Impfstoffe aus dem Reaktor

Wenn eine weltumspannende Pandemie durch Grippeviren droht, könnte die Impfstoffproduktion an ihre Grenzen kommen. Denn der Grippe-Impfstoff wird heute größtenteils noch in bebrüteten Hühnereiern erzeugt. Udo Reichl, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme, und seine Mitarbeiter erforschen daher eine vollautomatische Produktion in Zellkulturen, die im Krisenfall Impfstoff in großer Menge liefern soll.

Text: Tim Schröder

Zu den Waffen gegen die Grippe gehört das Ei, das ganz gewöhnliche Hühnerei. Denn so ein Ei ist ein Biotechnologie-Labor im Kleinen. 1931 machte der Pathologe Ernest W. Goodpasture von der Vanderbilt University in Nashville eine folgenreiche Entdeckung. Er pikste ein bebrütetes Ei mit einer feinen Nadel an und infizierte es mit Grippeviren. Im Ei vermehrten sich die Viren prächtig. Als Goodpasture nach einigen Tagen ein wenig Flüssigkeit aus dem Ei absaugte und sie untersuchte, war die Anzahl der Viren in die Höhe geschossen. Goodpasture war sofort klar: Eier sind geradezu ideal für die Vermehrung von Grippeviren – und das perfekte Werkzeug für die Herstellung von Impfstoffen. Denn für Impfungen braucht man Viren.

Der Trick besteht darin, den Körper behutsam mit Viren anzuimpfen, ohne ihn krank zu machen. So lernt das Immunsystem den Krankheitserreger kennen und kann eine Abwehr gegen ihn entwickeln. Zu diesem Zweck nutzt die Medizin drei verbreitete Impfmethoden. Bei der ersten spritzt man eine große Zahl abgetöteter Viren, bei der zweiten eine geringere Zahl von Viren, die abgeschwächt und nicht mehr infektiös sind. Bei der dritten Methode verabreicht man nur Bruchstücke der Virenhülle oder einzelne Virenproteine. In jedem Falle aber sind Viren nötig.

Herstellung von Impfstoffen soll effizienter werden

Goodpastures Methode ist inzwischen 80 Jahre alt und wurde immer weiter verfeinert. Zur Herstellung von Influenzaimpfstoffen jedoch wird das Ei noch immer genutzt. 95 Prozent aller Grippeimpfdosen enthalten auch heute noch Viren, die in Eiern vermehrt wurden. Doch inzwischen stößt das Verfahren an seine Grenzen. Denn für eine einzige Impfdosis benötigt man ein oder zwei Eier, die im Brutkasten bebrütet wurden. Um ausreichend Impfstoff für ein ganzes Land herzustellen, sind folglich mehrere Millionen Eier nötig.

Für die Europäische Union konnte auf diese Weise bislang noch ein ausreichend großer Vorrat an Impfstoffen für die nächste Grippewelle angelegt werden. „Aber was ist, wenn in China oder Indien, Ländern mit zusammen mehr als zwei Milliarden Menschen, eine Epidemie ausbricht? Dann kommt man mit der Produktion nicht mehr hinterher“, sagt Udo Reichl, Direktor der Abteilung „Bioprozesstechnik“ am Max- Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg.

Der Biologe und Verfahrenstechniker arbeitet mit seinem Team daran, Alternativen zur Impfstoffproduktion im Ei zu entwickeln. Wie Impfstoffhersteller und andere Forschungsgruppen weltweit setzt er dabei auf tierische Zellen, die er in Laborgefäßen und Bioreaktoren kultiviert. Doch ein etabliertes Verfahren in der pharmazeutischen Produktion zu ersetzen ist teuer. Entsprechend zurückhaltend ist die Industrie damit. Deshalb möchte Udo Reichl die Herstellung von Impfstoffen in Zellkulturen so effizient machen, dass Unternehmen darin eine lohnende Alternative sehen.

Die Zellen, die für die Virenproduktion infrage kommen, wurden meistens schon vor vielen Jahren oder gar Jahrzehnten aus verschiedenen Lebewesen und Organen extrahiert – aus Affen, Hamstern oder Hunden zum Beispiel. Viele dieser Zelllinien sind unsterblich, sie können sich unendlich teilen. Daneben gibt es neue Zelllinien, die in Forschungseinrichtungen oder von Biotech- Firmen genetisch unsterblich gemacht wurden und sich so ebenfalls für die Herstellung von Arzneimitteln eignen.

Das Team um Udo Reichl hat sich für seine Forschungsarbeiten mehrere solcher Zelllinien ausgesucht, in denen sich Viren besonders gut vermehren. „Das ist schon lustig“, sagt Reichl, „andere Wissenschaftler sind damit beschäftigt, Viren zu bekämpfen und ihre Zahl möglichst gering zu halten. Wir aber wollen eine Zelle dazu bringen, so viele Viren wie möglich zu produzieren. Wir arbeiten nicht anti-, sondern proviral.“

Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie ein Virus eine Zelle infiziert und dazu bringt, Tausende Virenkopien freizusetzen. Ein Grippevirus etwa gleicht einer stachligen Kugel. Bei diesen Stacheln handelt es sich um die Eiweiße Hämagglutinin und Neuraminidase. An der Spitze des Hämagglutinins sitzt eine Art Schlossstruktur, mit der das Virus gezielt an die Oberfläche von tierischen oder menschlichen Zellen andocken kann. Es hängt vor allem von der Feinstruktur dieser Bindestelle ab, ob die Strukturen auf der Zelloberfläche wie ein Schlüssel ins Schloss zum Viren-Hämagglutinin passen – und ob ein Virus so Zugang zu einer Zelle erhält.

Kampf gegen die Grippe als Wettlauf gegen die Zeit

Findet das Schloss auf der Virenoberfläche einen Schlüssel auf der Zelloberfläche, nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Membran der Wirtszelle öffnet sich, das Virus dringt in die Zelle ein und entlässt seine Erbgutstränge ins Zellinnere. Das Virus programmiert die Zelle um: Sie wird zur Virenproduktionsstätte. Sie synthetisiert brav Virenbestandteile, die anschließend zu Hunderten oder Tausenden neuer Viren zusammengesetzt werden und sich von der Zelloberfläche abschnüren. Für diese Abschnürung ist das Vireneiweiß Neuraminidase wichtig. Für Mensch und Tier ist es fatal, wenn sich die Viren so prächtig vermehren – dann bricht die Krankheit erst richtig aus. Für die Impfstoffproduktion aber ist das ideal.

Während Grippeviren heute noch zum größten Teil im Ei produziert werden, züchtet man andere Virenarten schon lange in Zellkulturen. Doch das Ziel der Impfstoffentwickler ist in beiden Fällen das gleiche: in kurzer Zeit große Mengen von Viren herzustellen, um im Falle einer Epidemie oder gar weltumspannenden Pandemie ausreichend Impfstoff verfügbar zu machen. Fatalerweise lassen sich viele Impfstoffe nicht auf Vorrat produzieren. Denn Viren, vor allem Grippeviren, sind höchst wandlungsfähig. So entstehen ständig neue Erreger, gegen die der vorhandene Impfstoff nicht hilft.

Der Kampf gegen die Grippeviren ist deshalb ein Wettlauf gegen die Zeit. Gelingt es den Wissenschaftlern, eine neue Virenvariante aufzuspüren und die Impfstoffe an sie anzupassen, ehe sich der Erreger zu einer großen Grippewelle auswächst? Häufig gewinnen Pharmahersteller und Forscher das Rennen. Oft aber sind die Viren schneller. Dann wird es heikel, denn dann breitet sich das Virus schnell zur Pandemie aus. Dann wäre es gut, eine vollautomatische Grippeviren- Zuchtmaschine zu haben, die sich schnell hochfahren lässt und die Viren in großer Zahl ausstößt – eine Produktionslinie, wie Reichl sie entwickeln will.

Die grundlegende Technik für eine solche Virenzucht im großen Maßstab gibt es bereits. Dabei handelt es sich um Bioreaktoren, eine Art von Zuchtkessel. Doch noch gibt es auf dem Weg zur optimalen Virenzucht Hürden. Die erste besteht darin, dass sich die Zellen für die Virenzucht – wie die Zellen im bebrüteten Hühnerei – stark vermehren müssen. Anschließend werden die Zellen gewaschen, mit frischem Nährmedium versorgt und mit Viren infiziert, um auf Virenproduktion umzuschalten.

Derzeit gibt es mehrere Zellzuchtverfahren. So gibt es Zellen, die nur dann wachsen und sich teilen, wenn sie sich an Oberflächen anheften können, sogenannte adhärente Zellen. Bei ihnen ist die Höchstmenge stark beschränkt, weil die verfügbare Oberfläche irgendwann zugewachsen ist und die Zellteilung stoppt. Im Gegensatz dazu fühlen sich manche Zellen nur frei schwebend in einer Nährlösung, einer Zellsuspension, wohl. In einer solchen Suspension lassen sich viel höhere Zellkonzentrationen erreichen als bei adhärenten Zellen. Doch in Suspensionen haben die Zellen zum Teil die Tendenz, mit anderen zu verklumpen, was den Prozess beeinträchtigen kann. Zudem ist die Filtration, die Abtrennung der Zellen aus dem Medium, aufwendig. Für Bioreaktoren wurde deshalb eine dritte Methode, ein Mittelweg, entwickelt: eine Art Pseudosuspension für adhärente Zellen. Dabei lässt man adhärente Zellen auf Mikrokügelchen wachsen. Die Mikrokügelchen wiederum schwimmen frei in der Flüssigkeit.

„Alles in allem erhält man mit diesen Methoden heute im Durchschnitt Konzentrationen von etwa zwei bis drei Millionen Zellen pro Milliliter Flüssigkeit. Für eine Zuchtanlage, wie sie uns vorschwebt, wollen wir zehn- bis hundertmal so viel erreichen. Wir nennen das Hochzelldichte-Kultivierung“, sagt Yvonne Genzel, technische Biologin in der Abteilung von Udo Reichl. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, doch die Forscher können an vielen Schrauben drehen. Da Zellen empfindlich sind, braucht jede Zelle zum Beispiel das richtige Nährmedium mit der idealen Nährstoffzusammensetzung, mit Mineralien, Vitaminen, Zuckern. Die Temperatur muss ebenso exakt eingestellt sein wie der pH-Wert und der Sauerstoffgehalt des Mediums. Ein Rühreinsatz ist notwendig, der die Zellen oder Mikrokügelchen umeinanderwirbelt, damit sie nicht verklumpen und damit die Nährstoffe und der Sauerstoff gleichmäßig verteilt werden.

Hohlfasern sollen Ausbeute weiter steigern

Kaum eine Forschungsgruppe auf der Welt hat die Möglichkeit, so viele Faktoren, die bei der Züchtung von Viren und Zellen mitmischen, zu beeinflussen wie die Magdeburger Biotechnologen: angefangen bei der Form des Reaktors für die Zellkulturen bis hin zur nachträglichen Veränderung eines Impfstoffs. So kann Reichls Team den Prozess in seiner ganzen Komplexität untersuchen und die Auswirkung jeder Veränderung umfassend analysieren, um das Verfahren ganz gezielt zu steuern und zu optimieren.

In den Magdeburger Labors stehen etliche Glasreaktoren, in denen sich kleine Propeller drehen. „Diese Rührer müssen die richtige Form und das richtige Tempo haben, damit wir die Zellen nicht zerschlagen“, sagt Yvonne Genzel. Sie klappt die Stahltür eines Brutschranks auf. Darin wackelt ein Rütteltisch, auf dem kleine Glaskolben festgeklemmt sind, in denen Zellen schwimmen. Sie nimmt einen der Kolben heraus und hält ihn gegen das Licht. Die Lösung ist bräunlich-trüb. „Eine recht hohe Zellkonzentration“, stellt Genzel fest.

Für eine Hochzelldichte-Kultivierung muss das Nährmedium zunächst alle paar Tage und dann immer häufiger ausgetauscht werden, damit die Zellen ausreichend Nährstoffe erhalten. Nur dann teilen sie sich häufig, und die Zelllösung wird stark konzentriert. Nun wird der Sauerstoffeintrag zum limitierenden Faktor. Denn je mehr Zellen in der Lösung schwimmen, desto mehr Sauerstoff verbrauchen sie. Daher pumpen die Forscher reinen Sauerstoff in die Gefäße, um die vielen Zellen versorgen zu können. Doch auch das hat irgendwann eine Grenze, weil der Rührer sich nicht beliebig schnell drehen kann, um den Sauerstoff in der hochkonzentrierten Zellkultur gleichmäßig zu verteilen. Dennoch haben Reichl, Genzel und die Kollegen schon beachtliche Zellzahlkonzentrationen erreicht: Für die Grippevirenzucht sind es bereits 50 Millionen Zellen pro Milliliter. Künftig wollen sie aber sogar 500 Millionen schaffen.

Um die Zelldichte weiter zu steigern, könnte eine recht junge, vielversprechende Technik für Zuchtanlagen helfen. Yvonne Genzel greift zu einem Glasrohr. Darin liegt ein daumendickes Bündel aus dünnen, weißen Hohlfasern aus Kunststoff. Dieser ist zwar durchlässig für Sauerstoff und Nährstoffe, nicht aber für Viren und Zellen. Mit dem Kunststofffaserbündel lassen sich Zellen im Durchfluss züchten. Dabei werden die Räume zwischen den feinen Hohlfasern mit Zellen gefüllt und dann die Nährmedien durch die Fasern gepumpt.

Wie bei Arterien im Körper wandern die Nährstoffe und der Sauerstoff durch die Faserwände zu den Zellen. „Wir erreichen so eine bessere Verteilung der Nährstoffe und ein stärkeres Zellwachstum als in konventionellen Bioreaktoren“, sagt Genzel. Ein Vorteil ist, dass bei den Röhren das verbrauchte Nährmedium nicht mehr mühsam von den Zellen getrennt und ausgetauscht werden muss. Man leitet einfach frisches Nährmedium durch die Röhre.

Bis zur perfekten Virenzucht aber ist der Weg noch weit, denn die Zahl der Zellen, die die Viren erbrüten, ist nicht alles. Wichtig ist auch, dass die Zellen in den Hochzelldichte-Kulturen in einem guten Zustand sind, denn nur dann können sie auch viele Viren produzieren. Entscheidend für eine hohe Virenausbeute ist nämlich neben der Zellzahl auch die Menge der Viren, die jede Zelle hervorbringt. Diese schwankt zwischen einigen Hundert und mehreren Zehntausend Viren pro Zelle.

Dabei spielt es eine große Rolle, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um die Zellen in der Zellkultur mit den Viren zu infizieren: Zum einen sollte die Zellzahl möglichst hoch, und zum anderen müssen die Zellen fit sein. „Es gehört viel Erfahrung dazu, optimale Bedingungen dafür zu finden“, sagt Genzel. Stimmt alles, impfen die Forscher die Zellen mit sogenannten Saatviren an. Auch die Saatviren sollten in einem guten Zustand und hoch infektiös sein, damit, sozusagen, jeder Keim aufgeht.

Nach sechs bis acht Stunden setzen die infizierten Zellen die ersten Viren frei, die wiederum neue Zellen infizieren. Während die Zellen langsam sterben, reichern sich im Zellmedium Milliarden frischer Viren an. Diese werden schließlich in einem Filterprozess aus dem Nährmedium gefischt. Auch der Zeitpunkt der Virenernte ist wichtig, um eine hohe Ausbeute an Viren zu erreichen. Das gilt vor allem für Impfstoffe, bei denen lebende Viren verabreicht werden. Denn je länger man mit der Ernte der Viren wartet, desto mehr inaktive, nicht infektiöse Viren sammeln sich im Reaktor. Die Kunst besteht darin, für die Ernte den Zeitpunkt zu finden, zu dem sich im Reaktor die meisten infektiösen Viren befinden. Für Impfstoffe, die auf toten Viren basieren, ist das Verfahren weniger zeitkritisch, weil die Viren hier nicht aktiv sein müssen.

Die Virenzucht in Magdeburg ist nicht nur Verfahrenstechnik. „Wir wollen auch in die Zellen hineinblicken und versuchen, sie so zu verändern, dass sie noch mehr Viren produzieren“, sagt Reichl. Um das tun zu können, hat er einen ganzen Park an Analysegeräten angeschafft – eine sogenannte HPLC zum Beispiel, eine Hochleistungsflüssigkeitschromatografie-Anlage, mit der die Stoffwechselprodukte der Zellen während der Vireninfektion und -produktion gemessen werden können.

Gängige Verfahren sind meist wie in Stein gemeißelt

 „Ich hatte erwartet, dass die Zellen ihren Stoffwechsel hochfahren, wenn sie Viren produzieren“, sagt Reichl. „Doch sie verhalten sich wie gesunde Zellen. Es verändert sich nach einer Infektion der Zellen nicht viel – bis der Großteil der Viren freigesetzt ist und die Zelle stirbt.“ Reichl kann noch mehr, als Stoffwechselprodukte der Zellen zu untersuchen. Mit dem Durchflusszytometer etwa lassen sich Zellen zählen und analysieren. In einem Zytometer saust Zelle für Zelle durch ein winziges Glasröhrchen.

Mehrere Zehntausend Zellen erfasst das Gerät in einer Sekunde. Mehr noch: Im Zytometer können die Zellen durch Laserlicht angestrahlt werden. Damit lässt sich zum Beispiel messen, welches Vireneiweiß gerade in der Zelle hergestellt wird oder ob sich die Eiweiße gerade im Zellplasma oder im Zellkern befinden.

Noch ist zum Teil unklar, wie Reichl und Genzel dieses Wissen nutzen können, um die Virenproduktion in den Zellen zu verbessern. Eines aber ist sicher: „So genau wie wir schaut sich kaum jemand anders die Vorgänge an, die in der Impfstoffherstellung zur Vermehrung der Viren in Zellkulturen von entscheidender Bedeutung sind“, sagt Genzel. Dies betrifft auch die Impfstoffhersteller. „Diese Grundlagenforschung können die Unternehmen in der Regel gar nicht leisten. Außerdem tasten nur die wenigsten Unternehmen die etablierten Virenzuchtprozesse an, weil es sehr teuer ist, Herstellungsprozesse zu verändern und Verfahren zu optimieren.“

Reichl ergänzt: „Bedingt durch sehr hohe Auflagen der Behörden sind solche Verfahren meist wie in Stein gemeißelt, viele Hersteller nutzen sogar noch die klassischen adhärenten Zellen für die Virusvermehrung – also jene Zellen, die eine feste Oberfläche benötigen.“ Bedenkt man, dass die Entwicklung eines neuen Impfstoff-Produktionsverfahrens mehrere Hundert Millionen Euro kostet, wird allerdings klar, warum die Branche vergleichsweise konservativ ist.

Der Markt für Impfstoffe ist enorm gewachsen

Genzel und Reichl arbeiten nicht nur mit Grippeviren, sondern unter anderem auch mit einem lange etablierten Virustyp, der vom Pockenvirus abstammt – dem Modifizierten Vaccinia-Ankara- Virus (MVA). Dieses Virus wurde durch jahrelange Adaptation von einem der Pio niere der Immunitätsforschung, dem Münchner Veterinärmediziner Anton Mayr, erzeugt. Dieses Impfvirus ist sehr gut verträglich und nicht infektiös und eignet sich damit sehr gut für die Arbeit in einfachen Labors. Wollte ein Forscher hingegen mit Ebolaviren arbeiten, müsste er hohe Sicherheitsstandards erfüllen – mitsamt Luftschleusen, Unterdrucksystemen und Filteranlagen.

MVA ist vor allem deshalb interessant, weil es sich als Transporter für Gene eignet. Solche Transportviren werden als Vektoren bezeichnet – und unter anderem in der Medizin eingesetzt; beispielsweise bei Krankheiten, die auf Gendefekten beruhen. So gibt es Betroffene, bei denen ein Gen defekt ist, das die Information für den Bau eines für den Stoffwechsel wichtigen Eiweißes enthält. Mit einem Vektor kann man das fehlende Gen in den Körper einschleusen, sodass der Körper auf diesem Umweg die Information für den Bau des Eiweißes enthält.

Darüber hinaus können solche Vektoren genutzt werden, um den Körper gegen gefährliche Krankheiten zu impfen. Forscher hoffen, dass dies auch bei Ebola oder HIV/Aids klappen wird. Für eine Impfung wird MVA mit den Oberflächeneiweißen eines gefährlichen Virus verkleidet, beispielsweise eines Aidsvirus. Da MVA harmlos ist, passiert dem Patienten nichts. Das Immunsystem aber lernt auf diese sanfte Weise die Oberfläche des gefährlichen Virus kennen und kann dagegen eine Immunität entwickeln.

Während der Ebola-Epidemie im Herbst vergangenen Jahres veröffentlichten Forscher die Ergebnisse eines Experiments, bei dem sie Makaken mit einem MVA-Vektor geimpft hatten, der ein Ebola-Eiweiß trug. Das Studienergebnis schlug hohe Wellen, denn offensichtlich ließ sich bei einem Test an Makaken tatsächlich eine Immunität aller Affen gegen Ebola erreichen.

Ebola gehört zu den Krankheiten, die immer wieder für Aufsehen sorgen, gemessen an den Todeszahlen von Grippe, Malaria oder Tuberkulose aber eher zu den unbedeutenderen Krankheiten zählen. „Insofern hatte die Industrie bisher nur ein eingeschränktes Interesse an der teuren Entwicklung von Ebola- Impfstoffen“, sagt Genzel. Daher hofft sie, mit einem effizienten technischen Verfahren zur Entwicklung einer kostengünstigen Impfstoffproduktion beitragen zu können. Das ist durchaus vorstellbar, denn der Markt für Impfstoffe ist, nicht zuletzt durch das häufige Auftreten von Geflügel- oder Schweinegrippe, in den letzten Jahren enorm gewachsen. So wurde mit Impfstoffen im Jahr 2001 noch ein Umsatz von 6,9 Milliarden US-Dollar erreicht. 2009 waren es schon 25,2 Milliarden, und für 2015 wird ein Umsatz von 56 bis 64,2 Milliarden Dollar erwartet.

Trotzdem liegt noch viel Arbeit vor den Magdeburgern. „Ein Virus sieht zwar simpel aus. Aber es ist ungeheuer wandlungsfähig und in einem gewissen Maß unberechenbar“, sagt Reichl. „Ein Grippevirus hat nur acht Gen-Einheiten, die die Information für die Synthese von einem guten Dutzend Proteinen enthalten – früher dachte ich, ein solches Virus müsse leicht zu durchschauen sein. Doch dem ist nicht so.“

Eine Unwägbarkeit sind etwa Zuckerstrukturen an der Oberfläche des Hämagglutinins, denn sie beeinflussen die Wirksamkeit des Virus entscheidend mit. So ist seit einigen Jahren bekannt, dass sehr viele Proteine eines Organismus nicht als reines Eiweiß durch den Körper wandern, sondern Zuckeranhängsel tragen. Experten sprechen von Glykosylierung.

Für Reichl heißt das: „Wenn wir die Vermehrung der Viren und die Wirkung von Impfstoffen besser verstehen wollen, müssen wir die Glykosylierung ihrer Proteine ergründen.“ Mit der Glykosylierung dringt er bis auf die molekulare Ebene vor. „Glücklicherweise haben wir am Institut die Ausstattung und die Wissenschaftler, um den Aufbau und die Zusammensetzung dieser Zuckerstrukturen zu analysieren.“

Reichl weiß, dass der Mensch das Spiel gegen die Viren niemals gewinnen wird. „Es sind zu viele Viren um die Ecke. Aber wenn wir den richtigen Impfstoff in großer Menge herstellen können, ist schon viel erreicht.“ Was das Grippevirus betrifft, gibt es für ihn noch einen Grund für die Forschung an technischen Verfahren und an Alternativen zum Ei. Sollte sich nämlich eine Vogelgrippe zur Pandemie auswachsen, dann könnte es eng werden. „Wenn Sie die Geflügelbestände notschlachten müssen, um das Virus zu stoppen – wie wollen Sie dann Eier für die Impfstoffe produzieren?“

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

Etablierte Produktionsverfahren für Impfstoffe, die mit bebrüteten Hühnereiern arbeiten, können den Bedarf etwa bei einer weltweiten Grippe-Pandemie vermutlich nicht decken.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik komplexer technischer Systeme erforschen daher die Möglichkeit, große Mengen etwa eines Grippe-Impfstoffs in tierischen Zellkulturen herzustellen.

Um die Konzentration tierischer Zellen in einer Nährlösung zu steigern und somit letztlich möglichst viele Viren für einen Impfstoff zu erhalten, variieren die Magdeburger Wissenschaftler systematisch alle Faktoren der Zellzüchtung. Sie suchen auch den optimalen Zeitpunkt, um die Impfviren mit größtmöglicher Ausbeute aus der infizierten Zellkultur zu ernten.

Mit ihrem Verfahren können Max-Planck-Forscher nicht nur Grippeviren erzeugen, sondern auch MVA-Viren, die für Impfstoffe gegen Ebola und HIV interessant sind.

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