen stecken und er verstand es, diese zu nutzen. Von seinem Weitblick und seinem großen Engagement für die Förderung der Wissenschaften profitierte auch die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in vielerlei Hinsicht, etwa als er eines der größten und erfolgreichsten Institute innerhalb der Forschungsgesellschaft gründete oder sich im Senat der MPG für die Gesellschaft einsetzte.

„Manfred Eigen verstand es wie kaum ein anderer, vorherrschende Denkmuster zu durchbrechen und mit Erfolg wissenschaftlich neue Richtungen einzuschlagen“, so Herbert Jäckle, langjähriger Vize-Präsident der MPG und Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie. „Diese Fähigkeit zeichnete ihn bereits zu den Anfängen seiner wissenschaftlichen Karriere aus und zieht sich als roter Faden durch sein gesamtes Leben.“

Ausgezeichnete Forschung – Nobelpreis für Chemie 1967  

Bereits in seinen ersten Jahren als Wissenschaftler in Göttingen stellte Manfred Eigen seine Gabe als Querdenker unter Beweis. Als er 1953 als junger Assistent von Karl Friedrich Bonhoeffer am MPI für physikalische Chemie damit anfing, extrem schnelle chemische Reaktionen zu untersuchen, galten einige dieser Abläufe in der Wissenschaft als „unmessbar schnell“. Doch Eigen war nicht bereit, sich mit dieser vorherrschenden Lehrbuchmeinung zufriedenzugeben, für die es seiner Ansicht nach keine fundierten Argumente gab. Er war der festen Überzeugung, dass in der Chemie nichts unmessbar sei und schlicht die geeigneten Methoden fehlten. So begann der Physiko-Chemiker, die sogenannten Relaxations-Messmethoden zu entwickeln. 1954 stellte er diese bei der Faraday Society in London (England) öffentlich vor. Was er dort präsentierte, war eine wissenschaftliche Sensation. Denn mit diesen Methoden war es erstmals möglich, Reaktionsgeschwindigkeiten im Mikro- und sogar Nanosekunden-Bereich zu messen. Sein wissenschaftlicher Durchbruch klärte zentrale Fragen der Biochemie, beispielsweise wie Enzymaktivitäten gesteuert werden, und brachte ihm 1967 gemeinsam mit Ronald G. W. Norrish und George Porter den Nobelpreis für Chemie.

In der Folge erhielt Eigen zahlreiche Angebote von renommierten Forschungseinrichtungen und Universitäten in der ganzen Welt. Er verfolgte allerdings andere Ziele und trat mit Ideen zum Aufbau eines neuen, interdisziplinären Instituts in Göttingen an die MPG heran.

In den späten 1960er Jahren stieß sein visionärer Vorschlag, physikalische, chemische und biologische Forschung an einem Institut zu vereinen, in der MPG zunächst auf Skepsis. Nach einigem Zögern stimmte die Gesellschaft Eigens Ideen zu, das Max-Planck-Institut für physikalische Chemie mit dem Max-Planck-Institut für Spektroskopie zu einem neuen Institut zusammenzulegen und um weitere Fachgebiete zu ergänzen. 1971 wurde schließlich das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie gegründet und die Wissenschaftler der beiden Vorgänger-Institute wechselten in die bezugsfertigen Labore und Büroräume. Von den anfangs fünf Abteilungen wuchs das Institut in den ersten Jahren auf zwölf Abteilungen an. Die Einrichtung der neuen Abteilungen begleitete Manfred Eigen gemäß seinem Grundsatz: „Es ist nicht das Forschungsgebiet, das zählt, sondern die Exzellenz der Individuen.“ Eine Überzeugung, der das Institut auch heute noch folgt.

Begründer der evolutiven Biotechnologie

In seiner späteren wissenschaftlichen Karriere befasste sich Manfred Eigen mit dem Problem der molekularen Selbstorganisation und der Entstehung des Lebens. Er stellte Charles Darwins Evolutionstheorie mittels natürlicher Auslese auf eine solide physikalische Basis und wandte dieses Konzept auf molekulare Systeme an. Eigen gelang es damit, eine Brücke zwischen Biologie und Physik zu schlagen. Die Begriffe Hyperzyklus, Quasispezies, Fehlerschwelle und Sequenzraum sind untrennbar mit seinem Namen verbunden.

„Alles, was neu ist, muss aus der Grundlagenforschung kommen, sonst ist es nicht neu“, so sagte es Manfred Eigen einmal. Dabei hat er nicht nur Neues entdeckt, sondern auch neue Anwendungen geschaffen. Seine Theorien über die Selbstorganisation komplexer Moleküle und seine Entwicklung von Evolutionsmaschinen, mit denen er diese Theorien in die Praxis umsetzte, führten in den 1980er Jahren zu einem neuen Forschungszweig – der evolutiven Biotechnologie. Die Evolutionsmaschinen, für industrielle Anwendungen von Manfred Eigens Team am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie zur Produktreife gebracht, wurden erfolgreich eingesetzt, um grundlegende Mechanismen der Evolution im Zeitraffer im Labor zu untersuchen. Mit Evolutionsmaschinen lassen sich zudem neue molekulare Wirkstoffe identifizieren, um aus diesen Medikamente zu entwickeln.

Manfred Eigen begründete im Laufe seiner Karriere damit gleich zwei große wissenschaftliche Schulen, zunächst in der chemischen Reaktionskinetik und später in der Entwicklung eines molekularen Zugangs zur Evolutionsbiologie.

Wissenschaftler müssen kommunizieren

Überzeugt davon, dass Wissenschaftler ihre Forschung auch kommunizieren müssen – in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ebenso wie in der Öffentlichkeit – war es Manfred Eigen stets ein Anliegen, seine Begeisterung für Wissenschaft weiterzugeben. Seine Forschung vermittelte er anschaulich in Fernsehinterviews und durch seine berühmt gewordenen populärwissenschaftlichen Bücher wie „Das Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall“ (1983), oder sein letztes Buch „From strange simplicity to complex familiarities. A treatise on matter, information, life and thought“, die er zusammen mit seiner langjährigen wissenschaftlichen Partnerin und späteren Ehefrau Ruthild Oswatitsch publizierte. Als äußerst eloquenter und mitreißender Redner begeisterte er Wissenschaftler und Nicht-Wissenschaftler gleichermaßen und wurde mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen im In- und Ausland geehrt.

Nicht zuletzt hat Manfred Eigen die Förderung der Wissenschaft mit entscheidenden Impulsen vorangebracht. So war er Vorsitzender des Rates der European Molecular Biology Organization und des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Immunologie in Basel (Schweiz). Als Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes setzte er sich von 1982 bis 1993 mit großem Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs ein.

Neben der Wissenschaft galt Manfred Eigens Leidenschaft vor allem der Musik. Im Alter von 18 Jahren hatte er vor der schwierigen Wahl gestanden, eine Karriere als Wissenschaftler oder als Pianist einzuschlagen. Wissenschaft und Musik faszinierten ihn von Kindheit an. Da ihm aber während des Zweiten Weltkriegs die Gelegenheit fehlte, das Klavierspiel zu üben, fiel die Entscheidung schließlich zugunsten der Naturwissenschaften aus. Doch Eigen blieb Zeit seines Lebens der Musik eng verbunden. Als begabter Pianist gab er zahlreiche Konzerte und wirkte unter anderem bei Aufnahmen des Kammerorchesters Basel unter der Leitung von Paul Sacher und des von David Epstein geleiteten New Orchestra of Boston mit.

„Manfred Eigens Interessen weit über sein eigenes Fachgebiet und die Naturwissenschaften hinaus, gepaart mit einem unbändigen Forschergeist, waren seine hervorstechenden Eigenschaften. Sein Ansatz war es stets, für Probleme die eleganteste und für alle am besten tragbare Lösung zu finden. Seine Persönlichkeit, seine Werte und sein respektvoller Umgang mit Kollegen und Mitarbeitern haben unser Institut maßgeblich geprägt. Sie sind Ansporn für uns und ein Anspruch, der uns immer wieder herausfordert und dem wir gerecht werden wollen“, so Nobelpreisträger und Direktorenkollege Stefan Hell.

Biografie

Manfred Eigen wurde 1927 in Bochum geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Chemie und Physik in Göttingen, unter anderem bei Werner Heisenberg und Wolfgang Paul. Mit nur 24 Jahren schloss er seine Promotion in physikalischer Chemie bei Arnold Eucken ab. 1953 wechselte er als Assistent zu Karl Friedrich Bonhoeffer an das Max-Planck-Institut für physikalische Chemie, wo er an der Messung ultraschneller Reaktionen forschte und die Relaxationsmethoden entwickelte. Vier Jahre nach der ersten Vorstellung dieser Methoden berief ihn die Max-Planck-Gesellschaft als Wissenschaftliches Mitglied. Am Göttinger Max-Planck-Institut für physikalische Chemie 1958 wurde er zum Direktor und Leiter der Abteilung Chemische Kinetik ernannt. Nach Gründung des Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie leitete er dort von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1995 die Abteilung Biochemische Kinetik. In den Ruhestand ging Eigen allerdings nicht: Am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie sowie am Scripps Research Institute in La Jolla (Kalifornien, USA) war er viele weitere Jahre bis ins hohe Alter wissenschaftlich aktiv. Eigen ist Mitbegründer der Firmen Evotec Biosystems (heute Evotec AG) und DIREVO Biosystems AG (heute Bayer HealthCare).

Manfred Eigen ist so häufig geehrt worden wie kaum ein anderer deutscher Wissenschaftler. Neben dem Nobelpreis für Chemie (1967) wurde er mit einer Vielzahl weiterer renommierter Preise ausgezeichnet, darunter dem Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik (1962), dem Paul-Ehrlich und Ludwig-Darmstädter-Preis (1992) und dem Lifetime Achievement Award des Institute of Human Virology in Baltimore, USA (2005). Er erhielt 15 Ehrendoktorwürden und ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Akademien. Seine Geburtsstadt Bochum ernannte ihn 2001 zum Ehrenbürger der Universität, 1978 wurde er zum Ehrensenator der Universität Göttingen gewählt. Die Stadt Göttingen würdigte ihn mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft im Jahr 2002.

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