Wissenschaftler enträtseln Quanteneigenschaften exotischer Materialien

Deutsch-amerikanisches Forscherteam beobachtet erstmals sprunghafte Änderung des "Fermivolumens" in einem quantenkritischen Material

16. Dezember 2004

Eine der wesentlichen Aufgaben moderner Materialforschung besteht in der Aufklärung der elektronischen Eigenschaften neuartiger Substanzen. Denn hiervon verspricht man sich Fortschritte in der Informationsverarbeitung (kleinere und schnellere Rechner), in der Messtechnik oder der Energieumwandlung. Doch bei der Suche nach Materialien mit radikal neuen elektronischen Eigenschaften stoßen Forscher auch auf experimentelle Befunde, die in den gängigen Physiklehrbüchern nicht erklärt werden. Experimentalphysiker des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden sowie Theoretiker der Rice University und der Rutgers University (beide USA) haben jetzt eine neue Erklärung geliefert, auf welche Weise Quanteneffekte zu einigen der seltsamen elektronischen Eigenschaften führen, die man in der Materialklasse der "Schwere-Fermionen-Metalle" beobachtet hat (Nature, 16. Dezember 2004). Die Wissenschaftler führen dies auf Fluktuationen des "Fermivolumens" zurück. Diese Erkenntnisse dürften auch für andere Materialklassen, wie Hochtemperatur-Supraleiter oder Kohlenstoff-Nanoröhrchen, relevant sein. In jedem Fall erweitern sie das grundlegende Verständnis von Phasenübergängen, die in vielen Disziplinen, nicht nur in Physik und Chemie, große Bedeutung besitzen.

Phasenübergänge, also Übergänge von einem Zustand in einen anderen, kennt man aus dem täglichen Leben. Beispiele sind das Verdampfen von Wasser bei 100 °C oder das Schmelzen von Eis bei 0 °C. Daneben gibt es jedoch auch Phasenübergänge, die erst am absoluten Temperatur-Nullpunkt (bei rd. -273 °C) auftreten. Diese werden nicht durch thermische, sondern durch Quantenfluktuationen getrieben, weshalb man sie Quantenphasenübergänge nennt. Ihr Auftreten ist eine direkte Folge der Heisenberg`schen Unschärfe-Relation.

Quantenphasenübergänge lassen sich besonders gut bei Metallen untersuchen, die sich in der Nähe einer magnetischen Instabilität befinden. Durch Druck, ein Magnetfeld oder durch leichte chemische Veränderung können einige dieser Metalle am absoluten Temperatur-Nullpunkt kontinuierlich von einem magnetisch geordneten in einen unmagnetischen Zustand überführt werden. Dabei tritt ein unkonventionelles physikalisches Verhalten auf, das mit der Standardtheorie für Metalle, der so genannten Landau`schen Fermi-Flüssigkeitstheorie, nicht vereinbar ist.

In gewöhnlichen Metallen, wie Kupfer oder Gold, ist das "Fermivolumen" eine wohldefinierte Größe: Beim absoluten Temperatur-Nullpunkt liegen alle von Leitungselektronen besetzten Impuls-Zustände innerhalb der Fermifläche und das Impulsraum-Volumen, das die Fermifläche umschließt, also das Fermivolumen, ist ein Maß für die Ladungsträgerdichte. Die Landau`sche Fermi-Flüssigkeitstheorie geht bei der Beschreibung von Metallen von einem konstanten Fermivolumen aus. Wechselt jedoch ein Metall wie Chrom aus einem unmagnetischen in einen (antiferro-) magnetisch geordneten Zustand, kann es zu einer Veränderung des Fermivolumens kommen. Doch sollte sich das Fermivolumen bei einem kontinuierlichen magnetischen Übergang (Phasenübergang 2. Ordnung) laut Standardtheorie ebenfalls nur kontinuierlich ändern.

Hingegen ist eine sprungartige Veränderung des Fermivolumens, wie sie nun von den Max-Planck-Wissenschaftlern erstmals beobachtet wurde, mit dieser Theorie unvereinbar und verlangt nach völlig neuen Erklärungsansätzen.

Das Material, das die Forscher für ihre Untersuchungen eingesetzt haben, ist eine Verbindung aus Ytterbium (Yb), Rhodium (Rh) und Silizium (Si), YbRh2Si2 Diese Substanz wurde am Dresdner Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe entwickelt und in Form hochwertiger Einkristalle hergestellt. YbRh2Si2 ordnet beim Abkühlen auf extrem niedrige Temperaturen von 0,07 Kelvin antiferromagnetisch (der absolute Temperatur-Nullpunkt liegt bei 0 Kelvin, Raumtemperatur entspricht etwa 300 Kelvin). Unterhalb von 0,07 Kelvin kann die antiferromagnetische Ordnung durch Anlegen eines kleinen Magnetfeldes wieder unterdrückt werden. Dabei nennt man das Magnetfeld, das am absoluten Temperatur-Nullpunkt die magnetische Ordnung gerade unterdrückt, kritisches Magnetfeld und den entsprechenden Punkt im Temperatur-Magnetfeld-Phasendiagramm den quantenkritischen Punkt.

YbRh2Si2 zählt zur Klasse der Schwere-Fermionen-Metalle. Diese unterscheiden sich von konventionellen Metallen durch stark erhöhte effektive Massen der Ladungsträger, die der Wechselwirkung zwischen Leitungselektronen und magnetischen Momenten des Selten-Erd-Atoms (hier Yb) zugeschrieben werden. Schon vor einem Jahr sorgte YbRh2Si2 für Aufsehen, als Messungen des elektrischen Widerstandes und der Wärmekapazität die Frage "Gehen Strom und Magnetismus bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt getrennte Wege?" aufwarfen (Nature 424, 524, 31. Juli 2003; [1]). Damals wurde vorgeschlagen, dass es sich bei den Ladungsträgern im Schwere-Fermionen-Zustand um "Komposit-Fermionen" aus Leitungselektronen (Strom-Komponente) und magnetischen Momenten (magnetische Komponente) handelt, die bei Annäherung an den quantenkritischen Punkt auseinanderbrechen.

Diese Vermutung konnte nun durch die neuen Messergebnisse einer weiteren Eigenschaft, nämlich des Halleffekts, noch erhärtet werden: Legt man an ein leitfähiges Material senkrecht zur Richtung des elektrischen Stromflusses ein Magnetfeld an, so baut sich senkrecht zu Strom und Magnetfeld eine Spannung auf, die Hallspannung. Diese Spannung ist im einfachsten Fall umgekehrt proportional zur Ladungsträgerdichte. In metallischen Materialien, die eine hohe Ladungsträgerdichte aufweisen, ist die Hallspannung sehr klein. Daher stellte die jetzt in Dresden durchgeführte detaillierte Tieftemperatur-Untersuchung des Halleffekts höchste Ansprüche an die Messtechnik.

Die Dresdner Max-Planck-Wissenschaftler haben den Halleffekt von YbRh2Si2 systematisch in Abhängigkeit von der Temperatur und dem angelegten Magnetfeld untersucht. Dabei konnten sie anormale Komponenten im Halleffekt, die keinen Aufschluss über die Ladungsträgerdichte geben, verlässlich von den gemessenen Daten trennen. Der verbleibende normale Anteil ist ein Maß für die Ladungsträgerdichte und für das Fermivolumen. Um die Wirkung des Magnetfeldes als Unterdrücker der magnetischen Ordnung (Zeeman-Effekt) nicht mit seiner Wirkung als Erzeuger der Hallspannung (Lorentz-Kraft) zu vermischen, mussten sich die Forscher noch eines raffinierten Tricks bedienen. Sie setzten zwei zueinander senkrecht stehende Magnetfelder ein - eine erhebliche Komplikation des Experiments: Auf diese Weise erzeugt nur das sehr klein gehaltene Feld senkrecht zum Stromfluss eine Hall-Spannung, während das Feld parallel zum Stromfluss den Magnetismus unterdrückt.

Den Wissenschaftlern gelangen eine Reihe überraschender Beobachtungen:

1) Der Halleffekt änderte sich beim kritischen Magnetfeld weitaus drastischer, als es die Standardtheorie (Spindichtewellen-Beschreibung) vorhersagt.

2) Der Ort der stärksten Änderung des Halleffekts im Temperatur-Magnetfeld-Phasendiagramm war nicht, wie von der Standardtheorie vorhergesagt, der Ort der antiferromagnetischen Phasenumwandlung, sondern eine neue Linie im Phasendiagramm, die nur beim Temperatur-Nullpunkt mit dem erstgenannten zusammenfällt.

3) Die Extrapolation der Daten zum Temperatur-Nullpunkt zeigte, dass sich hier der Halleffekt beim Durchgang durch das kritische Magnetfeld sprungartig ändert, während die Standardtheorie eine kontinuierliche Änderung vorhersagt.

Diese Beobachtungen verlangen eine neuartige Erklärung. Die mit den Dresdner Experimentatoren zusammenarbeitenden Theoretiker P. Coleman (Rutgers University) und Q. Si (Rice University) favorisieren ein Szenario, nach dem die Komposit-Fermionen des unmagnetischen Zustandes im magnetisch geordneten Zustand in eine magnetische Komponente und in einfache Leitungselektronen aufbrechen. Die sprunghafte Änderung des Halleffektes am quantenkritischen Punkt wird in diesem Szenario auf natürliche Weise erklärt: Während im unmagnetischen Zustand sowohl die magnetische als auch die elektronische Komponente der Komposit-Fermionen zum Fermivolumen beitragen und somit das Fermivolumen "groß" ist, tragen dazu im antiferromagnetischen Zustand nur die Leitungselektronen bei, so dass das Fermivolumen "klein" ist. Hingegen geht die Standardtheorie davon aus, dass die Ladungsträger ihre Integrität auch am quantenkritischen Punkt behalten und keine sprungartige Änderung des Fermivolumens eintritt.

Die Reichweite dieser Entdeckung könnte beträchtlich sein. Denn neben Schwere-Fermionen-Verbindungen zeigen auch die technologisch überaus bedeutsamen Hochtemperatur-Supraleiter ein Nicht-Fermi-Flüssigkeitsverhalten, das durch die Existenz eines quantenkritischen Punktes bedingt sein könnte. Erste Halleffekt-Messungen durch andere Forschergruppen scheinen auch hier auf eine Veränderung des Fermivolumens hinzuweisen. In jedem Fall dürften die neuen Erkenntnisse aber richtungsweisend für das Verständnis von Quantenphasenübergängen sein.

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